„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 17. April 2011

Urteilsfreiheit und Statistik

Vorweg: Ich habe keine Ahnung von Mathematik, und Statistik ist mir so suspekt wie anständigen Naturwissenschaftlern die Esoterik. Während der Schulzeit empfand ich Mathematik als eine kognitive Form der Folter, vergleichbar mit der Gehirnwäsche. Erst im relativ ‚hohen‘ Alter von 30 oder mehr fing ich an, den philosophischen Nutzen mathematischer Fragestellungen zu schätzen, z.B. die Verhältnisbestimmung der Diagonale zur Seite eines Quadrates als eine Metapher für die Lehrbarkeit von Tugend, wie sie in Platons „Menon“ ‚hergeleitet‘ wird. Als ich diesen Zusammenhang zwischen Arithmetik, Geometrie und Ethik zum ersten Mal begriff (wie gesagt mit Anfang oder Mitte 30), fiel es mir wie Schuppen von den Augen, was ich in der Schulzeit versäumt hatte. Hätten uns unsere Lehrer damals Mathematik als eine Schulung des Denkvermögens nahegebracht, wäre zumindestens ich ein eifrigerer Schüler gewesen.

Was meine mathematischen Kompetenzen betrifft, sind meine folgenden Überlegungen also mit Vorsicht zu genießen. Dennoch fühle ich mich gedrängt, mich hier auf dieses Glatteis zu begeben. Ich denke, es ist nicht falsch, wenn ich die Statistik als eine Methode verstehe, die das ‚Verhalten‘ nicht von Individuen, sondern von Mengen beschreibt, und zwar in bezug auf beliebige ‚Größen‘. Wenn wir z.B. die Menge eines bestimmten Jahrgangs von Abiturienten nehmen und die Bezugsgröße eines bestimmten Produkts desselben Jahrgangs, z.B. Lippenstifte, so hat beides nichts miteinander zu tun, aber man kann sie trotzdem miteinander vergleichen.

Man sieht schon: ich habe wirklich nicht viel Ahnung von Statistik. Also vergessen wir lieber gleich wieder diesen unsinnigen Vergleich und halten einfach fest, daß es um das ‚Verhalten‘ von Mengen geht. Nehmen wir wieder ein Beispiel: Werfen wir einen Würfel, so haben wir eine Menge von sechs möglichen Ergebnissen und können nun die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Ergebnis berechnen, z.B. daß die Eins oben liegt. Es würde aber überhaupt keinen Sinn machen, wenn wir statt eines Würfels eine Kugel nähmen, um nun darauf zu ‚wetten‘, welche Seite oben liegen bleibt. Bei einer Kugel gibt es nur ein mögliches Ergebnis. Um eine Wette zu riskieren, müßten wir wenigsten eine Münze mit zwei Seiten, also mit zwei möglichen Ergebnissen haben, sonst funktioniert das mit der Statistik einfach nicht.

Die Kugel können wir nun als Metapher für das Individuum nehmen, denn nicht nur auf Kugeln, sondern auch auf Individuen können wir die Statistik nicht anwenden. Warum nicht?

Ich möchte hier nochmal einen Umweg über Einstein und seine Probleme mit der Quantenmechanik machen. Von der Quantenmechanik habe ich auch keine Ahnung, – noch weniger als von der Mathematik oder der Statistik. Also paßt das.

Einstein hatte also ein Problem mit der Quantenmechanik. Warum? Weil die Quantenmechanik nur zu statistischen Aussagen über die Zustände im atomaren und subatomaren Bereich kommt. Einstein behauptete rigoros: Gott würfelt nicht! Ich vermute, Einstein war ebenfalls der Meinung, daß die Statistik sich auf das Berechnen von Mengen beschränken und sich nicht auf den Bereich von ‚Individuen‘ erstrecken sollte. Und Atome sind ja in gewisser Weise Individuen, insofern sie ihrer ursprünglichen Definition nach unteilbar sein sollten. Schlicht gesagt hatte Einstein wohl ein moralisches Problem damit: denn er hatte ja auch ein Problem damit, Atomkerne zu spalten (siehe ‚Atombombe‘). Also: weder Individuen noch Atomkerne sollte man spalten. – Basta!

Wahrscheinlich übertreibe ich hier gerade ziemlich. Aber etwas in dieser Art wird es wohl gewesen sein, was Einstein Unbehagen bereitete. Jedenfalls läuft es auch darauf hinaus, daß falsch angewandte Methoden – und damit ist vor allem gemeint, daß die Methoden selbst falsch sind, weil sie auf das betreffende Objekt nicht angewandt werden dürfen – immer irgendetwas Schlimmes oder gar Katastrophales zur Folge haben. Und aus einer Statistik, die nicht auf Mengen, sondern auf Individuen angewandt wird, kann einfach nichts Gutes resultieren.

Ein Beispiel für so eine falsch angewandte ‚Statistik‘ ist die liberale Interpretation der marktwirtschaftlichen Mechanismen. Nach dieser liberalen Interpretation brauchen sich die Individuen nicht moralisch oder am Gemeinwohl orientiert zu verhalten, was eine entsprechende eigenständige moralische Urteilskraft und Handlungsfreiheit voraussetzen würde, sondern es ist viel angemessener, wenn sie sich egoistisch, also primär am eigenen Wohl orientiert verhalten. Denn auf das ‚Ganze‘ – also die Menge – der Marktwirtschaft gesehen, gleicht sich das individuelle Eigenwohl wechselseitig aus und verwandelt sich auf geheimnisvolle Weise um in das Gemeinwohl, daß es also allen gut geht. Adam Smith hat dafür die starke Metapher der „unsichtbaren Hand“ geprägt. Im Grunde genommen ist die unsichtbare Hand eigentlich nichts anderes als das statistische Verhalten einer Menge von marktwirtschaftlichen Regeln unterworfenen Individuen. Und diese unsichtbare Hand tritt an die Stelle der individuellen Urteilskraft. Denn die betreffenden Individuen brauchen nicht mehr zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. ‚Richtig‘ und ‚falsch‘ werden vielmehr durch die marktwirtschaftlichen Mechanismen reguliert, also durch die unsichtbare Hand, sprich: die Statistik.

Zurück zur Kugel und zum Würfel: Die Kugel, hatte ich gesagt, können wir als Metapher für das Individuum nehmen. Damit meine ich, daß die Kugel schon immer ein Sinnbild für Vollkommenheit und Ganzheit gewesen ist. Wenn das Individuum definitionsgemäß ‚unteilbar‘ ist, dann muß man sich fragen, was denn damit wieder gemeint sein könnte. Nicht gemeint sein kann damit, daß Individuen nicht physisch geteilt werden könnten: Individuen können durchaus einzelne Organe verlieren, durch Unfall und Amputation, und bleiben dennoch Individuen. Individuen können allerdings auch psychisch ‚geteilt‘ werden, aufgrund chemischer Ungleichgewichte (Schizophrenie) oder traumatischer Erlebnisse (multiple Persönlichkeiten). Bei ihnen haben wir dann allerdings schon den starken Eindruck des Persönlichkeitsverlustes. Wir können hier nicht mehr sicher sagen, inwiefern wir es noch mit ‚Individuen‘ zu tun haben.

Individuen sind also durchaus teilbar, und im Falle einer psychischen Deformation geht damit auch ein Verlust an Individualität einher. Letztlich kann man wohl Individualität auf das Verhältnis eines Ganzen zu seinen Teilen zurückführen, – und damit wären wir bei der Metapher der Kugel angelangt. Das Individuum verhält sich als Ganzes, – vor allem in seinen Urteilen und in seinem Handeln. Arithmetisch bildet es eine Eins und keine Menge. Und das ist der Grund, warum Statistik nicht auf Individuen anwendbar ist.
PS (17.04.2011): Man könnte natürlich eine neue Definition für ‚Individuen‘ einführen und sie als die Menge des ihnen möglichen Verhaltens kennzeichnen. Aber damit wäre das Prinzip der Ganzheit aufgehoben. Die Teile würden in eine zufällige Menge auseinanderfallen, denn keine Menge ist notwendig. Mithilfe der statistischen Methode müßte man dann eine wiederum zufällige ‚Menge‘ von gezeigtem Verhalten ‚beobachten‘, bis sie eine Signifikanz für ein ganz bestimmtes Individuum erreicht. Auch dies wäre wieder eine Sache der Definition. Man kennt das schon von computerbasierten Textanalysen, wenn man z.B. herausfinden will, ob ein bestimmter, bislang unbekannter Text von Shakespeare stammt oder nicht.
Jedenfalls hätte man bei dieser statistischen Definition von Individualität das Prinzip einer Ganzheitsbestimmung, in der die Teile notwendig auf das Ganze bezogen sind, aufgegeben. Um die ‚Gestalt‘ eines Individuums zu beschreiben, bedürfen wir einer anderen Methode, und diese besteht im Erzählen von Beispielgeschichten. Nach dieser Methode reicht eine einzige gute Beispielgeschichte, um ein Individuum treffend zu beschreiben. Wir hatten schon darauf hingewiesen, als es um die Funktionsweise von Mythen ging. (Vgl. meinen Post vom 29.01.11) Daß ein einziger ‚Fall‘ genügt, um eine Aussage über Individuen zu belegen, unterscheidet das narrative Prinzip von der Statistik.
PPS (24.04.2016): Unter dem Stichwort „BigData“ wird das Individuum inzwischen längst ganz selbstverständlich in seine (Verhaltens-)Teile zerlegt, mit deren statistischer Erfassung sich erstaunlich gute Prognosen seines künftigen Verhaltens erstellen lassen. Es gibt inzwischen auch Kulturwissenschaftler, die lieber vom ‚Dividuum‘ als vom ‚Individuum‘ sprechen. (Vgl. meinen Post vom 02.06.2016) Die ‚Gestalt‘ – also das Verhaltenprofil –, die sich aus diesem Dividuum ergibt, beruht auf computergestützten Berechnungen. Sie wird nicht mehr ‚geschaut‘, sie ist tatsächlich unsichtbar, jenseits dessen, was wir denken und wahrnehmen können. (Vgl. meinen Post vom 17.03.2016) Sie basiert auf Technologie und nicht auf Humanität.
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