„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 2. November 2016

Markus Enders, Die biblischen Grundlagen des christlichen Menschenbildes (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.31-63)

1. Defiziente Intentionalität
2. Sünde als Entzweiung des Menschen mit Gott

Die Grunderfahrung, die das christliche Menschenbild mit allen Menschen teilt, besteht in der Gebrochenheit und Begrenztheit der menschlichen Intentionalität. Aus der Erfahrung der Begrenzung heraus ergeben sich prinzipiell zwei mögliche Konsequenzen: entweder eine Reflexion der Begrenztheit des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses oder eine Projektion der menschlichen Begrenztheit auf eine göttliche Omnipotenz. Indem der Mensch mit seiner irdischen Beschränktheit durch Unterwerfung unter die göttliche Omnipotenz an dieser Potenz teilhat, ist er einer weitergehenden Reflexion der eigenen Begrenztheit enthoben.

Für die letztere Option hat sich die biblische Tradition entschieden. Diese Option ist aber nicht einfach nur ‚bequem‘ und irrational. Sie beinhaltet eine eigene Rationalität, die sich auf die Erfahrung berufen kann, daß Menschen, die sich mit der Begrenztheit ihres Selbst- und Weltverhältnisses nicht abfinden wollen, zur Hybris neigen: sie versuchen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, die Welt so umzugestalten, daß sie ihren Wünschen keinen Widerstand mehr leistet. Enders weist ausdrücklich darauf hin, daß die Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott nicht bedeutet, daß der Mensch wie ein totalitärer Despot über die Welt herrschen und ihre Ressourcen nach Belieben plündern darf. Der biblischen Tradition zufolge ist er vielmehr vor Gott für dessen Schöpfung verantwortlich, und seine ‚Herrschaft‘ ist deshalb nur die eines Statthalters. (Vgl. Enders 2015, S.31) Sein „Herrschaftsauftrag“ gleicht mehr dem eines „Hirten“, der für den „Erhalt der Lebensdienlichkeit der Schöpfung“ sorgt. (Vgl. Enders 2015, S.33)

Der menschliche Wille wird also durch Gottes Willen nicht einfach nur begrenzt, sondern zugleich auch in einen Schutzmechanismus eingebettet, der den Menschen davor bewahrt, sich an sich selbst und an Gottes Schöpfung, zu der der Mensch ja auch gehört, zu vergehen. Für die Gefahren ungebändigter menschlicher Destruktivität ist die Bibel sehr sensibel. Man könnte diese Destruktivität als den Kern des ‚Bösen‘ bezeichnen, von dem mit Blick auf den Teufel bzw. den Satan, Beelzebub etc. immer die Rede ist. Es ist diese mit ungebändigter Destruktivität einhergehende Hybris, mit der der Sündenfall bzw. die verschiedenen Sündenfälle des Alten Testamentes einhergehen.


Zu Beginn der Schöpfungsgeschichte bildeten der Mensch und die Schöpfung ein Ganzes. Das einzige, worin er sich vom Rest der Schöpfung unterschied, bestand in der Gottesebenbildlichkeit. (Vgl. Enders 2015, S.32) In dieser Ebenbildlichkeit bildeten auch Mann und Frau eine Einheit. Das Geschlecht machte keinen Unterschied. (Vgl. Enders 2015, S.32 und S.34)

Mit seinem Wunsch, Gott nicht nur ähnlich zu sein, sondern ihm auch in der Erkenntnis von Gut und Böse gleich zu sein, beginnt eine ganze Reihe von Entzweiungen und weiteren Sündenfällen, die alle mit der „Hybris der Ursünde“ zusammenhängen. (Vgl. Enders 2015, S.36) Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Geschichte vom Baum der Erkenntnis stehen die Entzweiung der Geschlechter und der Beginn des Patriarchats, in dem die Frau der Herrschaft des Mannes unterworfen wird. (Vgl. Enders 2015, S.35) Außerdem wird jedes Geschlecht mit sich selbst entzweit: die Frau mit ihrem Körper, weil sie unter Schmerzen Kinder zur Welt bringen muß, und der Mann mit der natürlichen Umwelt, weil er für ihren Lebensunterhalt schwer arbeiten muß. Hinzu kommt die Entzweiung zwischen Mensch und Tier, die sich gegenseitig nach dem Leben trachten. (Vgl. Enders 2015, S.36)

Der nächste Sündenfall, von dem die Bibel berichtet, besteht im Brudermord: Kain tötet Abel, und von nun an herrschen Zwietracht und Feindschaft auch in der Familie. (Vgl. Enders 2015, S.36) Sodom und Gomorrha bilden einen gesellschaftlichen ‚Sündenfall‘: Sittenverfall und Gewalt bestimmen das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen. (Vgl. ebenda) Der Turmbau zu Babel führt die Hybris des Menschen noch einmal besonders bildhaft vor Augen: er versucht den Himmel zu erreichen, also Gottes Wohnsitz zu stürmen. Die Folgen sind Sprachverwirrung und weltweite Vereinzelung der Menschen, gewissermaßen eine zweite Vertreibung aus dem Paradies. (Vgl. Enders 2015, S.36f.)

Alle diese Entzweiungen des Menschen mit Gott, sich selbst und mit der Welt gipfeln schließlich in der „Sterblichkeit des Menschen“ (Enders 2015, S.37):
„Genau diesen Verlust (der Unsterblichkeit – DZ) und damit die Sterblichkeit seiner irdischen Seinsweise hat sich der Mensch durch seinen Sündenfall zuallererst zugezogen, worauf die Erzählung dieses zweiten Schöpfungsberichts mehrfach ausdrücklich hinweist.()“ (Enders 2015, S.38)
Für alle diese ‚Entzweiungen‘ des Menschen mit sich selbst und der Welt, die sich aus seiner Erfahrung der eigenen Begrenztheit ergeben, ist die Bibel wie gesagt erstaunlich hellsichtig, und es tut heute mehr denn je not, diese Warnung ernstzunehmen. Sie muß in die Reflexion unserer gebrochenen Intentionalität hineingenommen und aufgehoben werden, im Sinne einer bewußten Selbstbegrenzung. Denn wir können uns nicht mehr damit begnügen, uns von einem allmächtigen, fürsorgenden Gott begrenzt zu wissen bzw. einfach naiv daran zu glauben. Kein Gott wird uns aus der Apokalypse, die wir selbst herbeiführen, erretten.

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