„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 6. September 2011

Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007

1. Der aufrechte Gang: Horizont versus Reflexbogen
2. Bewußtsein als ‚langsame Kognition‘
3. Unbesetzte Subjektpositionen: Ideen als Metaphern
4. Verstehen als Kontextphänomen

Hans Blumenbergs Anthropologie besteht in einer Theorie des aufrechten Gangs. Ich hatte schon in meinem Post vom 08.08.2010 dazu angemerkt, daß ihn diese Anthropologie nicht zu einer Berücksichtigung der Physiologie der menschlichen Sinnesorgane führt, so daß der Körperleib bei Blumenberg, anders als bei Plessner, letztlich keine Rolle spielt. In seinem Buch „Theorie der Unbegrifflichkeit“ wird nun auch deutlich warum. Mit der Aufrichtung des Menschen um 90̊ in die Vertikale werden Blumenberg zufolge, zumindestens tendenziell, sämtliche Sinnesorgane mit Ausnahme des Gesichtssinns ihres Gegenstandes beraubt: „Der Mensch, das Wesen, das sich aufrichtet und den Nahbereich der Wahrnehmung verläßt, den Horizont seiner Sinne überschreitet, ist das Wesen der actio per distans. Er handelt an Gegenständen, die er nicht wahrnimmt.“ (Blumenberg 2007, S.10)

„Gegenstände(), die er nicht wahrnimmt“, heißt zunächst nichts anders als Gegenstände, die er nicht mit den Händen berühren oder mit der Zunge schmecken kann, und die er auch nicht mehr riechen oder hören können muß, weil es von nun an reicht, daß er sie von weitem herannahen sieht, um ihnen frühzeitig auszuweichen. (Vgl. Blumenberg 2007,  S.10f., 26) Und in der Linie dieser Entsinnlichung der Wahrnehmung liegt dann eben auch die Ausrichtung des Blicks auf nicht-sinnliche Gegenstände, die prinzipiell nicht wahrgenommen werden können; man braucht nur die 90̊-Aufrichtung durch Zurücklehnen des Kopfes um weitere 90̊ aufzustocken, so daß mit dem Anblick des Sternenhimmels zum erstenmal Ideen Einzug in den Denk-‚Horizont‘ des Menschen halten können. (Vgl. Blumenberg 2007, S.15)

Der aufrechte Gang brachte Blumenberg zufolge also vieles mit sich: die Fähigkeit zur Negation und zur Abstraktion, die letztlich nur ein anderes Wort für Negation ist (vgl. Blumenberg 2007, S.75-79), die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken und dabei die Fülle der Möglichkeiten mit der „Armut des Wirklichkeitsbezuges“ (vgl. Blumenberg 2007, S.88) zu konfrontieren und nicht zuletzt die Wirklichkeit selbst wiederum in eine „ästhetische Fiktion“ zu verwandeln (vgl. Blumenberg 2007, S.29), die wir jetzt nicht mehr zu fürchten brauchen, sondern genießen können, gewissermaßen eine Rückkehr aus der Entfremdung in eine neue, nicht mehr durch Angst und Furcht bestimmte Sinnlichkeit (vgl. Blumenberg 2007, S.27). Alle diese Fähigkeiten, die Blumenberg aus der „Selbstaufrichtung“ des Menschen (vgl. Blumenberg 2007, S.19) ableitet, faßt Blumenberg unter der Sammelbezeichnung der „Prävention“ zusammen, die er als anthropologisches Prinzip für weit aussagekräftiger hält als Arnold Gehlens Begriff der „Entlastung“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.26-31)

Der aufrechte Gang bedeutet im Prozeß der Menschwerdung also vor allem einen Raumgewinn, eine Distanzierung der auf der Haut liegenden, unter die Haut kriechenden, lebensbedrohenden und angsteinflößenden Wirklichkeit in Richtung auf einen Horizont, vor dem sich von nun an tödliche Bedrohungen von ferne her ankündigen, bevor sie einen erfassen und vernichten können. Dieser Raumgewinn wird bei Blumenberg nun immer wieder an den verschiedensten Stellen des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses aufgegriffen. Im wesentlichen geht es darum, daß dieser ‚Raum‘ einen Spielraum des Bewußtseins dort eröffnet, wo es bis dahin nur den Reflexbogen der Nahbereichssinnesorgane gab. Der Gesichtssinn erspart es uns, zu „riechen“ und zu „schmecken“, als „Begleitsinne des Fressens“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.26) Er erspart es uns also, unter der ständigen Drohung, selber gefressen zu werden, nichts anderes tun zu können als immer nur zu fressen oder zu flüchten.

Auf die kürzeste Form des Reflexbogens gebracht, brauchen wir nur an den Pawlowschen Hund zu denken, der in einer behavioristischen Versuchsanordnung der ganzen Spielweite seines hundegemäßen Verhaltensrepertoires beraubt nur noch dazu in der Lage war, beim Anblick des Fressens und beim Hören eines Glockentons Speichel abzusondern. Aber auch bezogen auf die ganze Spannbreite seines artgemäßen Verhaltens wäre seine Welt ihm nur ein Aktionsfeld voller Signale gewesen; denn Plessner zufolge ist dem Bewußtsein der Tiere noch nicht die Negationsleistung zuzusprechen, die individuelle Gegenstände aus diesem Aktionsfeld herauszulösen und zu isolieren vermag. Tiere haben es Plessner zufolge deshalb nur mit Feldverhalten zu tun, die noch nicht zu Sachverhalten werden können. (Vgl. meinen Post vom 24.10.2010)

Ganz ähnlich argumentiert hier Blumenberg. Der aufrechte Gang führt über den Gesichtssinn zu einer Unterbrechung des Reflexbogens, für den die Welt nur aus Reaktionen auf Signalen besteht; und in diesen Zwischenraum, in diese Verzögerung rascher Reaktionsleistungen nistet sich nun das Bewußtsein ein. Es besetzt den leeren Raum und füllt ihn mit neuen Gegenständen, die Möglichkeiten beinhalten, weil sie noch keine unmittelbare Antwort des Handelns erfordern. Sie stellen mögliche Wirklichkeiten dar, die noch nicht da sind, eine Zukunft, die erst noch auf uns zukommt. Der Mensch wird so, Blumenberg zufolge, zu einem „Wesen“, das „nicht so sehr ... der Erinnerung fähig()“ als vielmehr „auf Prävention eingestellt()“ ist: „... es sucht zu bewältigen, was noch gar nicht unmittelbar ansteht.“ (Blumenberg 2007, S.12)

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