„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 4. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Es gibt zwar ein umfangreiches Kapitel zur „Wortkunst“ (vgl. Evans 2014, S.278-310), das inhaltlich in die Richtung der entsprechenden Ausführungen von Fritz Mauthner in seinen „Beiträgen zu einer Kritik der Sprache“ (1906) geht (vgl. meinen Post vom 20.10.2013); es gibt auch sonst einige Stellen, auf die ich im nächsten Post noch eingehen werde, die die Differenz von Außen und Innen, von Sagen und Meinen thematisieren. Aber insgesamt übernimmt Evans unkritisch das übliche Informationsmodell von Sprache und abstrahiert damit von ihrer Ausdrucksfunktion. So feiert er den Beginn der Sprachlichkeit in der Evolution des Menschen als ein Beschleunigungsmoment im Prozeß der „Informationsweitergabe“:
„Als unsere frühen menschenartigen Vorfahren nach und nach von der Steuerung durch Instinkte befreit wurden, entfaltete sich eine zweite Art der Informationsübertragung von einer Generation zur nächsten. Neben dem Hauptweg der genetischen Übertragung, die wir mit allen anderen Spezies gemeinsam haben, tauchte ein neuer Weg auf, die Kultur, und diese wurde immer mehr durch Sprache vermittelt. Neue Techniken und Beobachtungen über die Welt konnten nun schnell zum gemeinsamen Repertoire einer Gruppe von Menschen hinzugefügt werden, ohne auf den langsamen Prozess der genetischen Selektion warten zu müssen. So erhöhten sich die Geschwindigkeit und Menge der Informationsweitergabe von einer Generation an die nächste, indem die genetischen und kulturellen Übertragungswege sich addierten.“ (Evans 2014, S.238)
Dazu fällt Evans ein gleichermaßen untaugliches wie bezeichnendes Beispiel ein: „Wenn man sich auf die genetische Weitergabe verlässt, dann müssen Einzelwesen essen und sterben, bevor man sagen kann, dass die Spezies ‚gelernt‘ hat, dass man diese bestimmte Nahrungsquelle besser meidet, nämlich wenn ein entsprechender ererbter Instinkt entstanden ist. Aber sobald die Kultur da ist und vor allem wenn die Sprache dazukommt, reicht ein einziger Todesfall, damit sich etwas ändert.“ (Evans 2014, S.239) – Es dürfte inzwischen eigentlich hinlänglich bekannt sein, daß die Effektivität, mit der sprachunfähige Ratten voneinander lernen, daß bestimmte Speisen vergiftet sind, in nichts der Effektivität des menschlichen Mitteilungsvermögens nachsteht. Lassen wir einmal den von Tomasello beschriebenen Wagenhebereffekt beiseite: Ginge es tatsächlich nur um Informationsübermittlung, hätte es – zumindestens was dieses Beispiel betrifft – keiner menschlichen Sprache bedurft.

Bezeichnend ist dieses von Evans gewählte Beispiel deshalb, weil es den Kern des dominanten Informationsverarbeitungskonzepts offenlegt: A übermittelt an B die Information C. Die inneren Zustände bzw. die Befindlichkeiten von A und B spielen dabei keine Rolle. Evans kommt übrigens dann doch noch auf Tomasellos Wagenhebereffekt zu sprechen, indem er die menschliche Sprache als eine „riesige Erinnerungsdatenbank“ bezeichnet: „Jede Verbesserung von einer Generation an die nächste erhöht schrittweise den Entwicklungsstand der menschlichen Kultur ...“ (Vgl. Evans 2014, S.239) – Auch hier ist mit Erhöhung des Entwicklungsstandes lediglich die Addition von Informationen gemeint.

Das Informationsverarbeitungskonzept reduziert die menschliche Kommunikation auf die Möglichkeiten einer Maschinensprache. Dazu paßt die Graphik, mit der Evans die grammatischen Strukturen der sozialen Kognition veranschaulicht. (Vgl. Evans 2014, S.127) Sie ähnelt dem Schaltplan eines Stromkreislaufes in einer Maschine. Im Zentrum dieses Schaltplans – ähnlich einer Batterie; es fehlen nur noch die blinkenden Lämpchen – befindet sich der „Sprechakt“: „Schließlich steht im Zentrum des Modells der Sprechakt, denn Sprechakte ermöglichen es, dass wir Informationen über Ereignisse zuverlässig aktualisieren und übertragen können.“ (Evans 2014, S.127)

Das Maschinenähnliche dieses Verschaltungsmodells, das Evans vorschlägt, besteht in der Hierarchisierung der Funktionen des Sinnverstehens. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Bedingungen und Voraussetzungen für Sinnverstehen in Sprache gipfeln zu lassen: hierarchisch im Sinne einer Infrastruktur, d.h. die verschiedenen Ebenen sind in Form eines starren Schaltplans miteinander verschaltet und ihre verschiedenen, lexikalisch festgelegten Datensätze werden nacheinander aktualisiert (ähnlich dem schrittweisen Aufleuchten von Lämpchen in einer Lichterkette); und metaphorisch im Sinne einer Überlagerung von aufeinander transparenten ‚Folien‘, in denen Vordergründe und Hintergründe zueinander variabel sind und so die ‚Datensätze‘ im Überlagerungsprozeß allererst erzeugen.

Die hierarchischen Funktionen des Sinnverstehens, als Informationsübertragung, können algorithmisch fixiert werden. Vordergründe können hingegen beliebig fokussiert werden, und die verschiedenen ‚Hintergründe‘ bzw. die Situationen, in denen wir kommunizieren, bieten nahezu unendlich viele Möglichkeiten, etwas zu fokussieren. Diese Verwiesenheit von Sprache auf Kontexte und ihre allmähliche Prägung auf bestimmte Kontexte in Form von ‚Landessprachen‘, die sich nicht einfach in andere Länder und Regionen ‚verpflanzen‘ lassen (vgl. meinen Post vom 01.12.2014) –, verweist auf einen ökologischen „Wissenstyp“, der sich von dem funktionellen, universalisierbaren Informationsbegriff unterscheidet: „Der Wissenstyp und der zugehörige Wortschatz ... gehören normalerweise zu den ersten Dingen, die verloren gehen, wenn Sprecher einer Sprache aus ihrer angestammten Umgebung in ein Reservat in Oklahoma, auf eine Gummiplantage in Malaysia, in ein Ghetto in Ibadan umgesiedelt werden oder einen sesshaften Lebensstil annehmen müssen, bei dem sie ihr traditionelles ökologisches Wissen nicht mehr anwenden können.“ (Evans 2014, S.44)

Diese von Evans angesprochene ökologische Wissensform läßt sich also nicht einfach informationstechnologisch komprimieren und algorithmisch transformieren, anders als Evans es am Beispiel der über 2500 Jahre alten Grammatik von Panini beschreibt, der als der Urvater der modernen Computersprachen gilt. (Vgl. Evans 2014, S.53f.) Der Punkt, um den es mir geht, läßt sich sehr schön an einem Beispiel verdeutlichen, das Evans selbst unwillentlich in der von Robert Mailhammer stammenden deutschen Übersetzung seines Buches liefert. Dabei handelt es sich um einen Denkfehler, der trotzdem für den Leser des Textes einen sinnvollen Satz ergibt, der aber für ein Computerprogramm prinzipiell nicht entschlüsselbar ist.

Evans erklärt in dieser Textstelle, wie der „Wörter-und-Sachen“-Ansatz in der Vergleichenden Sprachwissenschaft funktioniert. (Vgl. Evans 2014, S.228) Wörter einer neuen, unbekannten Sprache, die bestimmte archäologische Fundstücke bezeichnen, können über diese archäologischen Fundstücke datiert werden. Die Verbindung von Wörtern und Sachen hilft den Sprachwissenschaftlern dabei, herauszufinden, wann bestimmte Wörter im Gebrauch waren. Das ermöglicht es ihnen wiederum, zu ermitteln, wann diese Wörter aus anderen, älteren Sprachen als Lehnwörter übernommen wurden. Evans (bzw. Mailhammer) schreibt:
„Dabei (also beim Wörter-und-Sachen-Ansatz – DZ) geht es darum, herauszufinden, in welchen Sprachen es rekonstruierbare Wörter für den Bestand an archäologisch belegten Gegenständen gibt und in welchen Sprachen diese späteren Entlehnungen aus einer jüngeren prestigeträchtigen Kultur stammen.“ (Evans 2014, S.228 (Hervorhebungen – DZ))
Evans/Mailhammer stolpern in diesem Satz über das Wort ‚später‘, im Sinne von ‚nachfolgend‘, dessen Gegenstück ‚früher‘ wäre. In ‚spät‘ steckt aber auch ‚Verspätung‘, etwas, das den Wartenden hinhält und die Zeit sich quälend lang hinziehen läßt, bis es schließlich ‚zu spät‘ ist. Es steckt etwas vom Altwerden in diesem Wort. ‚Spät‘ und ‚alt‘ verwandeln sich in Synonyme: je später das Jahr, um so länger hat es sich hingezogen und um so älter ist es auch.


Es ist möglich, daß sich Mailhammer von diesem Gefühl hat verleiten lassen, weshalb er glaubte, den „späteren Entlehnungen“ im Satz ein ‚jünger‘ folgen lassen zu müssen, was den eigentlichen Sinn des Satzes verdreht. Denn mit den „späteren Entlehnungen“ von Wörtern sind keine ‚älteren‘ Entlehnungen gemeint, sondern Lehnwörter aus einer älteren Kultur, die später von einer jüngeren Sprach- und Kulturgemeinschaft übernommen wurden.Trotzdem versteht man natürlich, wie gesagt, als kompetenter Leser, was Evans/Mailhammer meinen. Erst recht, wenn so ein Leser, wie eben auch der Rezensent, sich selbst schon oft – und je ‚später‘ der Tag, um so öfter – beim Gebrauch dieses Wortes vertan hatte.

Das Beispiel ist insofern lehrreich, als ein verständiger Leser kein Problem damit hat, den eigentlichen Sinn des Satzes zu rekonstruieren. Ein Computerprogramm wäre dazu nicht in der Lage. Darüberhinaus sind aber auch die Nebenbedeutungen von ‚später‘, wie Spätkömmling, Verspätung oder eben auch ‚zu spät‘ interessant. In einem Wort kann vieles mitschwingen. Ein und dieselbe ‚Information‘, wie eben das Wort ‚später‘, kann viele Bedeutungen haben. Und damit wäre nun wirklich jede Informationsverarbeitungsmaschine überfordert. Es sei denn, man bezeichnet so ein Wort als Q-Bit (Quantenbit), das verschiedene Zustände gleichzeitig einnehmen kann. Allerdings nur zwei. Und dabei geht es auch nicht um Semantik, sondern um Speicher- und Rechenkapazitäten.

PS (5. Dezember 2020):
Das Problem, mit dem ich mich hier abquäle, besteht in der ‚Reihe‘, die in unserer Schriftlichkeit immer von links nach rechts verläuft, was in einer chronologischen Reihe dem Zeitpfeil entspricht: links ist das ‚Frühere‘ und rechts das ‚Spätere‘. Die Richtung nach rechts verweist also auf die Zukunft, und die Richtung nach links auf die Vergangenheit.
In der Paläologie und Paläontologie haben wir es nun dummerweise immer mit zwei Zeitpfeilen zu tun, die wir miteinander koordinieren müssen: die chronologisch korrekte Entwicklungsrichtung von der Vergangenheit bis heute, und unser eigener Blick auf die Vergangenheit, also von heute in die Vergangenheit. Bei der Benennung der verschiedenen Epochen hat das dazu geführt, daß wir sie nach unserer Blickrichtung benennen. Das ‚Jung‘-Paläolithkum (ab 40.000 Jahren vor heute) liegt unserer Gegenwart näher als das ‚Alt‘- und ‚Mittel‘-Palälolithikum (ab 2,6 Millionen und ab 130.000 Jahren vor heute). Tatsächlich aber, von der Entwicklungsrichtung dieser Epochen aus gesehen, ist das ‚Alt‘-Paläolithikum jung, und das ‚Jung‘-Paläolithkum ist alt.
Daher kommen also meine Probleme mit der sprachlichen Verwendung von ‚spät‘, ‚früh‘, ‚alt‘ und ‚jung‘.

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