„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 23. Februar 2016

Jim Knopf: die andere Geschichte

1. Von Jim Knopf zu Jimballa
2. Orte und Personen
3. Leitmotive in Michael Endes anderen Büchern

In diesem Post möchte ich abschließend nochmal auf verschiedene Leitmotive eingehen, die sich in allen Büchern von Michael Ende (1929-1995) wiederfinden. Diese Leitmotive lassen sich wieder, wie schon im letzten Post zu „Jim Knopf“ (1960/62) gezeigt, an Handlungsorten und an Personen festmachen. So finden wir z.B. eine Verkörperung der Phantasie in den Personen von Turtur (Jim Knopf), Momo (Momo) und in der Kindlichen Kaiserin (Unendliche Geschichte). Außerdem wird die Phantasie in Form von Welten symbolisiert: als das „Ende der Welt“ (Jim Knopf) und als Phantásien (Unendliche Geschichte), wobei der Zustand dieser beiden Welten (als Wüste bzw. als sich ausbreitendes Nichts) auf eine Bedrohung der Phantasie hindeutet.

Die Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit der Erwachsenen gegenüber den Kindern und der Natur finden wir verkörpert in der Wilden 13 (Jim Knopf), in den Grauen Herren (Momo), in dem Kollektivwesen Ygramul (Unendliche Geschichte) und in den Trösterinnen auf der Hurenstraße (Hand in Hand). In „Hand in Hand“ wird der kleine Junge von einem Kollektivwesen begleitet: einem Dschin. Auch die Wilde 13, die Grauen Herren und Ygramul sind Kollektivwesen. Interessanterweise erteilt der Dschin dem kleinen Jungen eine Unterrichtsstunde und agiert damit auf einer Ebene mit der Wilden 13, die ebenfalls Kinder in die Schule schicken. Beide berauben die Kinder jeder Hoffnung.

Insbesondere zwei Handlungsorte stehen für die Endstation von Lebensläufen: die Alte Kaiserstadt (Unendliche Geschichte) und die Hurenstraße (Hand in Hand).

Die Schildkröte taucht als Symbolisierung von Weisheit und Wissen dreimal auf: in Gestalt des Schildnöks Uschaurischuum (Jim Knopf), der Kassiopeia (Momo) und der Uralten Morla (Unendliche Geschichte).

Zwei Personen stehen für das Paradox der gleichzeitigen Erwähltheit und des fehlenden Selbstvertrauens: Bastian (Unendliche Geschichte) und Indicavia (Legende vom Wegweiser). Mit diesem Paradox ist das Rätsel verbunden, inwiefern und aus welchem Grund manche erwählt sind, sehr, sehr viele andere aber nicht. Für diese Frage stehen das Große Rätsel Tor (Unendliche Geschichte) und noch einmal der schon erwähnte Indicavia.

Yor (Unendliche Geschichte) und Hor („Verzeih mir ...“ (Der Spiegel im Spiegel)) sind die Bewahrer vergessener Erinnerungen und Träume. Bastian (Unendliche Geschichte) und Insch’allah (Gefängnis der Freiheit) stehen für fehlende Willenskraft. Beide, Bastian und Insch’allah, sind mit dem Problem konfrontiert, im Tausend Türen Tempel bzw. im Tempel der 111 Türen den richtigen Weg zu finden.

Für ein nach außen abgeschlossenes Selbstverhältnis bzw. für Narzißmus stehen das Tal der Dämmerung (Jim Knopf), Uyulala (Unendliche Geschichte) und die Stimme Allahs (Gefängnis der Freiheit).

Das soll als Hinweis darauf, wie sich bestimmte Leitmotive durch das ganze Werk von Michael Ende ziehen, erst einmal reichen. Zum Schluß möchte ich nochmal auf eine Parallele zwischen „Jim Knopf“ und der „Unendlichen Geschichte“ verweisen, die in den verschiedenen Bewußtseinsformen als Momenten des Handlungsverlaufs besteht.

Zuvor möchte ich kurz auf die Gesamtstruktur der „Unendlichen Geschichte“ eingehen. Diese Gesamtstruktur entspricht der „Krankheit zum Tode“ (1849) von Søren Kierkegaard. Die Krankheit zum Tode besteht Kierkegaard zufolge darin, daß die Menschen entweder verzweifelt sie selbst sein wollen oder verzweifelt nicht sie selbst sein wollen. In seinem Buch beschreibt Kierkegaard die verschiedenen Erscheinungsformen dieser Krankheit. Michael Ende übernimmt diese Verzweiflungsstruktur für die „Unendliche Geschichte“, die er in zwei Teile gliedert: im ersten Teil will Bastian verzweifelt nicht er selbst sein und nimmt stattdessen die verschiedensten Wunschformen an. Er will schön, stark, mutig sein, und er will bewundert werden. Er will gefährlich sein und er will weise sein. Schließlich vergißt er alles, was er einmal gewesen war und landet in der Alten Kaiserstadt.

Im zweiten Teil geht es schließlich darum, daß Bastian verzweifelt er selbst sein will. Er will Teil einer Gemeinschaft sein, und er möchte geliebt werden. Schließlich will er einfach nur noch lieben können.


Wir haben es bei der „Unendlichen Geschichte“ also wie im „Jim Knopf“ mit einer Reise durch unser Selbst zu tun. Und wieder bilden die verschiedenen Orte und Personen verschiedene Formen bzw. Bereiche unseres Bewußtseins. Die Uralte Morla, eine riesige Schildkröte, ist das gleichgültige Bewußtsein, das sich nur für seinen eigenen inneren Kosmos interessiert. Alles andere ist ihm gleichgültig. Auch bei den anderen Bewußtseinsformen geht es um Formen der Gleichgültigkeit. Ygramul ist ein Kollektivwesen, und sie ist gleichgültig gegenüber allem Einzelnen, das kein Kollektiv bildet. Die Vier Winde sind Naturkräfte (Begierden), die gleichgültig gegenüber dem Schicksal derer sind, die ihrem Treiben zum Opfer fallen. Gmork ist ein Wesen der Macht, das gleichgültig gegenüber der Wahrheit ist und das in der Lage ist, über die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie hin und her zu wechseln. Insofern symbolisiert er auch die Technik, die einerseits, als Kunst des Möglichen, ein Produkt der Phantasie ist, andererseits aber die Wirklichkeit nur als Spielfeld und Ressource für technologische Entwicklungen versteht.

Mit einer weiteren Ebene von Bewußtseinsformen geht Michael Ende über den „Jim Knopf“ hinaus. Hier thematisiert er sich selbst bzw. verschiedene Formen der Autorenschaft. Das Orakel Uyulala steht für eine spezifisch künstlerische Intuition, die nur mittels poetischer Formen zum Sprechen gebracht werden kann. Der Alte vom Wandernden Berg wiederum könnte einerseits für Autoren stehen, die nur ganz sachlich das wiedergeben, was passiert, also eine Form des die Wirklichkeit bloß wiederholenden realistischen Schreibens praktizieren. Es gibt aber noch eine andere Deutungsmöglichkeit: der Alte könnte auch für eine Form des intuitiven Schreibens stehen, in der die inneren Formen gewissermaßen über den Umweg der Schreibhand des Autoren unmittelbar in den Text übergehen, in dem sie ihren Ausdruck finden.

Die Kindliche Kaiserin versinnbildlicht eine Form der Intuition, die anders als das Orakel (und anders als der Alte) mehr wie eine Muse bzw. wie eine Inspiration wirkt. Sie ist die Seele einer jeden lebendigen Geschichte. Aber sie bedarf auch des Kontakts mit der Wirklichkeit in Form von Reisenden wie Bastian, die Phantásien Besuche abstatten. Sie akzeptiert jeden so, wie er ist, und sie wertet und urteilt nicht. Gerade darin aber gleicht die Kindliche Kaiserin wiederum der Uralten Morla, die mit all ihrem Wissen eine Form kalter, gefühlloser Rationalität darstellt und in ihrer Gleichgültigkeit ebenfalls nicht wertet und urteilt.

Michael Endes Schreiben drehte sich sein Leben lang um die Frage, was die Technik und das Geld (als eine Form der Technik) aus dem Menschen machen. Er wollte gerne, wie er einmal in einem Interview sagte, das Problem des Geldes lösen. Letztlich war er auf der Suche nach einer Welt und einer Gesellschaftsform, die ohne Geld funktioniert. Diese Frage ist bis heute aktuell. Sie ist eine Frage des Überlebens auf diesem Planeten.

Literatur:
  • Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Stuttgart 1960 / Jim Knopf und die Wilde 13, Stuttgart 1962
  • Momo oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte – Ein Märchenroman, Stuttgart 1973
  • Die unendliche Geschichte, Stuttgart 1979
  • Verzeih mir, in: Der Spiegel im Spiegel: ein Labyrinth, Stuttgart 1984, S.9-14
  • Hand in Hand, in: Der Spiegel im Spiegel: ein Labyrinth, Stuttgart 1984, S.231-250
  • Das Gefängnis der Freiheit, in: Das Gefängnis der Freiheit: Erzählungen, Stuttgart/Wien 1992, S.227-257
  • Die Legende vom Wegweiser, in: Das Gefängnis der Freiheit, ebenda, S.259-301
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7 Kommentare:

  1. Ich danke dir für diese Beiträge über Michael Ende. Ich habe mir so eben "Der Spiegel im Spiegel" bestellt.

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  2. Vielleicht kannst Du mir ja gelegentlich mitteilen, welche der Geschichten in diesem Buch Dich besonders angesprochen haben.

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    1. Da würde sich ja was von meiner Person offenbaren ..... aber nur soviel - der Vater von Michael Ende hat am gleichen Tag wie ich Geburtstag - das ist übermorgen.

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    2. Schön, dann tauschen wir jetzt Geburtstage aus. Die Posts zu Michael Ende waren meine Geschenke an mich und meinen Neffen zu unseren Geburtstagen. Meiner war am 19.
      Im Grunde sind diese Posts jetzt also auch Deine Geburtstagsposts.
      Alles Gute,
      Detlef

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    3. Dann noch dir nachträglich alles Gute zum Geburtstag. Und danke für das schöne Geschenk.

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    4. Ich habe den dritten Post zu ME neu auf das heutige Datum gepostet. Jetzt sind alle drei Geburtstage offiziell berücksichtigt (einschließlich dem von MEs Vater).
      Nochmal alles Gute - D.

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