„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 15. August 2012

Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2011

1. Begriffe und Hypothesen
2. Methode
3. Selbst kommt hinzu
4. Körper und Gehirn
5. Bewußtsein und Rekursivität
6. Erziehung des Unterbewußten
7. Biologischer Wert und Kultur
8. Die Grenze des Körperleibs

Entsprechend dem englischen Originaltitel geht es in Damasios Buch vor allem darum, wie Bewußtsein bzw. das ‚Selbst‘ zum Geist hinzukommt und so aus einem bis zu diesem Zeitpunkt unbewußten Geistprozeß einen bewußten Geistprozeß macht: einen Selbst-Prozeß. (Vgl. Damasio 2011, S.24) Dieser Ansatz, ‚Geist‘ und ‚Selbst‘ als Prozesse zu beschreiben, hat mindestens drei, vielleicht sogar vier gute Gründe, – je nach dem, ob man die Subjekt-Objekt-Problematik noch einmal als zwei verschiedene Problematiken unterscheidet oder ob man sie als eine einzelne versteht.

Zunächst einmal hält Damasio schlicht fest: „Es gibt tatsächlich ein Selbst, aber es ist kein Gegenstand, sondern ein Prozess, und dieser Prozess läuft immer ab, wenn wir mutmaßlich bei Bewusstsein sind. “ (Damasio 2011, S.20) – Ich hatte diesen Sachverhalt schon in einem Post zu Northoff angesprochen, wo ich darauf hinwies, daß es ein Bewußtsein an sich nicht ‚gibt‘. (Vgl meinen Post vom 26.07.2012) Das Bewußtsein an sich hat keinen Ort, an dem es ‚ding‘-fest gemacht werden könnte. Es ist vielmehr in Form des „Ich denke“ nur ein Begleitphänomen, das – wie Damasios ‚Selbst‘ zum ‚Geist‘ – zu unseren Empfindungen und Wahrnehmungen hinzukommen muß, um sie bewußt werden zu lassen: „Wenn also nicht ein weiterer Prozess ergänzend hinzukommt, bleibt der Geist unbewusst. Was in einem solchen unbewussten Geist fehlt, ist ein Selbst. Um bewusst zu werden, muss das Gehirn eine neue Eigenschaft annehmen, die Subjektivität. Ein definierendes Merkmal der Subjektivität ist das Gefühl, das subjektiv erlebte Bilder durchtränkt.“ (Damasio 2011, S.22)

Das führt uns auch schon zum zweiten Grund, vom Geist und vom Selbst als Prozeß zu sprechen: diese Formulierung wirkt der Versuchung entgegen, das Selbst als eine Art Homunculus zu verstehen: „Die Selbst-Funktion ist kein allwissender Homunculus, sondern innerhalb des virtuellen Musterungsprozesses, den wir Geist nennen, das emergente Ergebnis eines weiteren virtuellen Elements: eines erdachten Protagonisten für unsere geistigen Vorgänge.“ (Damasio 2011, S.178)

Damasio beschreibt das am Beispiel eines Orchesters und seines Dirigenten. Der Dirigent sorgt dafür, daß alle die unbewußten Geistprozesse zu einem harmonischen musikalischen Ereignis zusammengeführt und koordiniert werden. Aber dieser Dirigent hat die Besonderheit, daß es ihn vor der Orchesteraufführung gar nicht gibt! Er entsteht vielmehr erst im Zuge der Orchesteraufführung: „Wenn sie dann aber läuft, ist der Dirigent da. Unter allen praktischen Gesichtspunkten wird das Orchester jetzt von einem Dirigenten geleitet, aber dieser Dirigent wurde durch die Aufführung – das Selbst – erschaffen und nicht andersherum.“ (Damasio 2011, S.35) – Wir haben es also mit einem virtuellen Begleitphänomen zu tun, das wie das Kantische ‚Ich denke‘ zu den Empfindungen und Wahrnehmungen hinzukommt, aus dem Nirgendwo, emergent, wodurch diese Empfindungen und Wahrnehmungen erst bewußt werden.

Das führt uns nun zur nächsten Problematik, – der Flüchtigkeit bzw. der Unauffälligkeit des Selbst-Prozesses: „Das Selbst-als-Subjekt, als Wissender, ist ein schwerer fassbares Gebilde; es lässt sich viel weniger unter geistigen und biologischen Begriffen subsumieren, ist dezentraler, löst sich oftmals im Bewusstseinsstrom auf und ist manchmal so entsetzlich unauffällig, dass es zwar noch da, aber auch fast nicht mehr da ist.“ (Damasio 2011, S.21) – Die Flüchtigkeit des zum Geist hinzukommenden Selbst bzw. des Kantischen „Ich denke“ ist sozusagen ein Merkmal seiner Haupteigenschaft, nur ein Begleitphänomen von Bewußtseinsprozessen zu sein. Der Selbst-Prozeß beinhaltet eben nicht mehr als eine bestimmte zusätzliche Dynamik, „einen zusätzlichen Dreh“, wie Damasio schreibt (vgl. Damasio 2011, S.17), der zu den bis dahin unbewußten Geist-Prozessen hinzukommt und sie bewußt werden läßt. Wir ‚merken‘ den Unterschied gar nicht, weil wir ja bis dahin unserer selbst unbewußt geblieben sind, und in dem Moment, wo wir da sind, also bewußt sind, gar nichts davon wissen können, wie es war, zuvor unbewußt gewesen zu sein.

Deshalb ist das hinzukommende Selbst, das „Ich denke“ ja auch gerade aufgrund seiner Unauffälligkeit paradoxerweise so „robust“ (vgl. Damasio 2011, S.217). Wir können es gar nicht in Zweifel ziehen, weil dieser Zweifel selbst notwendigerweise schon wieder einen selbstbewußten Akt, ein Hinzukommen des Selbst beinhaltet, wie wir von Descartes wissen. Ist es aktuell, sind wir bewußt. Ist es nicht aktuell, sind wir auch nicht bewußt; und: non cogito, ergo non sum!

Damit kommen wir nun zum vierten und damit letzten Grund, warum das Selbst einen Prozeß bildet und kein Ding darstellt. Wie schon die transzendentale Qualität des Kantischen „Ich denke“ andeutet, können wir das zum Unbewußten hinzukommende und es zum Bewußtsein transformierende Selbst nicht zum Gegenstand unserer Untersuchung machen, ohne es in ein beobachtendes und in ein beobachtetes Selbst zu spalten, was entweder zur Vorstellung eines Homunculus auf Seiten des beobachteten Selbst führt oder auf Seiten des beobachtenden Selbst einen unendlichen Regreß herbeiführt, in dem sich die Spaltung ins Unendliche fortsetzt. Letztlich läuft beides auf dasselbe hinaus, wie Damasio festhält: „Das gut untersuchte Problem, das der Homunculus aufwirft, liegt in dem damit geschaffenen unendlichen Regress.“ (Damasio 2011, S.213)

Damit aber fällt der vierte Grund in dieser Zählung mit dem zweiten Grund zusammen. Um jede Verdinglichung der Selbst-Bestimmung zu vermeiden, ist es einfach sinnvoller, vom Selbst-Prozeß zu sprechen.

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