„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 6. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Die Parallelen zum Plessnerschen Körperleib scheinen bei Leroi-Gourhan schon in seiner Darstellung des Verhältnisses von Gehirn und Körper selbst hervorzutreten. Schon Leroi-Gourhans Gebrauch des Begriffes „Anthropomorphismus“ wertet die Anatomie des Körpers erheblich auf, insofern er das wichtigste Menschheitskriterium an der Gestalt des menschlichen Körpers festmacht und – scheinbar –  nicht am Gehirn: „Anthropomorph bedeutet also ‚mit menschlicher Gestalt‘ und umfaßt sämtliche Anthropinen einschließlich des Australanthropus.“ (S.58, Anm.4)

So hebt Leroi-Gourhan hervor, wie peinlich klein das Gehirn der Australanthropinen geraten sei, zu denen er auch den Australopithecus zählt (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.87), und sie eigentlich nur aufgrund von rhythmisch beschlagenen Steinartefakten der Menschheit zuzuordnen seien (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.384). Es ist also auch hier wieder der aufrechte Gang – und der damit zusammenhängende Merkmalskomplex der befreiten Hand, der Aufhängung des Schädels, der mechanischen Organisation der Wirbelsäule, dem Gebiß und unter anderem eben auch dem Gehirn –, der den Menschen ausmacht. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.56)

Das Gehirn wird von Leroi-Gourhan in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Menschen immer wieder relativiert: „... es lag näher den Menschen durch seine Intelligenz statt durch seine Mobilität zu charakterisieren, die Theorien haben darum zunächst die vorrangige Bedeutung des Gehirns herausgestellt, ein Umstand, der die Interpretation der Fossilien insbesondere von den Primaten an in eine falsche Richtung geführt hat. ... Die zerebalistische Sicht der Evolution erscheint heute ungenau, dagegen scheinen genügend Belege dafür vorzuliegen, daß die Fortschritte in der Anpassung des Bewegungsapparates eher dem Gehirn genützt haben, als daß sie von diesem hervorgerufen worden wären. Aus diesem Grunde werden wir die Lokomotion als Determinante der biologischen Evolution ansehen, so wie sie im dritten Teil als Determinante der aktuellen sozialen Evolution erscheinen wird.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.43)

Der aufrechte Gang, also die spezifisch menschliche Form der „Lokomotion“, hat erst die spezifisch menschliche Intelligenz ermöglicht, die wiederum nicht in erster Linie im Größenwachstum des Gehirns zum Ausdruck kommt – siehe das kleine, schimpansenähnliche Gehirn des Australopithecus –, sondern im zweipoligen Weltverhältnis von Gesicht und Hand als den „beiden Manifestationen menschlicher Intelligenz“ (Leroi-Gourhan 1980, S.268), – eine Intelligenz, die sich im Gleichgewicht von Graphismus und mündlicher Sprache erfüllt.

Dieses Intelligenzmerkmal des Gleichgewichts, das Leroi-Gourhan vor allem an der mit dem aufrechten Gang verbundenen Zweipoligkeit von Hand und Gesicht festmacht und nicht an der „bloße(n) Vergrößerung des Volumens“ des „menschlichen Gehirns“ (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.38), ist ihm so wichtig, daß ihm die zunehmende Bedeutungslosigkeit der Hand in der modernen, technologischen Zivilisation für die menschliche Intelligenz nichts Gutes verheißt: „Es wäre nicht sonderlich wichtig, daß die Bedeutung der Hand, dieses Schicksalsorgans, abnimmt, wenn nicht alles darauf hindeutete, daß ihre Tätigkeit eng mit dem Gleichgewicht der Hirnregionen verbunden ist, die mit ihr in Zusammenhang stehen. ... Mit seinen Händen nicht denken können bedeutet einen Teil seines normalen und phylogenetisch menschlichen Denkens verlieren. Auf der Ebene des Individuums und vielleicht auch auf der Ebene der Spezies stehen wir also in Zukunft vor dem Problem einer Regression der Hand.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.320)

Die „Entwicklung des Gehirns“ scheint für Leroi-Gourhan also in jeder Hinsicht „ein zweitrangiges Merkmal“ darzustellen. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.36) Tatsächlich ist aber das Gehirn nur hinsichtlich der biologischen Phylogenese ein zweitrangiges Merkmal. Als biologisches Merkmal im engeren Sinne setzt das Gehirnwachstum – siehe Australopithecus – erst so spät ein, daß die Menschheit und mit ihr die spezifisch menschliche Intelligenz weiter zurückreichen, als der heutige quantitative Gehirngewichtsstandard von anderthalb Kilogramm vermuten läßt.

Aber dennoch behält das Gehirn seine einzigartige Position unter den übrigen Organen, insofern es die „letzte Errungenschaft“ des Menschen bildet, „denn die technischen Ergebnisse haben keinerlei Voraussetzungen in der osteo-muskulären Ausstattung, die nicht auch schon die höheren Affen besäßen: worauf es ankommt, ist der Nervenapparat.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.299) – Das ist jetzt eine deutliche Umkehrung der bisherigen Verhältnisbestimmungen von körperlicher Anatomie und Gehirn. Zwar ist das Gehirn in der biologischen Evolution nur eine Folge des aufrechten Ganges und bildet in der Reihe der Menschheitskriterien nur ein letztes, speziell mit dem homo sapiens verbundenes Merkmal. Aber als dieses letzte, relativ spät auftretende Merkmal ist es eng verbunden mit dem Aufstieg der technologischen Zivilisationen.

Allerdings muß man die Bedeutung des Gehirnvolumens auch hier nochmal dahingehend relativieren, als der eigentliche Schub zu den modernen Zivilisationen auch hier nicht direkt vom Gehirn ausging, sondern von einer Umstellung des mehrdimensionalen Graphismus der Bilderschriften auf den linearen Graphismus der alphabetischen Schrift. (Vgl. meinen Post vom 01.03.2013)

Letztlich beschreibt Leroi-Gourhan den menschlichen Körper aber eben doch nicht als Leib, sondern nur als mechanisches Gehäuse für das Gehirn: „Das Verhältnis zwischen Gehirn und Knochengerüst ist das von Inhalt und Behälter, mit allem, was man sich an evolutiven Wechselwirkungen vorstellen mag; Inhalt und Behälter sind jedoch ihrem Wesen nach nicht in eins zu setzen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.81)

Das Knochengerüst bildet einen mechanischen Apparat, dessen vornehmster Zweck es ist, eine Evolution des Gehirns auf ein zunehmendes Volumen hin zu ermöglichen: „Nach der Gewinnung eines bestimmten, bei den verschiedenen Gruppen unterschiedlichen mechanischen Typs sehen wir eine fortschreitende Invasion des Gehirns und die Verbesserung des mechanischen Apparates in einem Anpassungsvorgang, an dem das Gehirn ganz offensichtlich beteiligt ist – aber nicht durch eine direkte Steuerung der physischen Anpassung, sondern indem es die Vorteile in der natürlichen Selektion der Typen bestimmt.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.81f.)

Der Selektionsdruck geht also nicht direkt vom Gehirn aus – insofern bleibt es nur eine Folge der Entwicklung des Körperapparates –, aber es bildet einen selektiven Vorteil, so daß seine Vergrößerung einer technischen Spezialisierung des Körperapparates – etwa im Sinne einer Zurückbildung der fünffingrigen ‚Hand‘ zum einzelnen ‚Finger‘ des Hufes beim Pferd – entgegenwirkt: „... die Paläontologen wissen schon seit langem, daß die am wenigsten spezialisierten Arten die zerebral fortgeschrittensten Formen hervorgebracht haben. Diese Sicht der Evolution ist geeignet, die engen Verbindungen zwischen den beiden Tendenzen sichtbar zu machen, zwischen der Tendenz des Nervensystems und der der mechanischen Anpassung.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.82)

Wo Plessner also das menschliche Bewußtsein an der Gegenüberstellung von  Körper und Gehirn festmacht und so den Körper zum Körperleib aufwertet, bleibt bei Leroi-Gourhan der Körper letztlich nur ein mechanisches Gehäuse, ähnlich einem Uhrwerk, das ein Gehirn beherbergt. Aber dennoch macht Leroi-Gourhan die „Intelligenz“ nicht am Gehirn selbst fest, sondern wiederum an einer körperlichen Verhältnisbestimmung: dem zweipoligen Verhältnis von Gesicht und Hand. Erst in dieser Verhältnisbestimmung zeigt sich die spezifisch menschliche Intelligenz: nicht im Gehirn selbst. Die Parallele zum Plessnerschen Körperleib besteht also in der „Dualität der facialen und manuellen Operationsfelder“ und in der „fundamentale(n) Verbindung von Greifen und Sehen“. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.366)

Sollte es eines Tages so weit kommen – und aus unserer heutigen Sicht, 50 Jahre nach dem Erscheinen von „Hand und Wort“, ist es bereits so weit gekommen –, daß die Exteriorisierung unserer Fähigkeiten auch die Intelligenz selbst exteriorisiert, dann verlassen wir endgültig das „Dreieck“ aus Hand, Sprache und sensomotorischem Kortex (vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.332), und wir haben eine Artgrenze überschritten: die des homo sapiens. Als solchen können wir uns dann nicht länger bezeichnen. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.318f.)

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