„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 15. August 2012

Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2011

1. Begriffe und Hypothesen
2. Methode
3. Selbst kommt hinzu
4. Körper und Gehirn
5. Bewußtsein und Rekursivität
6. Erziehung des Unterbewußten
7. Biologischer Wert und Kultur
8. Die Grenze des Körperleibs

Antonio Damasio ist einer der wenigen Neurowissenschaftler, die ich bislang gelesen habe, die bei ihren Forschungen immer das ganze Spektrum des Menschlichen berücksichtigen. Außerdem hat er immer das Gehirn in ein Verhältnis zum ‚Fleisch‘, also zum übrigen Organismus gesetzt, – eine Verhältnisbestimmung, die an Plessners Körperleib erinnert. Dabei hat Damasio auch nicht versäumt, die Organismusblindheit seiner neurowissenschaftlichen Kollegen zu kritisieren.

In seinem neuen Buch mit dem schillernden Titel „Selbst ist der Mensch“ (2011) – der englische Originaltitel „Self Comes to Mind“ (2010) bringt die Sache wesentlich besser auf den Punkt – verweist Damasio jetzt auf einige Veränderungen seiner früheren Position: „... durch das Nachdenken über einschlägige alte und neue Forschungsergebnisse haben sich meine Ansichten insbesondere zu zwei Themen verändert: zu Ursprung und Wesen der Gefühle und zu den Mechanismen, die hinter dem Aufbau des Selbst stehen. Das vorliegende Buch ist der Versuch, die aktuelle Sichtweise zu erörtern. Und in nicht geringem Umfang handelt es auch davon, was wir noch nicht wissen, aber gern wissen würden.“ (Damasio 2011, S.18)

Die von Damasio angesprochenen Veränderungen lassen sich wohl vor allem auf die Verhältnisbestimmung von Gehirn und Geist beziehen, – also auf die bei Neurowissenschaftlern bevorzugte Korrelation von neuronalen Funktionen und Bewußtsein. Statt von ‚Korrelation‘ spricht Damasio von der „Hypothese“ einer „Äquivalenz von geistigen Zuständen und Gehirnzuständen“. (Vgl. Damasio 2011, S.329) Wo Damasio in seinen früheren Arbeiten noch zwischen neuronalen Funktionen und Bewußtseinsphänomenen unterschieden hat, indem er bei den einen von ‚Karten‘ und bei den anderen von ‚Bildern‘ gesprochen hatte, verwendet er diese Begriffe in seinem neuen Buch weitgehend synonym: „Früher habe ich den Begriff Bild ganz strikt nur als Synonym für mentale Muster oder mentale Bilder verwendet, und der Begriff neuronales Muster oder Karte bezeichnete ein Aktivitätsmuster im Gehirn im Gegensatz zum Geist. Damit wollte ich anerkennen, dass der Geist, den ich als Inhalt der Aktivität des Gehirngewebes betrachte, eine eigene Bezeichnung verdient, weil er ein ganz privates Erlebnis ist und weil dieses private Erlebnis genau das Phänomen darstellt, das wir erklären wollen.“ (Damasio 2011, S.76)

Aber so groß ist der Unterschied zwischen ‚früher‘, wo Damasio noch „getrennte Beschreibungsebenen“ für geistige und biologische Prozesse verwendete (vgl. Damasio 2011, S.76f.) und ‚heute‘, wo er von einer Äquivalenz dieser Prozesse ausgeht, letztlich doch nicht. Denn es ging ihm damals nur, wie Damasio schreibt, um eine Anerkennung der Privatheit von Bewußtseinsprozessen. ‚Privatheit‘ meinte aber auch damals schon nichts anderes als die weitgehende ‚Unzugänglichkeit‘ der Bewußtseinsprozesse für neurophysiologische Methoden der Beobachtung und Messung: „Sie sind zutiefst privat und für Dritte nicht zu beobachten.“ (Damasio 2011, S.81)

Wenn Damasio in seinem neuen Buch unter der hypothetischen Voraussetzung einer „Äquivalenz von Vorgängen in Geist und Gehirn“ (Damasio 2011, S.28) auf getrennte Beschreibungsebenen verzichten will, bedeutet das aber nun keineswegs, daß er diese Privatheit nicht nach wie vor anerkennt und respektiert: „Den bewussten Geisteszustand erleben wir aus der exklusiven, unmittelbaren Perspektive unseres eigenen Organismus, und er kann nie von irgendjemand anderem beobachtet werden. Das Erleben ist einzig und allein dem jeweiligen Organismus eigen und verfügbar.“ (Damasio 2011, S.169) – Allerdings haben wir es eben nicht mit einer substantiellen, sondern mit einer ethischen Differenz zu tun, die sich wiederum einer methodischen Insuffizienz gegenüber dem subjektiven Erleben verdankt. Deshalb genügt die Anerkennung der Privatheit von subjektiven Erlebenissen Damasio nicht mehr für die Beibehaltung einer eigenen begrifflichen Kategorie. ‚Privates‘ Erleben ist für die Begrifflichkeit einer neurophysiologischen Beschreibung von Bewußtsein unerheblich.

Dabei verzichtet Damasio allerdings nicht darauf, auf private Erlebnisse in Form von Introspektionen zurückzugreifen. Diese sind im Gegenteil – wie wir im nächsten Post noch sehen werden – Teil seiner um eine vierte Sichtweise erweiterten ‚Triangulation‘ (vgl. Damasio 2011, S.183; vgl. auch „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.25). Wir brauchen sie, weil „Introspektion den einzigen unmittelbaren Blick auf das ermöglicht, was wir erklären möchten“ (vgl. Damasio 2011, S.107).

Letztlich hat sich also in dieser Hinsicht zwischen früheren Veröffentlichungen und dem aktuellen Buch von Damasio scheinbar nicht viel geändert. Aber die Reduktion der Beschreibungsebenen auf eine neurophysiologisch dominierte Begrifflichkeit ist dennoch nicht folgenlos. Das ‚Gehirn‘ avanciert vom Beschreibungssubjekt zum Handlungssubjekt (vgl. meinen Post vom 04.03.2011); d.h. es werden Sätze formuliert, in denen dem Gehirn in der Subjektposition Handlungsprädikate zugeordnet werden. So heißt es z.B.: „Dieses Buch beschäftigt sich mit zwei Fragen. Erstens: Wie baut das Gehirn einen Geist auf? Und zweitens: Wie sorgt das Gehirn in diesem Geist für Bewusstsein?“ (Damasio 2011, S.17) – Es ist also das ‚Gehirn‘, das Handlungen ausführt, zu denen eigentlich Bewußtsein gehört. Aber da beides ja äquivalent ist, kommt es eben auf diesen Unterschied nicht mehr an. Ein phylogenetisch und ontogenetisch verschränkter, höchst komplexer Prozeß der Bewußtwerdung wird darauf reduziert, daß das Gehirn etwas ‚tut‘.

Damasio weist sogar eigens darauf hin, daß er das Gehirn „mit voller Absicht“ als Subjekt in Handlungsstrukturen einbaut. (Vgl. Damasio 2011, S.185) Damit hebt er die Bedeutung des „riesige(n) Unbewussten“ (Damasio 2011, S.187) hervor, für das das Gehirn nun stellvertretend steht und seine Handlungen des Bewußtseinsaufbaus ausführt. Aber aus der Reduktion der Beschreibungsebenen ergeben sich noch weitere, vor allem begriffliche Folgen. Damasio kehrt die traditionelle Verhältnisbestimmung von ‚Geist‘ und ‚Bewußtsein‘ um. Bei Plessner z.B., der noch zwischen Körper, Seele und Geist differenziert (vgl. meine Posts vom 30.01.2012 bis zum 06.02.2012), bildet der Geist die höchste, die individuelle Ebene transzendierende Form der menschlichen Person. Auf der Ebene des Geistes, die wir z.B. mit der Wissenschaft gleichsetzen können, sind alle Individuen gleich. Hier zählt nur die Leistung, die wir zum Geist bzw. zum Wissen beitragen, und nicht Herkunft oder Besitz oder Religion etc. Individuelle Unterschiede zählen nicht.

‚Geist‘ ist also bei Plessner ein spezieller Zustand des Bewußtseins, den er auch als repräsentatives Bewußtsein bezeichnet, im Unterschied zum präsentischen Bewußtsein, das die körperleiblichen Zustände umfaßt und das Plessner auch als ‚Seele‘ beschreibt. Damasio kehrt diese an traditionelle Unterteilungen orientierte Zuordnung des Geistes um. ‚Geist‘ ist bei ihm der umfassendere Begriff, der weiter zurückreicht als das Bewußtsein, sowohl in ontogenetischer wie in phylogenetischer Hinsicht. ‚Geist‘ umfaßt bei Damasio das individuelle Unbewußte wie auch Stufen der biologischen Evolution, die bis zu den Insekten und Fischen hinabreichen, sobald nur eine frühe und primitive Form des Gehirns in Erscheinung tritt. ‚Geist‘ geht als „dynamischer Prozess“ aus der „Geschichte der Lebenssteuerung“ hervor: „Er beginnt bei den einzelligen Lebewesen, beispielsweise den Bakterienzellen oder einfachen Amöben, die kein Gehirn besitzen, aber zu angepasstem Verhalten in der Lage sind. Seine Fortsetzung findet er bei Individuen, deren Verhalten – wie beispielsweise bei den Würmern – von einem einfachen Gehirn gesteuert wird, und dann führt sein Weg zu Organismen, deren Gehirn sowohl Verhalten als auch Geist erzeugt (Beispiele sind hier Insekten oder Fische). Ich glaube gern, dass Lebewesen immer dann, wenn ihr Gehirn ursprüngliche Gefühle erzeugt – was in der Evolutionsgeschichte schon sehr früh der Fall gewesen sein könnte –, zu einer frühen Form von Empfindungsfähigkeit in der Lage sind. Von da an kann sich ein organisierter Prozess des Selbst entwickeln, der zum Geist hinzukommt und damit den Grundstein für einen höher entwickelten, bewussten Geist legt.“ (Damasio 2011, S.37f.)

Das Bewußtsein kommt erst auf der Ebene der Vögel und Säugetiere zum Geist hinzu, noch nicht bei allen in Form eines bewußten Selbst – hier zählt Damasio nur einige Arten auf: „Wölfe, unsere Menschenaffenvettern, Meeressäuger und Elefanten, Katzen und natürlich jene außergewöhnliche Spezies, die als Haushund bezeichnet wird.“ (Damasio 2011, S.38) – Aber bei den meisten Vögeln und Säugetieren finden wir doch schon ein Protoselbst und Ansätze für ein Kern-Selbst vor.

Entscheidend ist hier aber, daß bei Damasio das Bewußtsein zum Geist hinzukommt und nicht – wie z.B. bei Plessner – der Geist zum Bewußtsein. Damit umgeht Damasio die Notwendigkeit, von einer Zwischenstufe wie der Seele sprechen zu müssen. Es ist eben schon alles Geist, so wie ‚Geist‘ immer schon nichts anderes als ‚Gehirn‘ ist.

Für die Ebene des Bewußtseins, die bei Plessner mit dem Begriff der ‚Seele‘ beschrieben wird, hat Damasio die Begriffe der „Emotion“ und des „Gefühls“. Nun könnte man hier vielleicht denken, daß es letztlich unerheblich sei, ob ich nun von ‚Seele‘ spreche oder von ‚Emotionen‘ und ‚Gefühlen‘. Das stimmt aber nicht. Emotionen und Gefühle sind bei Damasio physiologische Prozesse, wobei die Emotionen für physiologische Veränderungen des Organismus stehen. Dann gibt es noch die „ursprünglichen Gefühle“, die für den Körper selbst (Protoselbst) stehen. Die Gefühle wiederum bilden den bewußten Teil unserer Emotionen und gehören zum Kern-Selbst. Entscheidend ist, daß wir es bei Emotionen und Gefühlen mit Geist zu tun haben, mal unbewußt, mal bewußt. Es gibt nur die Differenz zwischen Körper (Emotionen und Protoselbst) und Bewußtsein (Gefühle und bewußter Geist). Beide Ebenen lassen sich auf physiologische bzw. neurophysiologische Prozesse zurückführen. Es gibt keine seelische und geistige Differenz, die eine eigene Beschreibungsform in Anspruch nehmen würde.

Dennoch halte ich Damasios Hypothesen-‚Gerüst‘ (vgl. Damasio 2011, S.30ff.) für ein hoch interessantes Konstrukt, das die Möglichkeit bietet, Plessners dreigliedrige Bewußtseinsbestimmung weiter auszudifferenzieren. Damasios Grundprinzip der Bewußtseinsentwicklung, das er an grundlegenden homöostatischen Funktionen (Mechanismen der Lebenssteuerung) des Organismus festmacht, entspricht Plessners ebenfalls anhand von Stoffwechselprozessen beschriebener Doppelaspektivität von Innen und Außen. In den folgenden Posts soll u.a. gezeigt werden, wie hier seelische und geistige Mechanismen ineinandergreifen und wechselseitig aufeinander einwirken. Dadurch läßt sich Plessners Begriff der syntagmatischen Gliederung ausbauen und das diesbezügliche Verständnis vertiefen.

Schließlich wird es in den folgenden Posts aber auch darum gehen, zu zeigen, inwiefern bei Damasios Verhältnisbestimmung von grundlegenden und soziokulturellen Homöostasen wesentliche Aspekte des menschlichen Bewußtseins verfehlt werden. An deren Stelle tritt bei Damasio eine funktionale Zweck-Mittel-Bestimmung biologischer Werte, die – anders als Damasio es sich vorstellt – nicht einfach durch immer komplexere Aufstufung schließlich auch die Sinnhaltigkeit der kulturellen Sphäre im vollen Umfang umfassen können.

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