„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 16. November 2016

Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2/2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Unterscheidung von gut und böse
3. Formen des bösen Denkens
4. Grenzen des Denkens
5. Empathie als Kognition
6. Handlungssubjekte
7. Schlichtes Handeln

Bevor ich in den folgenden Posts auf Bettina Stangneths Phänomenologie des bösen Denkens zu sprechen komme, möchte ich an dieser Stelle auf die meiner Ansicht nach problematische Differenzierung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ eingehen. Offensichtlich ist diese Differenzierung unvermeidlich, wenn man wie die Autorin in der Kantischen Tradition der Moralphilosophie steht. Die Kantische Moralphilosophie ist geprägt von Begriffen wie der ‚heilige‘ bzw. der ‚gute‘ Wille, von Entgegensetzungen wie das ‚gute‘ Prinzip im Unterschied zum ‚bösen‘ Prinzip und von Feststellungen, wie daß der Mensch ‚radikal‘ bzw. ‚von Natur aus‘ böse sei. Das verleitet dazu, nicht nur von einer Realität des ‚Bösen‘ auszugehen, sondern diesem auch ein reales und vielleicht sogar wesensmäßiges Gutes gegenüberzustellen.

Auch Bettina Stangneth geht in naiver, unkritischer Weise von der „Unterscheidung von gut und böse“ aus. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.118) Zwar führt sie diese Unterscheidung vor allem auf die Erfahrung des Holocaust zurück, als einem Bösen, das niemals wiedergutzumachen ist (vgl. Stangneth 2/2016, S.14), und sie fragt sich, was „alles Sprechen von gut und böse“ nütze, „wenn es ausgerechnet für eine solche Tat nicht reicht“ (vgl. Stangneth 2/2016, S.69). Aber ihr kritischer Blick auf das Böse bleibt zugleich naiv für die Frage, ob denn dieselbe Notwendigkeit, das Böse beim Namen zu nennen, so auch für das Gute gilt.

Wir neigen dazu, alle Versuche, dem Bösen in Gestalt des Holocaust etwas entgegenzusetzen, unter das Gute zu subsumieren. Auch Bettina Stangneth ist nicht frei von solchen Pauschalisierungen, wenn sie sich über Schimpfwörter wie „Gutmensch“ und „Versteher“ beschwert und sich fragt, was denn „auf einmal am Verstehen und am Guten falsch“ und inwiefern „Tumbheit lobenswert sein soll“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.216f.) Dabei wendet sie sich selbst in ganz ähnlicher Weise gegen eine bestimmte Denkungsart, die sie an anderer Stelle als „akademisches Böses“ (Stangneth 2/2016, S.157) identifiziert, wenn sie sich über die Klugschwätzer beklagt, die darauf bestehen, „dass die Dinge nun einmal so lange differenzierter zu betrachten sind, bis jeder auf seine Weise recht hat, und genau das auch noch als Erkenntnisfortschritt“ verkaufen. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.11)

Letztlich haben wir es bei dieser Denkakrobatik nur mit einer besonderen Form zu tun, die Probleme aus der Welt wegzudifferenzieren, für die in anderer Weise auch Neologismen wie „Gutmensch“ oder „Putin-Versteher“ (wahlweise auch „Trump-Versteher“, „Erdogan-Versteher“ etc.) stehen, auch wenn sie zugegebenermaßen inzwischen schon wieder zu einer Art Ramschware verkommen sind, auf die diejenigen zurückgreifen, die jeder ernsthaften Diskussion aus dem Weg gehen wollen. Ursprünglich waren damit Bewußtseinshaltungen gemeint, die im Namen vermeintlicher political correctness oder angeblicher geopolitischer Notwendigkeiten unserem Wahrnehmungsfeld weitere blinde Flecken hinzufügen und unserem Denken weitere Schranken.

Eine Apologie des Gutmenschentums kann jedenfalls genauso wenig dazu beitragen, weiterhin über das Gute reden zu dürfen, wie den Holocaust als böse identifiziert zu haben. Tatsächlich ist die Nennung des Guten und das Bekenntnis zum Guten historisch kompromittiert. Praktisch jedes Verbrechen, das an den Menschen und der Menschheit begangen wurde, geschah im Namen des Guten. Dabei wurde dieses Gute substanzialisiert, galt also als etwas den Zufälligkeiten des praktischen Lebens und der historischen Ereignisse Enthobenes und von ihnen Unbeeinflußtes.

Tatsächlich aber bleibt das Handeln des Menschen und sein Schicksal in jedem Moment seines Lebens ungewiß, und seine Hoffnung, sich irgendwann aufs Ganze gesehen gerechtfertigt zu sehen, ist nichtig und eitel. Es gibt keine Dauer im Guten, nur jeweils richtig oder falsch, und auch das nur auf begrenzte Sicht. Nicht einmal das formale Sittengesetz, wie es Kant im kategorischen Imperativ auf den Punkt bringt, ist für sich genommen gut. Es bedarf der Anwendung im Handeln des Menschen, und dieses Handeln bindet den Menschen, wie wir aus dem vorangegangenen Post wissen, nicht dauerhaft. Er kann sich jederzeit gegen das Sittengesetz entscheiden.

Die Schwundstufe des Guten finden wir im Totalitarismus, in dem es so falsch dahergeht, daß es darin mit Adornos Worten kein Richtiges geben kann. Stangneth selbst weist mit Bezug auf Hannah Arendt auf diesen Umstand hin, wenn sie es „unter der Bedingung einer totalitären Herrschaft“ für nötig hält, „konsequent alles sein zu lassen, von dem man zu wenig weiß“: also besser gleich überhaupt „nichts zu tun“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.101)

Die Schwundstufe des Guten besteht demnach darin, sich zuhause in seinen eigenen vier Wänden einzuschließen, weil jeder Schritt nach draußen eine gleichermaßen unvermeidbare wie unwillentliche Teilhabe an allem bedeutet, was die Zukunft einer menschlicheren Welt bedroht. Was ja bekanntlich nicht nur für bestimmte historische und aktuelle Diktaturen gilt, sondern auch für unsere globalisierte Welt.

Letztlich bleibt nur noch eine Möglichkeit, vom Guten zu reden, und sie ähnelt der Art, wie Hannah Arendt vom radikal Bösen spricht: So wie dieses als nicht wiedergutzumachendes Menschheitsverbrechen verstanden werden muß, besteht auch das Gute in den nicht mehr rückgängig zu machenden Taten jener, die sich dafür entschieden haben, freiwillig mit den Opfern des Nationalsozialismus in den Tod zu gehen. Dieses Gute als ultima ratio ist von der Verlegenheit befreit, daß der Mensch, der sich jetzt für dieses Gute entscheidet, diese Entscheidung später noch einmal in aller Freiheit revidieren könnte. Als ultima ratio bildet diese Entscheidung ein bleibend Gutes, über den Tod des Menschen hinaus.

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