„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 4. Dezember 2016

Thiemo Breyer, Der Mensch im Spiegel des Anderen (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.275-303)

Thiemo Breyer bewegt sich mit seinem Beitrag „Der Mensch im Spiegel des Anderen“ (2015) auf dem Niveau der Plessnerschen Anthropologien der Nachahmung und des Schauspielers. (Vgl. meine Posts vom 29.05. und vom 01.06.2013) So spricht Breyer z.B. mit Georg Simmel von der „Symmetrie des Sich-gegenseitig-Anblickens“, eine Formulierung, die als knappe Zusammenfassung der Anthropologie der Nachahmung dienen könnte. Allerdings bezieht sich Breyer in seinem Beitrag vor allem auf die Leibphänomenologie von Maurice Merleau-Ponty. (Vgl. Breyer 2015, S.291 und S.297, Anm.63)

Viel interessanter als diese vom Autor gesetzten Bezüge zu Merleau-Ponty scheint mir jedoch die Differenz zwischen optisch-physikalischen und sozialen Spiegelungseffekten zu sein, mit der er den von Plessner beschriebenen, mit der Erfahrung des Körperleibs einhergehenden Hiatus um eine soziale Dimension ergänzt:
„Der Andere ist nie ganz transparent, auch nie ganz opak, sondern immer auch reflektierend, d.h. er spiegelt mir etwas von mir selbst zurück. Dies geschieht nicht im Sinne eines physischen Reflexionsvorganges, der den Kausalgesetzen der Optik gehorcht und mir ein virtuelles Duplikat meiner selbst (meines Körpers) gibt, sondern im Sinne eines gebrochenen Bildes meiner selbst (meiner personalen Einheit) – durch die zwischenleiblich erfahrbare Charakteristik seiner Erscheinung, seines Auftretens oder seiner Haltung.“ (Breyer 2015, S.297)
Breyer spricht nicht wie Plessner von der Brechung des Intentionsstrahls, sondern von der Brechung des Blickstrahls, vom „Bruch in der Abbildrelation“, „der physische von personalen Spiegelungen unterscheidet“. (Vgl. Breyer 2015, S.297) Breyer arbeitet diesen Bruch bzw. Hiatus mit Hilfe der Spiegelmetapher heraus, wobei er vorweg den Begriff der Metapher erörtert. (Vgl. Breyer 2015, S.277ff.) Dabei bezieht sich Breyer auf die Metapherntheorien von Ralf Konersmann und Hans Blumenberg. Mit Hilfe der Metapher, so Breyer, können wir uns „vorbegriffliche(n) Erwartungen, Bedürfnisse(n) und Erfahrungen“ zuwenden, zu denen die „Begriffssprache“ keinen Zugang hat. (Vgl. Breyer 2015, S.277f.)

Die Spiegelmetapher dient in der Kulturgeschichte Breyer zufolge als Analogie zum „Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu Anderen, zur Welt“ (vgl. Breyer 2015, S.275), womit er das zentrale Thema jeder Anthropologie, das menschliche Selbst- und Weltverhältnis, ins Zentrum seiner Untersuchung stellt. Letztlich geht es bei der Spiegelmetapher nicht so sehr darum, wie leistungsfähig die Spiegelmetapher in diesem Zusammenhang ist, sondern vor allem um die soziale Grenze physikalischer Spiegelungen. Physikalische Spiegel vermögen das „Verhältnis von Selbst und Welt“ nur als „Adäquation“ darzustellen (vgl. Breyer 2015, S.280):
„Der Spiegel legt ein Modell der Adäquation von Welt und Geist nahe, das die europäische Ideengeschichte streckenweise dominiert hat. Diese Idee der abbildhaften Übereinstimmung ist im Bereich der Intersubjektivität, wo es um die konkrete Begegnung zweier leibkörperlich verfasster Personen geht, problematisch.“ (Breyer 2015, S.300)
Die soziale Spiegelung im anderen Menschen uns gegenüber beinhaltet hingegen eine personale Dimension, die auf eine Wechselseitigkeit gegenseitiger Spiegelungen hinausläuft, inklusive der Verweigerung, miteinander in Kontakt zu treten:
„Der Spiegel vermag nur die psychophysische (eigentlich nur die physische – DZ) Seite meines Wesens zu bestätigen, während der Andere darüber hinaus meine soziale Seite spiegelt, wobei er durch seine Subjektivität und Spontaneität auch die Möglichkeit hat, mich im Spiegeln zu negieren, d.h. mir jegliche Anerkennung zu verweigern.“ (Breyer 2015, S.278f.)
Breyer beschreibt verschiedene asoziale „Blickformen“, die sich einer Symmetrie zwischen uns und dem Anderen verweigern. (Vgl. Breyer 2015, S.291) Der „narzistische Blick“ bildet Breyer zufolge das Gegenstück zum voyeuristischen Blick, in dem Sinne, daß der Narzißt ganz bei sich ist und der Voyeur ganz beim Anderen. (Vgl. Breyer 2015, S.291) Beim narzißtischen Blick haben wir es mit einer „Personalunion von Sehen und Gesehenwerden“ zu tun, während wir es beim voyeuristischen Blick mit einem „Sehen(,) ohne gesehen zu werden“ zu tun haben. (Vgl. ebenda) Den Exhibitionisten vergleicht Breyer mit einem „Zerrspiegel, der mehr zeigt, als eigentlich zu spiegeln wäre“. (Vgl. ebenda)

An dieser Stelle liegt es nahe, eine aktuelle Ergänzung angesichts der Burkadiskussion vorzunehmen. So könnte man Burkaträgerinnen mit einem blinden Spiegel vergleichen, der nichts spiegelt, insofern auch sie sich einer symmetrischen Beziehung zum Anderen verweigern bzw. insofern sie dazu genötigt werden. Die Burka als Kleidungsstück befindet sich deshalb auf einer Ebene mit anderen Formen der „Ignoranz“ der Blickverweigerung, auf die Breyer zu sprechen kommt: Formen der demonstrativen oder der selbstvergessenen Ignoranz, wie sie etwa Rassisten praktizieren oder wie sie mit dem alltäglichen Umgang mit Personal einhergehen. (Vgl. Breyer 2015, S.296)

Breyers Differenzierungen zwischen physischen und sozialen Spiegelungsprozessen entsprechen meiner Differenzierung zwischen Reflexivität und Rekursivität. (Vgl. meine Posts vom 14.04. und vom 19.05.2012) Wenn Breyer auf die Problematik einer Übertragung der abbildhaften Übereinstimmung, den physische Spiegelungsprozesse ermöglichen, auf den „Bereich der Intersubjektivität“ zu sprechen kommt (vgl. Breyer 2015, S.300), insofern durch diese Übertragung die „Affizierbarkeit durch die Einfühlungsakte des Anderen“ ignoriert wird (vgl. Breyer 2015, S.290), dann spricht er den Kern dessen an, was ich ‚Rekursivität‘ nenne. Menschliche Beziehungen sind deshalb rekursiv, weil wir wechselseitig das Denken und Empfinden unseres Gegenübers mitdenken und mitempfinden. Spiegelbilder sind hingegen nur ‚reflexiv‘ bzw. ‚reflektierend‘, weil sie nur die physische Oberfläche unseres gespiegelten Selbst zurückwerfen, wie einen Ball, der von einer Wand abprallt.

Die rekursive Dimension sozialer Spiegelungen beinhaltet Breyer zufolge eine expressive Komponente. Damit ergänzt er Plessners Begriff der Expressivität, der auf der Differenz von Sagen und Meinen beruht. Die soziale Expressivität, von der Breyer spricht, besteht im Antwortverhalten des menschlichen Gegenübers. Der Mitmensch reagiert nicht einfach nur mechanisch auf unsere Gesten, Mimik und auf unsere Worte. Vielmehr liegt seinem Verhalten eine besondere „Aufmerksamkeit“ auf unsere Befindlichkeit zugrunde (vgl. Breyer 2015, S.296), eine Aufmerksamkeit, die man auch als ‚Achtsamkeit‘ bezeichnen könnte. Indem unser Gegenüber diese Aufmerksamkeit durch sein eigenes Verhalten, seine Mimik etc. in einem „expressiven Akt“ zum Ausdruck bringt, werden wir als Person anerkannt. (Vgl. Bryer 2015, S.295f.) In dieser „sozialen Visibilität“ (vgl. Breyer 2015, S.296) erfüllt sich also unser eigenes expressives Verhalten, das ohne diese Rückmeldung gegenstandslos bliebe.

Thiemo Breyer hat einen äußerst lesenswerten, thematisch anregenden Beitrag verfaßt. Seine lakonische Zusammenfassung, mit der ich meine Besprechung abschließen möchte, klingt angesichts seiner material- und kenntnisreichen Erörterungen bescheiden:
„Es sollte damit deutlich geworden sein, dass eine sachhaltige Beschreibung des Spiegelphänomens, aus dem wir einige zentrale Charakteristika herausgehoben haben, einerseits Anhaltspunkte bieten kann, um die Frage nach dem Status des Anderen als ‚Spiegel meiner selbst‘ differenzierter zu stellen. Andererseits werden aber im Verlauf einer solchen phänomenologischen Explikation des Sinngehalts auch die Grenzen der Metapher deutlich.“ (Breyer 2015, S.301)
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