„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 4. Mai 2015

Maxwell R. Bennett/Peter M.S. Hacker, Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften, Darmstadt 3/2015 (2003)

(Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 585 Seiten mit einem Vorwort von Annemarie Gethmann-Siefert, brosch., 49,90 €)

1. Zusammenfassung
2. Fachsprachliche und nichtfachsprachliche Begriffe
3. Denken und Sprechen
4. Phänomenologie und Sprachanalytik
5. Bindungsproblem (Gestaltwahrnehmung)
6. Innen-Außen-Differenz als Kryptokartesianismus
7. Qualia, Seele und das Arrangieren von Dingen
8. Gibt es Willensakte?
9. sprachanalytischer Reduktionismus

Bennett/Hacker bezeichnen die von ihnen praktizierte Methode bei der Kritik der philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften als „analytische Philosophie des Geistes“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.514) und führen diesen Ansatz auf den „von Wittgenstein angestoßenen ‚Linguistic Turn‘“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.516) zurück. Gemeinhin setzt man den Beginn dieser am Sprachgebrauch orientierten Denkschule mit Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ (1921) gleich. Man könnte allerdings noch ein paar Jahrzehnte weiter zurückgehen und den Beginn des linguistic turn mit Fritz Mauthners „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ (1901/2) ansetzen. (Vgl. meine Posts vom 12.10. vom 23.10.2013) Mauthners Sprachkritik nimmt schon alle wesentlichen Positionen der späteren, vor allem angelsächsischen Tradition der sprachanalytischen Philosophie vorweg und zeigt zugleich wegen der offensichtlichen Widersprüchlichkeiten in seiner Argumentation deutlich deren theoretischen Schwächen.

Die Priorität der sprachanalytischen Philosophie liegt Bennett/Hacker zufolge in der „Begriffsuntersuchung“: „Ihr konstruktives Hauptaugenmerk liegt auf der Klärung unserer Darstellungsform ... und mithin darauf, philosophische Probleme zu lösen und Begriffsverwirrungen zu beseitigen.() ... Sie untersucht und beschreibt die Sinngrenzen: das heißt die Grenzen dessen, was auf kohärente Weise gedacht und gesagt werden kann.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.541) – Kritisch wird die Sprachanalyse immer dort, wo sie feststellen muß, daß bei der Verwendung von Begriffen „Sinngrenzen“ überschritten wurden (vgl. ebenda), etwa wenn psychologische Prädikate, die sinnvoll nur auf menschliche Personen angewendet werden können, auf Teile dieser menschlichen Personen bezogen werden, z.B. auf das Gehirn. Solche mißbräuchlichen Verwendungen psychologischer Prädikate, z.B. Gefühls- und Willensäußerungen, bezeichnen Bennett/Hacker als „mereologischen Fehlschluss“. (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.94)

Das Kriterium, nach dem Bennett/Hacker beurteilen, ob die in den Neurowissenschaften verwendeten, die verschiedensten Bewußtseinszustände bezeichnenden Begriffe bzw. psychologischen Prädikate sinnvoll oder mißbräuchlich verwendet werden, bildet der Alltagssprachgebrauch, dem sie die Neurowissenschaftler ja auch entnommen haben. Beim alltagssprachlichen Gebrauch der Begriffe handelt es sich nicht um jeden beliebigen Gebrauch irgendeines zufälligen Sprechers, sondern um einen Standard, wie er in Grammatiken und Lexika kodifiziert ist: „Die Bedeutungen der Worte werden durch deren regelgeleiteten Gebrauch festgelegt, und sie werden von den durch die Sprechergemeinschaft als richtig anerkannten Bedeutungserklärungen bereitgestellt. Denn die Bedeutungserklärungen fungieren als Regeln oder Standards für den richtigen Gebrauch der betreffenden Ausdrücke.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.518f.)

Was „Sinn ergibt und was Unsinn ist“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.521), wird also nicht durch den Neurowissenschaftler festgelegt: „Die Bedeutungen dieser Ausdrücke, seien diese nun fachsprachliche oder nichtfachsprachliche, hängen nicht von den Überzeugungen des Hypothesenbildners ab.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.519)

Bennett/Hacker bestreiten keineswegs, daß die Neurowissenschaftler berechtigt sind, einen eigenen, fachsprachlichen Gebrauch für die von ihnen verwendeten alltagssprachlichen Begriffe in Anspruch zu nehmen: „Oft entsteht Unsinn, wenn ein Ausdruck entgegen den Regeln seines Gebrauchs verwendet wird. Der fragliche Ausdruck mag ein gewöhnlicher, nichtfachsprachlicher Ausdruck sein, in welchem Fall seine Gebrauchsregeln seiner Standardverwendung und den Erklärungen seiner Bedeutung ‚entnommen‘ werden können. Oder es kann ein fachsprachlicher Kunstausdruck sein; in diesem Fall müssen die Gebrauchsregeln seiner Einführung durch den Wissenschaftler entnommen werden und den Erklärungen, die dieser bezüglich der vorgegebenen Anwendung des Ausdrucks gibt.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.8)

Um einen eigenständigen, fachsprachlichen Gebrauch ihrer grundlegenden Begriffe zu gewährleisten, müßten die Neurowissenschaftler also untereinander neue „Bildungsregeln“ vereinbaren, und „die Bedingungen für die richtige Anwendung dieser innovativen Wendungen wären festzulegen und die logischen Implikationen ihrer Anwendung müssten ausbuchstabiert werden. Wäre das geleistet worden, hätten die einzelnen Worte dieser Wendungen natürlich nicht mehr ihre alte Bedeutung.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.522) – Genau diese Begriffsarbeit ist Bennett/Hacker zufolge von den Neurowissenschaftlern bislang versäumt worden.

Bennett/Hacker verstehen die Sprache als eine Form des menschlichen Verhaltens: als „Verbalverhalten“. (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.105) Alle Aussagen über den Menschen als Person müssen sich mit Beobachtungen seines Verhalten verbinden lassen. Damit ist kein Behaviorismus gemeint, wie Bennett/Hacker beteuern. (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.106, Anm. 147) Der Behaviorismus reduziert alles Lebendige auf Reflexe. Das Verhalten, das Bennett/Hacker meinen, impliziert hingegen keinen Reduktionismus, sondern im Gegenteil den Anspruch, die ganze Fülle des menschlichen Seins über das Verhalten in den Blick bekommen zu können. Empfindet etwa ein Mensch Trauer oder ist er mit der geistig anspruchsvollen Lösung eines mathematischen Problems beschäftigt, so äußert sich das für den Beobachter in seinem Verhalten, das er dabei an den Tag legt. Die psychologischen Prädikate ‚Trauer‘ und ‚schlußfolgerndes Denken‘ sind allererst mit diesem beobachtbaren Verhalten verknüpft und verleihen den entsprechenden verbalen Äußerungen der betreffenden Personen über ihren Zustand Plausibilität. (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.106f.)

Es ist genau dieses Verhalten, daß die Person als lebendiges Wesen von ihren verschiedenen Organen unterscheidet. Das Gehirn legt in keinem seiner neuronalen Prozesse irgendein Trauerverhalten an den Tag, und es gebärdet sich auch nicht wie jemand, der sich über ein mathematisches Problem beugt, das er lösen will: „Wir erkennen, wenn eine Person eine Frage stellt oder wenn eine andere ihr antwortet. Haben wir jedoch irgendeine Vorstellung davon, worum es sich bei einem Fragen stellenden oder beantwortenden Gehirn handeln würde? Bei all dem haben wir es mit Attributen menschlicher Wesen zu tun.“ (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.90)

Die kriterielle Verknüpfung von Bewußtseins- und Empfindungszuständen mit dem Verhalten einer Person begründet bei Bennett/Hacker keine Abduktionslogik, wie wir sie im Rahmen dieses Blogs bei Michael Tomasello kennengelernt haben. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2014) Bei der Abduktionslogik geht es um den Rückschluß von etwas Sichtbarem und Beobachtbaren auf etwas Unsichtbares, also etwa auf das Innere einer Person, das außer von dieser Person für niemanden sonst sichtbar ist.. (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.113f.) Bennett/Hacker zufolge gibt es aber so etwas wie einen privilegierten ‚Zugang‘ zu einem persönlichen Inneren nicht, weil es dieses Innere nicht gibt. Es ist ausschließlich das mit beobachtbarem Verhalten verknüpfte Sprachverhalten der menschlichen Person, das den psychologischen Prädikaten Sinn verleiht, nicht ihre angeblich unbeobachtbaren inneren Zustände.

Das Verbalverhalten ist zugleich das Kriterium, das den Menschen von den Tieren unterscheidet und menschliches Selbstbewußtsein ermöglicht: „Gewiss gibt es so etwas wie Selbstbewusstsein im philosophischen Sinne des Ausdrucks, dabei handelt es sich jedoch nicht um ein Bewusstsein von einem ‚Selbst‘, sondern um eine den Menschen allein auszeichnende Fähigkeit zu reflexivem Denken und Wissen, die mit dem Sprachbesitz steht und fällt.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.438)

Es gibt Bennett/Hacker zufolge so wenig ein vorsprachliches Selbstbewußtsein wie es ein vorsprachliches, bildhaftes Denken gibt. Sie argumentieren dabei entschieden gegen anderslautende Selbstzeugnisse von ‚Denkern‘ wie Einstein, Hadamard und Penrose. „Zeigt das nicht“, fragen sie mit Bezug auf diese Selbstzeugnisse rhetorisch, „dass man in Bildern denkt und seine Gedanken dann in Sprache übersetzt?“ – Und sie antworten selbst: „Das tut es nicht.“ (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.466) Dabei verirren sie sich in eine verworrene Wortklauberei, aus dem der Leser nicht so recht schlau zu werden vermag: „Es zeigt, dass die Beschreibung dessen, was einem beim Denken durch den Kopf geht, normalerweise weder eine Beschreibung seines Denkens ist noch dessen, was man denkt. Was man denkt, ist nicht das, was einem während des Denkens in der Vorstellung präsent ist, von Fällen abgesehen, in denen das, was man zu sich selbst sagt, das ist, was man denkt. Und eine Beschreibung dessen, was einem während des Denkens durch den Kopf geht, ist keine Beschreibung des eigenen Denkens.“ (Ebenda)

Diese wirklich verworrenen Behauptungen, die man wohl kaum als klare und zusammenhängende Argumentation bezeichnen kann, stellen ein beredtes Zeugnis gegen Bennett/Hackers überzogene Ansprüche dar hinsichtlich dessen, was man sagen kann und was man nicht sagen kann. Ihre Behauptung, daß ihre Analysen und ihre Kritik durch die „Standardverwendung“ von Begriffen belegt und autorisiert werde, erweist sich letztlich als ein untauglicher Versuch, davon abzulenken, daß sie ihren Analysen immer wieder nur ihr eigenes subjektives Sprachgefühl zugrundelegen.

Das ganze umfangreiche Buch ist praktisch auf jeder Seite voll von ständig wiederholten, den Leser ermüdenden  Phrasen der folgenden Art: „Es ist abwegig, zu sagen ...“, „Es ist unsinnig, zu sagen ...“, „Es ist verworren, zu sagen ...“ – Diese Behauptungen werden immer wieder ergänzt durch Fußnoten und Anmerkungen, in denen der Übersetzer Axel Walter noch einmal zu erklären versucht, was Bennett/Hacker an dieser Stelle möglicherweise gemeint haben könnten. Und das liegt sicher nicht nur daran, daß es im Deutschen bestimmte Redewendungen nicht gibt und wir es also mit einem vom Englischen abweichenden Sprachgebrauch zu tun haben. Letztlich sind es nicht nur die Neurowissenschaftler, sondern auch Bennett/Hacker selbst, die gelegentlich einfach eine verworrene Vorstellung davon haben, was man sagen kann und was nicht.

Dabei bildet aber das Hauptproblem der Benntt/Hackerschen Analysen, daß sie nur zwischen alltagsprachlichen und fachsprachlichen Begriffen unterscheiden. Es fehlt jeder Hinweis auf die eigenständige Funktion von Metaphern bei der Begriffsbildung. Es ist zwar von gewissen „polymorphen“ Verben und von polymorphen Begriffen als „Variationszentren“ der Sinn und Bedeutungsbildung die Rede (vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.237 und 341f.), aber der nicht-begriffliche, im Wesentlichen metaphorische Status dieser Worte wird nirgendwo thematisiert. So berechtigt das gegen die neurowissenschaftlichen Begriffsverwirrungen gerichtete Anliegen von Bennett/Hacker also ist und obwohl sie auch immer wieder beeindruckende Ergebnisse ihrer Analysen vorzuweisen haben, greift ihr sprachanalytisches Vorgehen doch insgesamt zu kurz. Darauf wird in den folgenden Posts noch zurückzukommen sein.

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