„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 10. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Zum Ende seines Buches gibt Felix Hasler einen Ausblick auf einige hoffnungsvolle Gegenbewegungen zu der bisherigen Dominanz der Neurowissenschaften im öffentlichen Raum und ihrer gehirnerweichenden Ausbreitung im wissenschaftlichen Raum der universitären Disziplinen, denen nach dem Vorbild der synthetischen Biologie statt Gen-Schnipsel Wortschnipsel wie Neuro-Philosophie, Neuro-Soziologie, Neuro-Theologie, Neuro-Ethik, Neuro-Ökonomie, Neuro-Recht, Neuro-Kriminologie, Neuro-Forensik, Neuro-Finanzwissenschaften, Neuro-Verhaltensforschung, Neuro-Anthropologie etc. hinzugefügt werden. (Vgl. Hasler 2012, S.14)

Einige kritische Neurowissenschaftler haben sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen (critical-neuroscience.org). (Vgl. Hasler 2012, S.228f.) Ihr Ziel ist es, „auf eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Verhaltens hinzuarbeiten, die Gehirn und Kognition im Körper, dem sozialen Milieu und der politischen Welt situiert“. (Vgl. Hasler 2012, S.229) Mit dieser Zielformulierung ist ein Projekt umrissen, das auf einer Ebene mit Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes steht. (Vgl. meinen Post vom 14.07.2010) Auch das interdisziplinäre Projekt von dem Dichter und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott und dem Psychologen Arthur Jacobs („Gehirn und Gedicht“ (2011)) wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. (Vgl. meinen Post vom 19.07.2011)

Im Bereich der Medizin hat sich ebenfalls ein kritisches Netzwerk gegen die Macht der Pharmakonzerne gebildet, das sich „Mein-Essen-zahle-ich-selbst“ (MEZIS) nennt (mezis.de). (Vgl. Hasler 2012, S.232) Hasler erhofft sich von diesen Netzwerken, daß die „kritische Reflexion der eigenen Wissenschaftspraxis“ zu notwendigen Reformen führt. (Vgl. Hasler 2012, S.230) Die kritischen Neurowissenschaftler sorgen sich um einen möglicherweise bevorstehenden Abbau der für die Forschung zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen, wenn die Neurowissenschaften nicht zu einer seriösen Forschungspraxis zurückfinden und das Pendel von der aktuellen ungerechtfertigten Überbewertung der Neurowissenschaften ins andere Extrem gesellschaftlicher Ächtung zurückschwingt. (Vgl. Hasler 2012, S.231f.)

Vor dem Hintergrund des aktuellen Neuro-Zeitgeistes empfinde ich eine Umbewertung des interdisziplinären Verhältnisses zwischen Neurowissenschaften und Geisteswissenschaften als besonders originell. Ein weiteres Mal möchte ich diesen Post und zugleich meine Posts zu Haslers Buch insgesamt mit einem Zitat beenden. Der Soziologe Steve Fuller schreibt, „man sollte das Verhältnis von Neurowissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern ähnlich gestalten wie bei einer Filmproduktion. Die Neurowissenschaftler – das seien die Schauspieler. Diese seien in der Regel durchaus talentiert und am Ende ja auch die unbestrittenen Stars. Die Soziologen, Historiker und Philosophen hingegen sollten in Fullers Metapher die Regisseure sein, die den Schauspielern sagen, was sie zu tun haben.“ (Hasler 2012, S.229)

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