„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 3. Dezember 2016

Gernot Böhme, Gut Mensch sein. Eine Proto-Ethik (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.256-272)

Ähnlich wie Theda Rehbock, die an die Stelle des Guten das Gute für mich setzt (vgl. Müller/Maio 2015, S.423-442: 429), möchte auch Gernot Böhme in seinem Beitrag „Gut Mensch sein“ (2015) das Prädikat ‚gut‘ mit Bezug auf den Menschen nicht mehr als Adjektiv, sondern nur noch als Adverb verwenden (vgl. Böhme 2015, S.256). Adjektive sind immer Teil von Wesensbestimmungen. So ist der gute Mensch in seinem Sein gut, was einerseits unberücksichtigt läßt, daß die Menschen nicht immer gut sind, und andererseits dazu führt, daß einzelne Merkmale des Guten zusammengestellt werden, aus denen dann wieder viele Menschen, die diese Merkmale nicht aufweisen, aus der Definition herausfallen. (Vgl. Böhme 2015, S.261)

Insgesamt, so Böhme, sind es vor allem Resultate und Produkte in Herstellungsprozessen, die wir als ‚gut‘ bezeichnen: einen guten Tisch, ein guter Kuchen etc. Damit wird aufgrund der adjektivischen Verwendung des Prädikats der Fokus auf das Resultat des Handelns gelegt, und nicht-aktivische Formen des Menschseins, die Bereiche des „Pathischen“, bleiben unberücksichtigt. (Vgl. Böhme 2015, S.263f.)

Die adverbiale Verwendung des Prädikats ‚gut‘ bezieht Böhme auf den Vollzug des Menschseins. Das Menschsein ist kein Erwerb, auf den wir hin arbeiten müßten, sondern schon mit dem Faktum der Geburt voll und ganz gegeben: „Es geht“ – so Böhme – „darum, wie man das, was man ohnehin ist, nämlich Mensch, gut vollzieht.“ (Vgl. Böhme 2015, S.257)

Das wirft natürlich gleich die nächste Frage auf, wie man denn das, was man ohnehin schon ist, im Vollzug verfehlen kann. Inwiefern kann der Vollzug des Menschseins defizitär sein? – Böhme verweist auf die Existenzphilosophie, in der ebenfalls die Existenz – also der Vollzug – das Primat vor der Essenz hat. Martin Heidegger (1889-1976) kennt einen defizitären Modus der Existenz, der darin besteht, daß Menschen nicht ihr eigenes Leben führen, sondern das Leben, das ‚man‘ von ihnen erwartet:
„Dies (das ‚Man‘ – DZ) ist ein defizienter Modus im Daseinsvollzug, weil der Einzelne ‚eigentlich‘ er selbst sein könnte, nämlich, indem er entschieden sein eigenes Leben übernimmt. Die Eigentlichkeit ist also der positive Modus zum defizienten Modus des Mitseins, des Man.“ (Böhme 2015, S.257)
Böhme bringt ein anschauliches Beispiel dafür, wie das Menschsein ‚gut‘ vollzogen werden kann. Die Differenz in der adjektivischen und adverbialen Verwendung des Prädikats ähnelt Böhme zufolge der Aristotelischen Differenz zwischen Poiesis (Herstellung) und Praxis (Vollzug). (Vgl. Böhme 2015, S.256) Ein gutes Haus ist dann gut, wenn es geeignet ist für das darin Wohnen. Ein Architekt wird also danach beurteilt, ob das Resultat seines Handelns seinem Zweck entspricht. Das Wohnen hingegen hat seinen Zweck in sich. Mit ihm verfolgen wir keine Ziele:
„Das Wohnen hat kein Ziel außerhalb seiner selbst. Wenn es gut genannt werden soll, bezieht sich dieses gut auf das Wie des Wohnens.“ (Böhme 2015, S.256)
Wir haben es bei der adverbialen Verwendung des Prädikats ‚gut‘ nicht mit einem Handeln, sondern mit einem Geschehenlassen zu tun; mit dem, was Böhme das Pathische nennt. Das Pathische, das Erleiden, ist vor allem von griechischen Lyrikern der Antike thematisiert worden, während Platon vor allem das Handeln in den Vordergrund stellte. (Vgl. Böhme 2015, S.265). Böhme fordert eine erneuerte „Anerkennung des Pathischen“:
„Gegenüber der platonischen Tradition gilt es heute wieder(,) ein Selbstverständnis auszubilden, indem gerade das Pathische menschliches Dasein ausmacht.“ (Böhme 2015, S.264)
Dazu gehört eine Praxis der Aufmerksamkeit, wie wir sie heute auch als „Achtsamkeit“ bezeichnen. Diese Praxis bildet eine Praxis der „Übung“, der Einübung in „Leibpraktiken“, z.B. Meditationen, die uns wieder offen sein lassen für das, was uns widerfährt:
„Entsprechend sind Fähigkeiten auszubilden, sich etwas widerfahren zu lassen oder besser: die Offenheit gegenüber Widerfahrnissen zurückzugewinnen. Die Ästhetik ist dafür das genuine Feld praktischer Übungen.“ (Böhme 2015, S.264)
Allerdings sind die aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Böhme zufolge nicht besonders geeignet, um so einer pathischen Lebenshaltung Raum zu geben. Böhme verweist insbesondere auf die „technische Zivilisation“ (vgl. Böhme 2015, S.258f.), die „Leistungsgesellschaft“ (vgl. Böhme 2015, S.259) und auf die „Konsumgesellschaft“ (vgl. Böhme 2015, S.259f.). Die Leistungsgesellschaft sei vor allem an der Poiesis, also an Produkten interessiert und verwandele sogar das, was eigentlich Praxis sei, also den Lebensvollzug, in Poiesis um. (Vgl. Böhme 2015, S.259) Habermas spricht in diesem Zusammenhang von der Kolonialisierung der Lebenswelt. Die Konsumgesellschaft konzentriert sich Böhme zufolge auf die „Steigerung oder Ausstattung des Lebens“. In der Konsumgesellschaft gehe es nicht um den Lebensvollzug, sondern um die Konsumtion von möglichst vielen und teuren Gütern. (Vgl. Böhme 2015, S.260)

Die technische Zivilisation wiederum verleite die Menschen dazu, „ihre Lebensvollzüge an die technischen Apparate und Systeme (zu) delegieren“. (Vgl. Böhme 2015, S.258) Schon André Leroi-Gourhan (1911-1986) hatte die technische Evolution als einen fortschreitenden Prozeß der Exteriorisierung von menschlichen Fähigkeiten in Maschinen und Computern beschrieben. (Vgl. meinen Post vom 24.03.2013) Mit Böhme kann man sagen, daß die Übertragung solcher Fähigkeiten auf Maschinen impliziert, daß dem Menschen die Lebensvollzüge abhanden kommen. Böhme stellt diesen Prozeß auf eine Ebene mit Kants Kritik an der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen:
„Wenn Kant Ende des 18. Jahrhunderts die Menschen als unmündig bezeichnete, weil sie ihre Leben nicht selbst in die Hand nahmen, sondern sich durch Experten gängeln ließen, so kann man in vielen Bereichen heute davon reden, dass Menschen Lebensvollzüge nicht mehr selbst leben, sondern an technische Einrichtungen delegieren.“ (Böhme 2015, S.258f.)
Am Schluß seines Beitrags zählt Böhme einige dieser Lebensvollzüge auf, die durch technische Surrogate ersetzt zu werden drohen: das ‚Denken‘, insofern wir es mit den Leistungen informationsverarbeitender Maschinen verwechseln (vgl. Böhme 2015, S.269); das Träumen, insofern wir es mit Hilfe von „psychedelische(n) Mittel(n)“ und „Partydrogen“ künstlich erzeugen (vgl. ebenda); und die „Wahrnehmung des Atmosphärischen“, also wieder im Sinne der Achtsamkeit, die wir durch Brillen, Mikroskope und Teleskope ersetzen. (Vgl. Böhme 2015, S.269f.) Schon Goethe hatte auf diesen Umstand verwiesen und weitsichtig davor gewarnt, den Bereich des Menschlichen und der menschlichen Sinne zu vernachlässigen.

Im letzten Absatz verweist Böhme noch auf die Zerstörung der menschlichen Zeiterfahrung, die durch Zeitmessung und künstliche „Taktung der Terminzeit“ bedroht ist. (Vgl. Böhme 2015, S.270) Böhme zieht das Fazit, daß sich der Vollzug des Menschseins nicht von selbst versteht, sondern eine Aufgabe bedeute. (Vgl. Böhme 2015, S.271) „(G)ut Mensch-zu-sein“, so Böhme, bedarf der „Übung“. (Vgl. Böhme 2015, S.269)

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