„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 10. September 2011

Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007

1. Der aufrechte Gang: Horizont versus Reflexbogen
2. Bewußtsein als ‚langsame Kognition‘
3. Unbesetzte Subjektpositionen: Ideen als Metaphern
4. Verstehen als Kontextphänomen

Bei aller prinzipiellen Verschiedenheit von Schwarm-‚Intelligenz‘ und individuellem Bewußtsein gibt es doch eine Analogie in der Erscheinungsform. Diese Analogie bezieht sich vor allem auf die Frage, wie Verstehen zustandekommt: also in bezug auf Lernprozesse, und dabei denke ich keineswegs ans Auswendiglernen! Auf welch mühsame und umständliche Weise auch immer wir zu einem Verständnis uns bislang unbekannter Phänomene gelangen, also zu neuem Wissen, – der letztliche Effekt des Verstehens tritt immer plötzlich ein. Es ‚emergiert‘ auf die seltsamste Weise aus einem Irgendwo, oft wenn wir uns gerade nicht mehr mit der Sache beschäftigen, um die es gerade geht, beim Abwaschen, Einkaufen, Musizieren oder wortwörtlich: im Schlaf.

Woher kommt also dieses Verstehen? Schwärme könnten darauf eine Antwort gehen, denn wie diese ist plötzliches Verstehen ein Kontextphänomen. Wie ein Schwarm stellt sich das Verstehen in unser Bewußtsein ein und bildet gleichsam aus dem Nichts eine anschauliche ‚Gestalt‘. Plötzlich macht das, was wir bislang partout nicht verstehen konnten, einen Sinn. Das läßt sich sehr schön an der Funktion der Metapher zeigen, wie sie Blumenberg in seiner „Theorie der Unbegrifflichkeit“ beschreibt. Das Verstehen von Metaphern bildet geradezu das Paradigma für Verstehensprozesse aller Art.

Blumenberg beschreibt Metaphern als Kontextphänomene. Kontexte wiederum beschreibt Blumenberg als Sinnzusammenhänge, die ein bestimmtes Verstehen von Sätzen nahelegen. (Vgl. Blumenberg 2007, S.61ff.) Wir haben es also wie bei Tomasello mit einer Art „extravaganter Syntax“ zu tun (vgl. meinen Post vom 27.04.2010), die die Syntax von Subjekt und Prädikat auf der Satzebene ergänzt und oft genug überhaupt erst verstehbar macht. Nun gibt es Kontexte, die so vielschichtig geschachtelt sind, wie z.B. in Bildungs- oder Fantasyromanen, daß den Sätzen, egal wie oft wir sie lesen, immer wieder neuer, unerwarteter Sinn zuwächst. In diesen Kontexten werden alltäglich erscheinende Ereignisse zu Gleichnissen – nach Blumenberg eine „Entfaltungsform der Metapher“ (vgl. Blumenberg 2007, S.62) – für dämonische, erheiternde, besinnliche etc. Einsichten, oder umgekehrt werden außerordentliche, erschreckende Ereignisse zu Gleichnissen für skurrile und kleinbürgerliche Verschrobenheiten unseres Alltags. Wie und wo auch immer diese Metaphern im Text verteilt ‚auftauchen‘, – sie stellen, so zitiert Blumenberg einen Linguisten, „semantische Anomalie(n)“ eines Kontextes dar. (Vgl. Blumenberg 2007, S.61) Und Blumenberg selbst hält fest: „Zunächst ist sie, in einem Text gegeben, eine Störung des Zusammenhanges ...“ (Blumenberg 2007, S.61) – Als diese ‚Störung‘ erweisen Metaphern sich übrigens als ein genuines Bewußtseinsphänomen. (Vgl. meinen Post vom 07.09.2011)

Am letzten Zitat wird nun allerdings eine Differenz zu Tomasellos extravaganten Syntax sichtbar: Wo bei Tomasello die extravagante Syntax zum leichteren Verstehen komplexer Erzählstrukturen beiträgt, erschwert die Metapher dieses Verstehen. Zumindestens auf den ersten Blick. Ist diese Verzögerung im Verstehensprozeß erst einmal eingetreten und werden wir zu einem zweiten Blick auf die betreffende Textstelle veranlaßt, werden wir im Erkennen der Metapher auf eine neue Verstehensebene gehoben. Erst die Metapher ermöglicht also den Tiefenhorizont verschachtelter Sinnstrukturen in der Literatur.

Die Metapher bewirkt nämlich etwas in bezug auf den Kontext, aus dem sie herausfällt. Wir haben ein bezeichnendes Wechselverhältnis zwischen Kontext und Metapher. Zunächst einmal wird die Metapher nur in Kontexten möglich, die – so Blumenberg – „schwach“ determiniert sind: „Zweifellos nutzt die Metapher im Kontext eine Stelle schwacher Determination aus, um sich anstelle dessen zu setzen, was der im Kontext implizierten Erwartung genügen würde.“ (Blumenberg 2007, S.61) – In diesem Sinne wären Werke der schönen Literatur – wie die erwähnten Bildungs- und Fantasyromane – schwache Kontexte. Sie ermöglichen ein weites Spektrum an Sinnverstehen. Hier können Metaphern ihr volles Potential entfalten, während sie in stark determinierten Kontexten wie z.B. Gesetzestexten keine Chance haben. (Vgl.ebd.)

Andererseits gibt es „bestimmte Ausdrücke“, so Blumenberg, die wiederum selbst „eine besonders schwache Kontextdetermination erzeugen“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.61) Das Wort „Sokrates“ hat z.B. von vornherein einen relativ stark determinierten Kontext. Fügt man ihm noch das Prädikat „der junge ...“ oder „der platonische ...“ hinzu, sind die Erwartungen des Lesers hinsichtlich dessen, was da noch kommen mag, schon festgelegt. (Vgl.ebd.) Stelle ich aber das Wort „Geschichte“ an den Anfang eines Satzes, kann praktisch alles Mögliche folgen. Der Kontext, den dieses Wort mit sich führt, ist also nur schwach determiniert. (Vgl. Blumenberg 2007, S.61f.)

Der einen schwachen Kontext erzeugende Begriff der Geschichte ist nun, so Blumenberg aus einem „seiner metaphorischen Prädikate“ erwachsen, so daß er „aus den Historien, die erzählt werden, die Historie macht, die in allen Erzählungen nicht mehr aufgeht, durch kein Erzählen vollends integriert und objektiviert werden kann.“ (Blumenberg 2007, S.66) Kontextschwache Ausdrücke wie „Geschichte“, die sich selbst wieder aus einem metaphorischen Feld herausheben, werden also nicht nur durch Kontexte ermöglicht, sondern sie ermöglichen auch wiederum Kontexte, nämlich, wie schon gesagt, ihre Staffelung in verschiedenen Ebenen und Sinnhorizonten. Metaphern können also gleichermaßen aus lebensweltlichen wie narrativen Kontexten ‚herausfallen‘ wie sie Kristallisationskeime für neue Sinnkonstellationen bilden können. Letztlich wird am Verstehen von Metaphern modellhaft deutlich, wie Verstehen überhaupt funktioniert. So wie wir Metaphern plötzlich verstehen, nach einer ‚Störung‘, die uns im bisherigen problemlosen Verstehen eines Textes innehalten läßt, ‚fällt‘ uns auch in Lernprozessen aller Art – außer dem Übungs- und Auswendiglernen – plötzliches Begreifen ‚zu‘, – trotz aller vorangegangenen Anstrengungen wie ein Zufall.

Aber dann kommt es wohl letztlich nicht auf das bewußte Verstehen an? Könnte dann nicht auch – um auf den Vergleich mit der Schwarmintelligenz zurückzukommen – die Manipulation von Menschenmassen als Verstehensprozeß beschrieben werden? Es ist aber doch wohl eher anders herum so, daß Massen den Einzelnen vom Kontext trennen. Die Masse tritt an die Stelle des Kontextes und wird zum ausschließlichen Kontext des verkollektivierten Einzelnen.

Wenn Blumenberg Platons Höhle als „eine Sphäre der dichtesten Abschirmung von der Realität“ bezeichnet (vgl.S.109), dann trifft genau das eben auch auf die Masse zu. Die Analogie zwischen Massen bzw. Schwärmen und dem Verstehen besteht ausschließlich in ihrer Erscheinungsform, – sie emergieren, und das macht sie zu Kontextphänomenen. Die Medien des Schwarms mögen nun Hardware, Software oder Wetware sein. Das Medium des Verstehens ist ausschließlich das individuelle Bewußtsein.

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