„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 7. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Nachdem ich im gestrigen Post Leroi-Gourhans Verhältnisbestimmung von Körper und Gehirn vor allem mit Bezug auf die Mechanik des Knochengerüstes diskutiert habe und dabei zu dem Ergebnis gekommen bin, daß Leroi-Gourhan hier im Unterschied zu Plessner Körper und Gehirn nicht als Körperleib, sondern als Behälter und Inhalt thematisiert (vgl. meinen Post vom 06.03.2013), möchte ich heute noch einmal die Parallelen in der Bestimmung des Körperleibs hervorheben.

Diese Parallelen bestehen nicht nur im zweipoligen Verhältnis von Gesicht und Hand, sondern auch in der Beschreibung der Physiologie des ‚Fleisches‘. Schon Leroi-Gourhans Beschreibung der am Knochengerüst ansetzenden Muskeln geht über eine bloß mechanische Bestimmung des Körpers hinaus und nähert sich der von Plessner beschriebenen exzentrischen Positionalität, also der Gleichzeitigkeit von Mitte und Peripherie an. Zwar hält sich Leroi-Gourhan immer noch an der mechanistischen Redeweise vom ‚Apparat‘, aber die Funktion des osteo-muskulären Apparates, nämlich als „Instrument zur Situierung in der Existenz“ zu dienen (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.355), entspricht der exzentrischen Positionalität des Körperleibs. Wir können es auch einfach Haltung nennen. (Vgl. meinen Post vom 31.12.2010)

Die Ebene mechanischer Gleichungen (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.82) verläßt Leroi-Gourhan vollends, wenn er von der Physiologie der Sinnesorgane spricht, also von der „viszeralen Sensibilität“ (Ernährungsverhalten), der „muskulären Sensibilität“ (physische Aktivität) und von dem „Gesichtssinn“ (räumliche Integration). (Vgl. Leroi-Gourhan1980, S.350) Leroi-Gourhan setzt sich also mit den Sinnesorganen in ihrer Bedeutung für das Verhalten eines Organismus auseinander. Und das Verhalten eines Organismus versteht er wiederum als eine „Verbindung von Bewegung und Form“ (Leroi-Gourhan 1980, S.351), also mit Husserl: als Kinästhetik! In diesem Sinne ist die schon angesprochene „Situierung in der Existenz“ nichts anderes als Kinästhetik. Der Verhaltensbegriff führt also bei Leroi-Gourhan eindeutig über den Mechanismus eines Apparatebegriffs hinaus.

Schon Plessner hatte das Verhalten des Menschen wesentlich anders bestimmt als die Behavioristen. ‚Verhalten‘ legen nur lebende Organismen an den Tag. Als solche befinden sie sich immer schon in einer Um-Welt bzw. mit Bezug auf den Menschen: in einer Welt. Plessner hält deshalb fest: „Menschliches Verhalten in der Fülle seiner Möglichkeiten läßt sich nicht unter einem Teilaspekt begreifen.“ (Plessner 1975 (1928), S.XVIII; vgl. auch meinen Post vom 22.10.2010) Wir können also nicht in mechanistischer Weise vom menschlichen Verhalten sprechen. Vielmehr muß die ganze Fülle der kulturellen Überlieferungen berücksichtigt werden, wie Plessner schreibt. (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.295)

Mit der Betonung dieser Verhaltensebene bewegt sich Leroi-Gourhan also bei der Beschreibung der verschiedenen Funktionen der Sinnesorgane auf dem Niveau des Plessnerschen Körperleibs. Auf deren einzelne Funktionen und ihre Parallelen zu Plessners Ästhesiologie will ich hier kurz eingehen. So fällt auf, daß Leroi-Gourhans Beschreibungen der viszeralen Sensibilität den Zustandssinnen bei Plessner gleichen, und daß wir hier eine ähnliche Funktion vorfinden, die Plessner als ‚Seele‘ beschreibt. Plessner beschreibt die Zustandssinne bzw. die Seele als „sinnfrei“, weil sie zu Beginn der individuellen Ontogenese noch nicht auf bestimmte Qualitäten der Wahrnehmung im Sinne von ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ festgelegt sind. (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.270f.)

Dieser „Sinnfreiheit“ der Zustandssinne entsprechen bei Leroi-Gourhan die „viszeralen Rhythmen“, die zunächst unser Ernährungsverhalten bestimmen, in Form von Hunger, Durst und Sättigung. Nimmt man „die Gleichgewichtsorgane und die Wahrnehmung des Körpers im Raum“ hinzu, so verbinden sie sich zu einer die Lebenswelt umfassenden „Körperrhythmik“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.350). Es ist letztlich diese Körperrhythmik, die gemeinsam mit dem osteo-muskulären ‚Apparat‘ die körperleibliche „Situierung in der Existenz“ bewirkt. Diese Körperrhythmik ist das, was Plessner als ‚Seele‘ bezeichnet, deren ursprünglich für jede mögliche Welt offene „Sinnfreiheit“ über die Körperrhythmik in eine bestehende Welt bzw. Um-Welt eingepaßt wird.

Eine wesentliche Bestimmung des Plessnerschen Körperleibs besteht im Ausdrucksverhalten. An der Grenze zwischen Innen und Außen muß der Mensch versuchen, seine Mitte zu finden. Auch dies ist Seele: sich zeigen wollen, aber sich zugleich nicht auf eine bestimmte Sichtweise festlegen lassen zu wollen. Leroi-Gourhan vergleicht nun die Sinnesorgane hinsichtlich ihrer Beteiligung an diesem Ausdrucksverhalten des Menschen. Darin unterscheidet er sich interessanterweise von Plessners Versuch, die verschiedenen Sinnesfunktionen zu ordnen. Plessner fragt vor allem nach ihrer gegenstandsbildenden Qualität und zählt hier vor allem Gesicht, Gehör und Tastsinn auf, denen er alle anderen Sinnesorgane, die nur eine sekundäre Bedeutung für die Gegenstandsbildung haben, gegenüberstellt. (Vgl. meinen Post vom 15.07.2010 und vom 30.01.2012)

Leroi-Gourhan zufolge bieten vor allem zwei Sinnesorgane das Potential einer nicht nur reflexiven, sondern auch kommunikativen Verständigung der Menschen über sich und die Welt: Gesicht und Gehör. Den Grund dafür macht Leroi-Gourhan am Geruchssinn deutlich, der bei anderen Arten durchaus Teil der sozialen Kommunikation ist. Beim Menschen kann er das deshalb nicht sein, weil dieser „kein komplementäres Organ zur Emission von Geruchssymbolen“ besitzt: „So bleibt er außerhalb jenes Dispositivs, das gerade das markanteste Charakteristikum des Menschen ausmacht; die Reflexion vermag zwar die Wahrnehmungen zu kodifizieren, diese Wahrnehmungen lassen sich aber nicht mitteilen.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.363)

Beim Gesichtssinn sind es die Hand und ihre Gesten, und beim Gehör ist es die Stimme und das gesprochene Wort, die unsere subjektiven Wahrnehmungen mitteilbar machen und somit das seelische Bedürfnis, sich auszudrücken (und sich zu verbergen), befriedigen. Daß auch der Geruch einen Teil der kommunikativen Praxis bildet, als ein Moment der Haltung, das Sympathien und Antipathien bedingt, wird von Leroi-Gourhan nicht weiter diskutiert.

Schon der Titel seines Buches, „Hand und Wort“, deutet also eine körperleibliche Bestimmung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses an. So muß man sein Buch also immer auf zwei verschiedenen Ebenen lesen und sorgfältig zwischen dem Körperapparat, zu dem Leroi-Gourhan auch den „physiologischen Apparat“ zählt (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.490), und dem Verhalten unterscheiden, das über eine bloß mechanische Bestimmung der menschlichen Evolution weit hinausgeht und nur „in der Totalität der Erde“ verstanden werden kann. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.22)

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