„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 9. Juli 2013

Marcus Knaup, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg/ München 2012

1. Neurowissenschaften und Philosophie
2. Embryonale Leiblichkeit
3. Das Mensch-Welt-Verhältnis
4. Supervenienz und Epiphänomenalismus
5. Plastizität und Korrelation
6. Damasios Monismus

Marcus Knaups Dissertationsschrift „Leib und Seele oder mind and brain?“ (2012) bietet einen bemerkenswerten Überblick über die wichtigsten neurowissenschaftlichen und philosophischen Schriften zum Leib-Seele-Problem. Die Fülle der von Knaup besprochenen aktuellen Autoren und Denker und sein philosophiegeschichtlicher, bis zu Aristoteles zurückreichender Zugriff sind beeindruckend. Knaups Interesse orientiert sich dabei vor allem an der Frage, was die Neurowissenschaften und ihr jüngstes Neuro-Anhängsel, die Neurophilosophie, zur materiellen bzw. physischen Möglichkeit mentaler Lebensäußerungen beizutragen haben.

Diese Fragerichtung untergliedert Knaup noch einmal in eine ontologische Teilproblematik: „Gibt es für mentale Lebensäußerungen notwendige physische Voraussetzungen?“ (Knaup 2012, S.18), in eine freiheitstheoretische Teilproblematik: „Können wir davon ausgehen, dass das, was wir wollen und wie wir handeln, wirklich frei ist? Oder ist es uns durch unser Gehirn vorgegeben und vollständig determiniert?“ (Knaup 2012, S.19), und in eine identitätstheoretische Teilproblematik, womit die Differenz zwischen „Leib und Seele“ und „mind and brain“ gemeint ist, also ob wir den Menschen als eine organische Ganzheit verstehen oder ob wir ihn auf das Gehirn reduzieren (vgl. Knaup 2012, S.20).

Knaups Forschungsanliegen wird also in gewisser Weise durch seine Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften bestimmt. Nach der Möglichkeit mentaler Lebensäußerungen zu fragen, ist nämlich etwas anderes, als wenn man phänomenologisch von ihrer Notwendigkeit ausgeht und von hier her deren biologischen Voraussetzungen zu klären versucht. Helmuth Plessner geht in dieser Weise vor. Anstatt das ‚Erleben‘ und die damit verbundenen mentalen Phänomene in Frage zu stellen, setzt er sie als gegeben voraus. Und anstatt nun eine biologistische bzw. physikalistische Reduktion der mentalen Phänomene vorzunehmen, interpretiert er den menschlichen Organismus von vornherein von diesen mentalen Phänomenen her. Der menschliche Organismus kann Plessner zufolge nur vor dem Hintergrund der Totalität der gesamten Menschheitsgeschichte verstanden werden. Diese Vorgehensweise bezeichnet Plessner als Ästhesiologie. (Vgl. meinen Post vom 14.07.2010)

Bei allem Fleiß und bewundernswertem Engagement, den Knaup bei der Sichtung und der Analyse der Literatur und des Forschungsstandes an den Tag legt, wird er von seinem Thema selber zu reduktionistischen Stellungnahmen, wie er sie den Neurowissenschaftlern vorwirft, verleitet. Darauf werde ich im nächsten Post noch zu sprechen kommen. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, daß allein schon, nach der materiellen bzw. physischen Möglichkeit mentaler Lebensäußerungen zu fragen, dazu verführt, bei aller Kritik am weltanschaulichen Dogmatismus vieler Neurowissenschaftler bestimmte Grundvoraussetzungen unhinterfragt zu akzeptieren: nämlich daß es punktuelle, aus dem organischen Ganzen herauslösbare und isolierbare Momente geben könnte, denen die Potentialität für Bewußtheit zugesprochen werden kann.

Damit will ich die Fragestellung selbst nicht in Zweifel ziehen. Der neurophysiologische Blick auf den Menschen führt zu bemerkenswerten Erkenntnissen und Einsichten. Wenn diese Erkenntnisse aber nicht eingebettet sind in vorangegangene Klärungsprozesse hinsichtlich dessen, was neurophysiologische Methoden zur Frage nach der Menschlichkeit des Menschen beitragen können, sind alle diese Erkenntnisse nichts wert, wie auch Knaup schreibt: „Um eine gute und weiterführende Antwort zu erhalten, können sie (die Neurowissenschaftler – DZ) nicht einfach ‚wild‘ irgendwelche Daten erheben, sondern sie müssen sich mit anderen Kollegen ihrer Zunft darüber abstimmen, was eigentlich geklärt und verhandelt werden soll und wo genau man einhaken will. Dies zeigt schon, dass aus dem schier unüberschaubaren Angebot an Möglichkeiten dessen, was überhaupt erforscht werden könnte, von vornherein bestimmte Sachverhalte ausgesucht werden, ein Bereich, der erforscht werden soll und kann, abgesteckt wird.“ (Knaup 2012, S.324)

Wir haben es nämlich auch bei Neurowissenschaftlern mit fehlbaren, sich irren könnenden Menschen zu tun und nicht mit einer „unfehlbaren Phalanx, die nicht hinterfragt werden könnte bzw. deren Antworten immer richtig wären.“ (Knaup 2012, S.325f.) – Weil dem so ist, ist es um so ärgerlicher, wenn einige Neurowissenschaftler wie z.B. die Unterzeichner des Manifestes der Hirnforscher (2004) sich als dogmatische Deterministen gebärden, denen zufolge wir keine Wahlfreiheit haben; jedenfalls keine, die unserem bewußten Erleben entspricht, weil nämlich die entscheidenden Weichenstellungen in unbewußt bleibenden Gehirnfunktionen vorgenommen werden, die wir dann nur noch bewußt nachvollziehen.

Insofern ist es nur konsequent, wenn diese Neurowissenschaftler auf weitergehende Klärungsversuche hinsichtlich ihres eigenen Vorgehens verzichten. Das von Knaup beklagte ‚wilde‘ Datenerheben (vgl. auch meinen Post vom 05.06.2013) entspricht ihrer Grundüberzeugung, daß sowieso alles determiniert ist. Dennoch kommen auch die Unterzeichner des Manifestes wie etwa Gerhard Roth und Wolf Singer nicht darum herum, gelegentlich auch mal Anträge für die Bewilligung von Forschungsgeldern zu stellen. Dabei müssen sie sich zumindestens den Anschein geben, als würden sie versuchen, ihre Forschungsanträge zu begründen. In dem Moment, wo sie aber etwas zu begründen versuchen, bewegen sie sich in einem anderen Bereich als in ihren Experimenten. (Vgl. Knaup 2012, S.569f.) Es geht hier nicht mehr um Ursachen und ihre Wirkungen, sondern um Gründe, und diese Gründe müssen gewichtet und bewertet werden.

Die Antragssteller haben hier die Freiheit, ihre Gründe so zu wählen, wie es ihnen am aussichtsreichsten erscheint, um das beantragte Geld bewilligt zu bekommen, und die Gutachter haben die Freiheit, die vorgelegten Begründungen für plausibel zu halten oder auch nicht. Wie Knaup schreibt: „Wenn Menschen sich ehrlich der Frage aussetzen, was ein guter Grund sein mag, so zu handeln (z.B. eine bestimmte Versuchsreihe durchzuführen und um Forschungsgelder zu bitten) und sie ihr Leben an der Wahrheit ausrichten, scheint Freiheit in ihnen auf.“ (Knaup 2012, S.593.)

Wenn also die Autoren des Hirnforschermanifestes Forschungsgelder beantragen, um ihren Glauben an den Determinismus mittels aufwendiger und teurer neurowissenschaftlicher Experimente belegen zu können, müssen sie sich wohl oder übel in dem Freiheitsbereich bewegen, den sie so gern experimentell widerlegen möchten. Traurig ist nur, daß viele staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen, solche Anträge um so lieber bewilligen, je deterministischer deren Zielrichtung ist.

Mit einer eigenen neurowissenschaftlichen Klärung der eigenen Erkenntnismöglichkeiten ist es also in den Neurowissenschaften nicht weit her, wenn man denn bereit ist, die Autoren des Hirnforschermanifestes für das Ganze der Neurowissenschaften zu nehmen, wie sie es von sich selbst gerne behaupten. Insofern verwundert es auch nicht weiter, daß diese Neurowissenschaftler eine starke Abneigung gegenüber der Philosophie an den Tag legen. Von Francis Crick ist zu lesen, daß die Philosophen zur „Lösung des Bewusstseinsproblems“ „im Laufe der letzten zweitausend Jahre so magere Sachen vorgelegt (hätten), dass es ihnen besser anstünde jetzt zu schweigen. Ihren Diskussionen und Ratschlägen sollte man daher ‚nicht allzu viel Beachtung schenken.‘()“ (Vgl. Knaup 2012, S.391) – Und die Neurodeterministen Vilayanur S. Ramachandran und William Hirstein meinen, das „Auseinanderhalten von ‚mind‘ und ‚body‘, Illusion und Realität habe Philosophen wie Aristoteles bis Searle viel Zeit und Mühe gekostet. Gebracht habe dies alles nichts, weshalb mit der ‚endless number of debates‘() Schluss sein müsse.“ (Vgl. Knaup 2012, S.402)

Auch sonst begegnet man in der Literatur und in öffentlichen Debatten immer wieder der Forderung, daß man heute keine Philosophie mehr betreiben ‚könne‘ (bzw. dürfe – denn hier handelt es sich um ein Denkverbot!), ohne ‚naturwissenschaftlich‘ (hier ist meistens vor allem an die Neurophysiologie gedacht) auf dem Laufenden zu sein. Umgekehrt geht man dabei aber davon aus, daß man sehr wohl als Naturwissenschaftler (bzw. als Neurowissenschaftler) Philosophie betreiben könne, ohne philosophisch auf dem Laufenden sein zu müssen, denn diese sei ja eh nur Gewäsch.

Aber es bleibt nicht einmal dabei, daß diese Hirnforscher nur die Philosophen nicht mehr ernst nehmen. Sie nehmen nicht einmal sich selbst bzw. ihre Kollegen und deren Forschungsergebnisse ernst. So wenig wie sie ihre eigenen Forschungsergebnisse glauben begründen zu müssen, so wenig schauen sie bei den Forschungsergebnissen ihrer Kollegen genauer hin. Der prominenteste Neurowissenschaftler in Sachen ‚Widerlegung der Willensfreiheit‘, der bei keinem Neurodeterministen fehlen darf, wenn es darum geht, das Bewußtsein für nichtig zu erklären, nämlich Benjamin Libet, hat seine eigenen Forschungsergebnisse niemals in diesem Sinne verstanden. Ganz im Gegenteil beharrt Libet stur und uneinsichtig darauf, daß seine Forschungsergebnisse die Willensfreiheit eher belegen, als sie zu widerlegen (vgl. Knaup 2012, S.497-530): „Ich kann kategorisch sagen, dass es in der Neurowissenschaft oder in der modernen Physik nichts gibt, das uns dazu zwingt, die Theorien des Determinismus und Reduktionismus zu akzeptieren.“ (Zitiert nach Knaup 2012, S.509f.)

Solche Stellungnahmen kommen bei den Neurodeterministen aber nicht an. Unbeirrt berufen sie sich für ihren dogmatischen Determinismus auf Libet. Libets Beurteilung zu diesem Verhalten ist nachvollziehbar: „Er will im Determinismus (und darin hebt er sich von so manchem Autor ab, der die Libetschen Daten auslegt – und überstrapaziert) ‚ein Überzeugunssystem‘ erkennen, jedenfalls ‚keine wissenschaftliche Theorie, die durch Tests bestätigt wurde‘() – schon gar nicht durch seine.“ (Knaup 2012, S.510)

Wer Knaups Dissertation aufmerksam liest, wird bald feststellen, daß wir uns bei Fragen zum Leib-Seele-Problem und der damit verbundenen Freiheitsproblematik auf einem Forschungsgebiet bewegen, auf dem wir mit bloß empirischen Methoden nicht weit kommen. Um Probleme der Willensfreiheit und der Handlungsfreiheit erörtern zu können, bedarf es Experimente anderer Art. Knaup selbst spricht von der Notwendigkeit von Gedankenexperimenten. Sie können, so Knaup „die interne Kohärenz und Struktur von Theorien aufzeigen und unsere Begrifflichkeit schärfen.“ (Vgl. Knaup 2012, S.80, Fußnote 183) Die ganze umfangreiche Schrift über 600 Seiten (plus Literaturverzeichnis und Personen- und Sachregister) ist deshalb von zahlreichen Gedankenexperimenten und Beispielen bzw. Gleichnissen aus der Literatur- und Philosophiegeschichte durchzogen.

Ich selbst habe mich schon an verschiedenen Stellen in diesem Blog zur Notwendigkeit einer Kasuistik geäußert. (Vgl. meine Posts vom 26.07.2012 und vom 15.04.2013) Da wir es bei der Bewußtseins- und der Freiheitsthematik mit dem äußerst diffizilen Zusammenhang von Erleben und Begreifen zu tun haben, einem Zusammenhang, der der von Blumenberg beschriebenen Theorie der ‚Unbegrifflichkeit‘ zuzuordnen ist (vgl. meine Posts vom 06.09. bis zum 10.09.2011), ist die von Knaup angesprochene Schärfung unserer „Begrifflichkeit“ nicht nur unverzichtbar, sondern auch unbeendbar, so lange wir über Bewußtsein und Freiheit nachdenken. Für eine neurodeterministische Toderklärung der Philosophie ist es deshalb immer nur zu früh.

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