„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 3. November 2016

Sebastian Schwenzfeuer, Kants Begründung der Ethik im Verhältnis zur Anthropologie (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.199-215)

Bei der Lektüre von Sebastian Schwenzfeuers Beitrag „Kants Begründung der Ethik im Verhältnis zur Anthropologie“ (2015) ist mir deutlich geworden, wie sehr ich mich, ohne es zu bemerken, in meinem Denken inzwischen von der Kantischen Moralphilosophie entfernt habe. Das liegt vor allem an der Kantischen Konstruktion des „heiligen Willens“. (Vgl. Schwenzfeuer 2015, S.209)

Der Begriff des heiligen Willens ist im Grunde ein Paradox, weil er einen Willen meint, der nicht wollen kann. Nur der menschliche Wille kann etwas anderes wollen, als die reine Vernunft ihm vorschreibt; eine „Möglichkeit“, so Schwenzfeuer, „die ein heiliger Wille nicht hat“. (Vgl. Schwenzfeuer 2015, S.209) Wenn aber der heilige Wille nicht anders kann, als das zu ‚wollen‘, was die reine Vernunft für moralisch richtig erkennt, ist er überhaupt kein Wille.

Bevor ich mit der Besprechung des Beitrags von Schwenzfeuer fortfahre, möchte ich kurz mein eigenes bisheriges Verständnis der Kantischen Moralphilosophie erläutern, das stark von Schopenhauer beeinflußt ist. Ich hatte mich dabei immer an der zentralen Bedeutung des Willens für Kants Moralphilosophie orientiert. Insbesondere hatte es mir der Begriff des „guten Willens“ angetan, den Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) zum einzig Guten „in der Welt“ erklärt. Dabei war mir das „in der Welt“ nicht weiter aufgefallen, denn ich habe es als Universalitätsformel verstanden. Tatsächlich handelt es sich aber um keine Universalisierung, sondern um eine Einschränkung. Der gute Wille ist eben nur ‚in der Welt‘ wie wir sie kennen das einzig Gute. Er ist es nicht schlechthin.

Mir war es bei dem guten Willen immer vor allem um den Willen selbst gegangen, weil ich darin die Grundlegung der Moral durch eine autonome Subjektivität wiederzuerkennen glaubte. Diese Autonomie entspricht der Kantischen Aufklärungsformel, daß der Mensch seinen Verstand ohne Anleitung eines anderen Verstandes gebrauchen solle. So soll er eben auch nichts für gut halten, wenn er es nicht selbst für gut halten will. Und gut ist der Wille immer dann, wenn er sein eigenes autonomes Wollen mit dem autonomen Wollen aller anderen Menschen abstimmt. Das war für mich immer der Kern der zweiten Fassung des kategorischen Imperativs:
„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Kant Werke IV (1968), S.429)
In dieser Fassung des kategorischen Imperativs geht es um die moralische Qualität des Willens: Alles, was wir wollen dürfen, muß im Einklang damit stehen, daß unsere Mitmenschen das gleiche Recht haben, ihr Leben nach ihrem Willen zu gestalten und zu führen. Sie bilden Zwecke für sich selbst und dürfen nicht darauf reduziert werden, bloß Mittel meines eigenen Wollens zu sein.

Jetzt behauptet Schwenzfeuer aber etwas Überraschendes: Es gibt überhaupt keine zwei Fassungen des kategorischen Imperativs, sondern nur eine! Dabei wird die gerade von mir zitierte Formulierung von Schwenzfeuer überhaupt nicht berücksichtigt. Schwenzfeuer bezieht sich ausschließlich auf eine Formulierung, die für mich bislang immer bloß die erste Fassung des kategorischen Imperativs gewesen war:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Zitiert nach Schwenzfeuer 2015, S.206f.)
In dieser Formulierung spielt der Wille der anderen Menschen – also ihre Mittel und Zwecke – keine Rolle. Hier steht vielmehr die in der reinen Vernunft begründete „allgemeine() Gesetzgebung“ im Zentrum. Und die Formulierung dieses Satzes bildet, so Schwenzfeuer, nicht etwa einen Imperativ, sondern eine Deskription; denn dieser Satz, dieses „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ (Schwenzfeuer 2015, S.207), bezieht sich nicht etwa auf den Menschen, sondern auf den schon erwähnten heiligen Willen:
„Das Grundgesetz ist daher für den heiligen Willen gar keine Aufforderung oder Vorschrift, sondern eine reine Beschreibung. Es deskribiert, wie der heilige Wille handelt.“ (Schwenzfeuer 2015, S.211)
Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft beschreibt also nur, was der heilige Wille sowieso schon immer tut, nämlich sich an das „Princip einer allgemeinen Gesetzgebung“ zu halten.

Dieser heilige Wille ist also kein guter Wille, denn der gute Wille ist ein menschlicher Wille, und der kann auch anders. Er ist für beides affizierbar: für das Gute wie auch für das Böse. Und es ist insbesondere der menschliche Wille, für den das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft keine bloße Deskription darstellt, sondern einen Imperativ! Es ist ausschließlich der menschliche Wille, der zur Befolgung des Grundgesetzes genötigt werden muß. (Vgl. Schwenzfeuer 2015, S.210) Dieselbe Formulierung des Grundgesetzes beinhaltet also zwei verschiedene grammatische Funktionen: für den heiligen Willen eine Deskription, für den menschlichen Willen einen Imperativ.

Schwenzfeuer kommt in seinem Beitrag kein einziges Mal auf den guten Willen zu sprechen. Und die von mir zitierte Fassung über die Zwecke und Mittel im Umgang mit anderen Menschen wird von ihm ebenfalls nicht erwähnt. Es fehlen also insgesamt Erörterungen zur Subjektivität des Wollens und zu ihrer Funktion für die Kantische Moralphilosophie. Aber ein Argument läßt sich einfach nicht entkräftigen: Schwenzfeuer kann zeigen, daß Kant seine Moralphilosophie nicht im guten Willen des Menschen begründet, sondern im heiligen Willen aller vernunftbegabten Lebewesen, der ja nicht etwa vom Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ‚affiziert‘ wird – wäre der heilige Wille affizierbar, wäre er auch für andere Dinge empfänglich –, sondern mit ihm identisch ist.

Erst von diesem heiligen Willen aus wird die Anwendung des so begründeten Grundgesetzes auf den Menschen konzipiert:
„Die Verbindlichkeit moralischer Verpflichtungen hat also ihren Grund nicht in irgendwelchen wesentlichen oder unwesentlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten des Menschen.() Die Moralphilosophie ist hingegen ‚a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft‘ ... begründet.“ (Schwenzfeuer 2015, S.200)
Die ganze Anthropologie der „Endlichkeit des Menschen“, seiner Bedürftigkeit und seines Begehrens (vgl. Schwenzfeuer 2015, S.211), spielt für die Begründung der Kantischen Moralphilosophie überhaupt keine Rolle. Sie bildet lediglich den Anwendungsbereich der jenseits dieser Bedürftigkeit angesiedelten reinen Vernunft, die auf die Bedürftigkeit des Menschen lediglich „Rücksicht“ nimmt. (Vgl. Schwenzfeuer 2015, S.212)

Wenn Schwenzfeuer mit diesem Begründungszusammenhang richtig liegt, dann kann Kants Begründung der Moral als gescheitert gelten. Es kann keine Begründung der Moral geben, die allgemeine Verbindlichkeit behauptet und gleichzeitig außerhalb der menschlichen conditio humana liegt. Mit vernunftbegabten Lebewesen, die von keinen Bedürfnissen affiziert werden und zu keinem Selbst- und Weltverhältnis finden müssen, in dem sie lernen, mit der Begrenztheit ihrer Intentionalität umzugehen, hat der Mensch nichts gemeinsam: auch nicht die Moral.

Es mag wohl sein, daß auch der Mensch zu einer reinen Vernunft befähigt ist. Aber nur in der Kontemplation. Nicht in der Praxis.

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3 Kommentare:

  1. Ich äußere mal die Vermutung, dass Kant es einfach nicht vermeiden konnte, auf den "heiligen Willen" zu kommen, da er der Vernunft letztlich keine Lücken nachweisen konnte. Ich habe von einem "heiligen Willen" noch nichts gehört. Hört sich eh nach höchster Wille" an. Kant erachtete zumindest die Moral als vollständigen Bestandteil des menschlichen Seins an, trotz der individuellen Autonomie. Was meinem Credo entspricht.

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  2. Der „heilige Wille“ taucht als Begriff, glaube ich, nur einmal in der „Kritik der praktischen Vernunft“ auf. Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich das bewerten soll. Gerade lese ich ein Buch von der Kantianerin Bettina Stangneth über das „radikal Böse“. Da wird der formale Ansatz der Kantischen Moralphilosophie sehr positiv diskutiert, als die einzige Möglichkeit, in einer pluralen Welt mit divergierenden kulturellen und religiösen Wertekonzepten eine moralische Orientierung zu finden. Gleichzeitig liegt ein anderes Buch von Matthew B. Crawford bei mir auf dem Tisch, in dem er Kant vorwirft, daß er die materiale Dimension der Welt, also die materialen Dinge und die materialen Kompetenzen des Menschen ignoriert. Crawford zufolge hat der kompetente Umgang des Menschen mit der Welt auch eine moralische Dimension, da sie ihn realitätsfähig macht. Diese materiale Dimension fällt in Kants Moralphilosophie unter den Tisch. Insofern ist es problematisch, die Moralität als vollständigen Bestandteil des menschlichen Seins zu bezeichnen. Es sei denn Du meinst mit „Bestandteil“, daß es da noch andere Bestandteile als die Moral gibt und die Moral als eines dieser Bestandteile „vollständig“ sein sollte?

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  3. So gefragt bezieht sich die Vollständigkeit auf die Anforderung an den Menschen, die moralische Dimension zu erfüllen. Denn aktuell erkenne ich keine Moral.

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