„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 9. Juni 2012

Rekursivität bei Pratchett, in der Psychoanalyse und als Redewendung

In einem meiner Posts zu Schrott/Jacobs (vom 25.07.2011) war schon mal die Rede davon gewesen, daß die rein logisch unendliche Rekursivität (ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß ...) beim Menschen intellektuelle Grenzen hat: er kommt gerade mal bis zur fünften Stufe und übertrifft damit immerhin die Schimpansen, die nur bis zur zweiten oder dritten Stufe kommen. Um zu veranschaulichen, was es mit der Rekursivität im Lebensalltag auf sich hat, habe ich auch schon mal einen Post geschrieben. (Vgl. meinen Post vom 21.02.2012) Dem möchte ich in diesem Post noch einige weitere Beispiele hinzufügen.

Daß der Mensch generell nur bis zur fünften rekursiven Stufe des wechselseitigen Wissens voneinander gelangt, gilt, wie man bei Terry Pratchett nachlesen kann, nicht für den Patrizier von Ankh-Morpork, der das rekursive Spiel anscheinend tatsächlich bis ins Unendliche treiben kann. Bei einem heimlichen Besuch in einer verfeindeten Stadt gibt sich der Patrizier als Gaukler aus und jongliert vor den mißtrauischen Wächtern der Stadt mit vier Melonen und drei Messern, die dann, also die Melonen, am Ende säuberlich zerlegt auf dem Boden landen, während die drei Messer vor den Sandalen der Wächter im Boden stecken bleiben. Die Wächter sind angemessen beeindruckt und lassen den Patrizier mitsamt seiner Gauklertruppe weiterziehen. Als ihn einer der verkleideten Gaukler fragt, wie er das mit dem Jonglieren gemacht hat, antwortet der Patrizier:

„Soll das heißen, du kannst es nicht, Feldwebel?“
„Nein, Herr!“
„Seltsam. Eigentlich ist gar nicht viel dabei. Man weiß, wo sich die Objekte befinden und wohin sie fliegen. Man muß nur dafür sorgen, daß sie die richtigen Positionen in Raum und Zeit einnehmen.“ Und er fügt hinzu:
„Glaub mir, Feldwebel: Im Vergleich zu Ankh-Morpork ist es kaum der Rede wert, einige fliegende Gegenstände unter Kontrolle zu halten.“

Der Vergleich, den der Patrizier hier zwischen dem Jonglieren mit Gegenständen und dem unter Kontrolle Halten einer ganzen Stadt zieht, beinhaltet die Notwendigkeit, immer zu wissen, was die Bürger von Ankh-Morpork und ihre Interessensvertreter gerade wollen, was sie voneinander glauben, was jeder gerade will, was sie voneinander glauben, was die jeweils anderen von einem selbst wissen, was man gerade will, und was sie darüber hinaus glauben, vom Patrizier zu wissen, was er über sie weiß, wobei sie nie genau wissen, was er gerade will. Und da der Patrizier bei dieser Gelegenheit auch seine erstaunlichen Fähigkeiten beim Hütchenspiel mit drei ausgehöhlten Melonenhälften und einem Hühnerei demonstriert hatte, ergänzt er: „Und in der Politik, Feldwebel, ist es immer wichtig zu wissen, wo sich das Huhn befindet.“ („Fliegende Fetzen“ (1997/1999), S.317) – Wobei das Huhn möglicherweise derjenige ist, der den anderen das Ei unter die Melonenhälften ‚legt‘, hinter dem dann alle her sind.

Ein anderes Beispiel für Rekursivität bieten Pratchetts Tiffany-Aching-Romane. In „Kleine freie Männer“ besteht Tiffany gefährliche Abenteuer im Feenreich. Dabei geht es um Tiffanys Fähigkeit, zwischen verschiedenen Bewußtseinsebenen zu wechseln, was als erster, zweiter und dritter Blick beschrieben wird. Verbildlicht wird das mit einem einigen Kapiteln vorangestellten mal geöffneten, mal geschlossenen Auge. Es geht also um Einschlafen und Aufwachen und wie dabei jeweils die Realitätsebene gewechselt wird. Wenn Tiffany einschläft, verliert sie die Kontrolle über ihre Blicke, und die Feenkönigin übernimmt die Kontrolle. Wenn Tiffany ‚aufwacht‘, ist sie in der Lage, die wahre Situation, also die ‚Realität‘, zu durchschauen und sich der Feenkönigin zu widersetzen. Das Feenreich steht also für das Einschlafen und für das Schließen der Augen und dafür, das Aufwachen zu verhindern.

Dabei ist es wichtig, daß der erste und der zweite Blick (und wahrscheinlich auch der dritte Blick) sich wechselseitig kontrollieren. Es ist oft der erste Blick, der die Wirklichkeit so wahrnimmt, wie sie wirklich ist, und erst der zweite Blick fügt Täuschungen hinzu, Selbsttäuschungen oder auch Manipulationen durch andere wie z.B. der Feenkönigin. Aber es ist der zweite Blick, der Tiffany den Weg in das Feenreich öffnet, weil der erste Blick für die Realitäten des Feenreiches blind ist. Und der dritte Blick wiederum wartet wachsam im Hintergrund auf seine Gelegenheit, wenn die anderen Blickebenen versagen, wiederum aufgrund der Macht der Feenkönigin, und eröffnet einen weiteren Freiraum des Sehens. Und wiederum im Innersten von Tiffany befindet sich ein letzter Raum, ein Versteck, in das sie sich zurückzieht, als die Feenkönigin alle anderen Bewußtseinebenen besetzt hält, um von dort aus einen letzten, diesmal siegreichen Gegenangriff zu starten.

Dabei eröffnet Pratchett übrigens einen Blick in die Tiefen der Erdgeschichte: Tiffanys letztes Versteck ist das Land, dem sie ihre hexischen Gaben verdankt. Wir haben es also mit einem Blick in evolutionäre Zeiträume zu tun; insofern Tiffany von dort letzte, unüberwindliche Kräfte zuströmen, handelt es sich dabei um eine weitere rekursive Perspektive.

Ganz ähnlich wie Tiffany hat auch Sam Vimes, der Kommandeur der Stadtwache von Ankh-Morpork, einen inneren Wächter, eine ‚innere‘ Polizei, die auf den Polizisten aufpaßt, damit er seine Macht nicht mißbraucht. Und als einmal eine Schwarmintelligenz auf das Bewußtsein von Sam Vimes zuzugreifen versucht, flieht dieser innere Wächter durch die ‚Straßen‘ und ‚Häuser‘ seiner inneren ‚Stadt‘, alles wiederum Beispiele für das rekursive Spiel, das auch der Patrizier so meisterhaft beherrscht.

Ein anderes Beispiel für Rekursivität bildet die Psychoanalyse: der Patient, der auf seiner Couch liegt, und der Arzt, der ‚hinter‘ ihm auf seinem Stuhl sitzt. Immer wenn der Patient den Arzt anspricht, antwortet dieser mit einer Gegenfrage: „Was meinen Sie damit?“, oder er trägt zu den Selbstberichten des Patienten Floskeln bei, wie: „Wie fühlten Sie sich dabei?, „Was ging da in Ihnen vor?“ etc. Mit diesen ‚Rückmeldungen‘, die niemals irgendeinen Kommentar oder eine Bewertung oder eine Schlußfolgerung enthalten, also völlig inhaltsleer sind, schickt er den Patienten wieder auf die rekursive Reise ins Innere seiner selbst, um aus den Brunnentiefen auch noch das Letzte herauszuholen, was immer sich dort unten befinden mag. Auch dies ist ein potentiell unendliches rekursives Spiel in das eigene Bewußtsein hinein.

Ein weiteres Beispiel ist die Redewendung eines bekannten Kabarettisten: „Ich weiß nicht, ob Sie es schon wußten ...“, um dann gleich eine seine Geschichten zum Besten zu geben, egal, ob wir es nun schon wußten oder auch nur wissen wollen oder nicht.

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