„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 30. April 2010

Neurophysiologie: Reduktionismus (Fortsetzung)

Metzinger wehrt sich in seinem Buch „Der Ego-Tunnel" gegen den häufig an Neurophysiologen gerichteten Reduktionismusvorwurf. Dabei beschränkt er das seiner Ansicht nach berechtigte Moment dieses Vorwurfs auf das Verhältnis von Theorien untereinander, und das seiner Ansicht nach unberechtigte Moment dieses Vorwurfs bezieht er auf die Phänomene selbst. (Vgl.S.35f.): man könne das Bewußtsein gar nicht reduzieren, weil das Bewußtsein als Phänomen, das wir mit Hilfe von Theorien zu beschreiben versuchen, nicht reduzierbar sei, so wenig wie ein Regenbogen, der ja als Phänomen auch nicht durch physikalische Beschreibungen reduzierbar sei. Mit dieser Position verbindet sich nun, wie ich im Fortgang meiner Lektüre des Buches feststellen muß, nicht nur eine begriffliche Differenzierung, über die man diskutieren kann.

(Für mich persönlich allerdings ist diese Differenzierung allzu subtil, als daß ich etwas mir ihr anfangen könnte; und auch Metzinger selbst hält sie in seinem Buch nicht durch, sondern fällt immer wieder in einen Jargon der beständigen Bewußtseinsreduktion zurück, den er eigentlich von sich weist. Dabei schwankt er allerdings ständig zwischen einer Abwertung und Aufwertung dieser Bewußtseinsphänomene hin und hier, sie mal als bloß armselige „innere Schatten" (S.41) beschreibend und ein anderes Mal vom „wunderbaren Reichtum" der „Bewusstseinsinhalte" (Vgl.S.51) sprechend.)

Es handelt sich aber nicht nur um eine subtile begriffliche Differenzierung, sondern um ein Prinzip, ein Programm, das Metzinger als Lieblingsbeschäftigung von Naturwissenschaftlern bezeichnet. (Vgl.S.83) Demnach wollen Naturwissenschaftler immer reduzieren, und wo sie das nicht können, fühlen sie sich nicht wohl, weshalb sie bislang das Bewußtseinsphänomen aus ihrer Forschung ausgeschlossen haben. Den für Naturwissenschaftler ärgerlichen Vorwurf, den Reduktionismusvorwurf nämlich, verwandelt Metzinger also nun in ein Grundprinzip naturwissenschaftlicher Forschung. Dabei werden aber – trotz Metzingers gegenteiliger Behauptung – nicht nur die Phänomene reduziert, sondern aufgrund der Verlagerung auf das Verhältnis von Theorien untereinander werden von Metzinger nun ganz nebenbei auch noch die Disziplingrenzen vom Tisch gewischt: Theorien sollen jetzt generell im naturwissenschaftlichen Sinne aufeinander zurückgeführt (reduziert) werden! (Vgl.S.83: „T1 wird auf T2 zurückgeführt.") Mit dieser Rückführung ist vor allem gemeint, daß insbesondere geisteswissenschaftliche Theorien auf naturwissenschaftliche Theorien reduziert werden. Das steckt also hinter der recht verwirrenden Definition, daß nicht Phänomene reduzierbar sein sollen (was aber eben doch geschieht), sondern lediglich Theorien.

Damit wird aber zweierlei deutlich: erstens die prinzipielle Differenz zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, und zweitens der Monopolanspruch naturwissenschaftlicher Erklärungen. Was das Erstere betrifft: geisteswissenschaftliche Theorien – wenn sie nicht gerade aus einem den Naturwissenschaften gegenüber bestehenden Minderwertigkeitskomplex heraus an deren Reduktionserfolge anzuschließen versuchen – versuchen generell Reduktionen zu vermeiden. Das gelingt natürlich nicht, da Theorien, auch geisteswissenschaftliche Theorien, immer reduzieren. Aber dabei haben Geisteswissenschaftler eigentlich immer ein schlechtes Gewissen, denn ihr hauptsächliches Ziel ist es, der Komplexität ihrer Forschungsgegenstände gerecht zu werden.

Lediglich die Psychologen konnten sich nie so recht entscheiden, ob sie nun Geisteswissenschaftler oder Naturwissenschaftler sein wollten, und die Behavioristen waren hinsichtlich des menschlichen Bewußtseins erklärtermaßen eifrige Reduktionisten. Aber es gibt eben auch die anderen Psychologen, die immer wieder mit ihrem Forschungsgegenstand „auf Augenhöhe" bleiben wollten und wollen und sich gegen seine Reduktion auf berechenbare Formeln zur Wehr setzten. Norbert Groeben beschrieb den reduktionistischen Hang seiner Kollegen als „Molekularismus", womit er die Neigung bezeichnete, die komplexen Bewußtseinsphänomene auf eine möglichst niedrige, eben ‚molekulare‘ Ebene herunterzubrechen. („Handeln, Tun, Verhalten als Einheiten einer verstehend-erklärenden Psychologie. Wissenschaftstheoretischer Überblick und Programmentwurf zur Integration von Hermeneutik und Empirismus" (1986)) Groeben hat zu diesem Zweck einen psychologieeigenen ‚kategorischen Imperativ‘ formuliert, der darin besteht, daß der Forscher jederzeit bereit sein muß, die Theorien, die er auf sein Forschungsobjekt anwendet, also auf das menschliche Bewußtsein, auch auf sich selbst anzuwenden. (1986, S.68) Dabei ging Groeben noch davon aus, daß sich niemand gerne selbst als bloße Trivialmaschine bezeichnen lassen würde. Dieser kategorische Imperativ der Selbstanwendung geht allerdings immer mehr dort ins Leere, wo empirische Forscher (solange nur die Forschungsgelder fließen) genau damit nicht das geringste Problem mehr haben. (Zumindestens in der theoretischen Diskussion; ob sie sich aber genauso gern in der täglichen Lebenswelt wie Maschinen behandeln lassen wollten, steht auf einem anderen Blatt.)

Die Problematik, wie man als Wissenschaftler mit den Bewußtseinsphänomenen umgehen soll, auf naturwissenschaftliche (reduktionistisch) oder auf geisteswissenschaftliche Weise (auf Augenhöhe), beinhaltet also, daß man die Disziplingrenzen anerkennt und nicht versucht, das eine auf das andere zurückzuführen bzw. zu reduzieren, also einen Monopolanspruch der naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle anzustreben. Es gibt wunderbare Aufsätze von Martin Wagenschein, einem Physik- und Mathematikdidaktiker aus der ersten Hälfte des 20. Jhdts., in denen er dazu aufruft, die „Phänomene" zu „retten". Damit meinte er, daß man nicht ständig versuchen soll, physikalische Phänomene immer gleich auf Formeln und Gesetze zurückzuführen. So spricht er z.B. Gedichten über den Mond die gleiche Objektivität der Beschreibung zu wie den physikalischen Formeln. Was der Mensch wahrnimmt und die Art und Weise wie er wahrnimmt, bedarf der vielfältigsten und unterschiedlichsten Beschreibungsmöglichkeiten. Nur so sind die Phänomene (und mit ihnen der Mensch) zu retten, und nicht, indem man Theorien aufeinander reduziert.

Warum aber müssen die Phänomene gerettet werden? Weil es für den Menschen in seiner Menschlichkeit nicht unerheblich ist, wie er über die Welt redet, wie ja auch Metzinger in einigen seiner vielen widersprüchlichen Stellungnahmen festhält. Der Mensch behandelt ja nicht nur die Welt, sondern auch seinesgleichen entsprechend seinen Überzeugungen, die er in Bezug auf sie hat. Um seine innere Freiheit und sein Urteilsvermögen zu erhalten und zu stützen, bedarf es aber einer großen Vielfalt von Perspektiven und nicht etwa des Bemühens, diese auf die einzige des Neurophysiologen zu reduzieren. Die Frage, ob wir bereit sind, auf diese Freiheit zu verzichten, stellt Metzinger übrigens selbst, wiedermal ohne die Widersprüchlichkeit seiner verschiedenen Äußerungen zu bemerken: „Sind wir wirklich gewillt, die Autorität über unsere eigenen inneren Zustände aufzugeben ... Sind wir bereit, diese erkenntnistheoretische Autorität an die empirischen Wissenschaften vom menschlichen Geist zu übergeben?" (S.85)

Nachtrag (14.05.10):

Metzinger hat in sein Buch an verschiedenen Stellen Interviews mit auf verschiedene Bereiche spezialisierten Neurowissenschaftlern eingearbeitet. Diese informativen Einblicke in die Neurowissenschaften hat Metzinger dankenswerter Weise nicht entsprechend seinen eigenen Grundannahmen geglättet, so daß interessante Differenzen sichtbar werden, auf die Metzinger allerdings wiederum nur sehr indirekt eingeht, so daß man wieder rätseln muß, wie er sich dazu stellt; denn auch sonst geht er in seinem „Ego-Tunnel“ jeder direkten Auseinandersetzungen mit seinen eigenen Thesen widersprechenden Positionen aus dem Weg. In dem Interview mit dem Traumforscher Allan Hobson (vgl. S.216-231) äußert dieser sich explizit zum Reduktionismusvorwurf und – wenn mich nicht alles täuscht – richtet ihn sogar zwischen den Zeilen an Metzinger selbst. Wie Norbert Groeben hält Hobson den ‚Molekularismus‘ – er spricht von der Suche nach „molekularen Mechanismen“ – für ungeeignet, „zum Verständnis bewussten Erlebens“ beizutragen. (Vgl.S.228) Ausdrücklich bezeichnet Hobson diese Einstellung als „verhängnisvolle(s) reduktionistische(s) Paradigma“ im „populären Sinne des eliminativen Materialismus“.

Metzinger geht weder im Interview noch an späterer Stelle seines Buches auf diesen impliziten Angriff auf sein eigenes Vorgehen ein. Allerdings hat er zum Interview mit einer seltsam konstruierten Traumgeschichte übergeleitet, in der es um den „eliminativen Phänonmenalismus“ geht. (Vgl.S.212ff.) Beinhaltet der eliminative Materialismus die Leugnung jeder geistigen Wirklichkeit, so beinhaltet der eliminative Phänomenalismus die Leugnung jeder materiellen Wirklichkeit. In seinem ‚Traum‘ sieht sich Metzinger mit solchen Phänomenalisten konfrontiert, die ihm seine argumentative Ohnmacht vor Augen halten: er sei nicht in der Lage, sie, also seine geträumten Kontrahenten, von ihrer Unwirklichkeit zu überzeugen, weil er sich ja im Traum auf ihrer Ebene der Wirklichkeit bewege. Um sie von der Unwirklichkeit ihrer Wirklichkeitsebene zu überzeugen, müsse er aber ihre Wirklichkeitsebene verlassen und sich auf eine andere Wirklichkeitsebene begeben, um dann logischerweise aber sogleich aus ihrer Wirklichkeit zu verschwinden (denn man kann ja nicht auf zwei Wirklichkeitsebenen gleichzeitig anwesend sein), so daß er ihnen mit seiner Abwesenheit auf ihrer Wirklichkeitsebene nur beweisen würde, daß er selbst nicht wirklich sei.

Metzinger schließt seine Traumgeschichte nun mit der lapidaren Feststellung: „Wenn ich an diesem Punkt nicht die richtige Entscheidung getroffen hätte, wäre dieses Buch vielleicht niemals geschrieben worden.“ (S.215) – Welche Entscheidung er aber getroffen hat, darüber verliert Metzinger kein Wort. Letztlich kontert er also Hobsons Vorwurf des eliminativen Materialismus mit der Darstellung eines eliminativen Phänomenalismus, ohne uns in irgendeiner Weise in argumentativer Auseinandersetzung mit diesen beiden reduktionistischen Positionen an seine eigene Position heranzuführen.

Eine weitere antireduktionistische Position vertritt der von Metzinger interviewte Humanphysiologe Vittorio Gallese (S.248-260), der sich von den Naturwissenschaftlern distanziert, „die glauben, ihre Disziplin werde nach und nach alle philosophischen Probleme beseitigen“. (S.259) Metzinger selbst aber – obwohl kein Naturwissenschaftler – glaubt tatsächlich, daß es mit der „sozialen Neurowissenschaft“ (Stichwort ‚Soziobiologie‘!) darum gehe, für „eine integrative und auf vielen Ebenen gleichzeitig operierende Analyse“ „eine gemeinsame wissenschaftliche Sprache“ zu verwenden, „die in der Struktur und Funktionsweise des Gehirns verankert ist.“ (Vgl.S.236) Dann aber gäbe es keine spezifisch philosophischen Probleme mehr, weil sich mit der Sprache, die Neurophysiologen für die Beschreibung und Analyse neurophysiologischer Phänomene und Probleme verwenden, selbstverständlich auch die philosophischen Phänomene und Probleme in neurowissenschaftliche Phänomene und Probleme verwandeln. Die jeweiligen Wissenschaftssprachen sind den verschiedenen Disziplinen eben nicht äußerlich, sondern konstitutiver Bestandteil ihrer Forschungsinteressen. Innerhalb der Grenzen ihrer jeweiligen Disziplinen sind sie gegenstandskonstitutiv.

Die mit der neurophysiologischen ‚Sprache‘ einhergehenden Verkürzungen sozialer Phänomene führt Metzinger augenfällig vor, wenn er „soziale Kognition“ als „Einzelzellableitung()“ „fassbar“ machen will. (Vgl.S.242) Bei den Einzelzellableitungen denkt er an die Spiegelneuronen, auf die er die komplexen sozialen Phänomene, wie z.B. Narrativität und Imitation (vgl.S.255), zurückführen will. Die ‚Geschichten‘, die Metzinger wiederum für die Rückführung (Reduktion) dieser Phänomene ‚erzählt‘ (Vgl.S.241ff.), an deren Ende sich dann „plötzlich“, wie Metzinger schreibt, „neue Fenster in die soziale Wirklichkeit öffnen“ (S.243), sind dermaßen verkürzt, daß man dann wirklich – hoppla, jetzt schon? – überrascht ist, wie schnell das geht. Dabei geht Metzinger, natürlich nicht!, kein einziges Mal auf die komplexen sozialen Motivationen ein, wie sie Tomasello beschreibt, die notwendig sind, damit Menschen im Unterschied zu „Makaken“ – denn auch diese haben Spiegelneuronen! (Vgl.S.254) – kooperativ kommunizieren. Immer wieder wird hier eine intensive neuro-anthropologische, ethno-neurowissenschaftliche und soziokognitiv-neurowissenschaftliche Forschung eingefordert (vgl.S.235, 257f.u.ö.), ohne daß Metzinger zur Kenntnis nimmt, daß es in all diesen Bereichen schon eine ernstzunehmende, nicht neurowissenschaftliche Forschung mit sicher auch für Neurowissenschaftler hochinteressanten Ergebnissen gibt. Oder mit Gallese: „Unsere wissenschaftliche Draufgängerei verführt uns manchmal dazu, zu glauben, wir hätten als Erste über etwas nachgedacht. Meistens ist das nicht der Fall!“ (S.259).

Nachtrag (12.01.11):

In dem Post spreche ich von gewissen ‚empirischen‘ Forschern, die „nicht das geringste Problem mehr haben“, den eigenen Bewußtseinszustand zu naturalisieren, also alle Bewußtseinszustände auf molekulare Prozesse zurückzuführen. Dabei habe ich noch einschränkend hinzugefügt, daß sie sich „in der täglichen Lebenswelt“ wahrscheinlich nicht so gern „wie Maschinen behandeln lassen “ würden. Offensichtlich habe ich mich dabei, wie ich inzwischen feststelle, doch etwas zu vorsichtig ausgedrückt, denn mir fehlte die Chuzpe, wenn auch nicht unbedingt die Phantasie, diesem Geisteszustand innerhalb der empirischen Forschung einen noch absurderen Kick zu verleihen. Genau das tut nämlich schon in den fünfziger Jahren Günther Anders in „Die Antiqiuertheit des Menschen“ (Bd.1, 7/1988 (1956)), wo er von der „Scham“ des Menschen spricht, nur ein geborener Mensch zu sein und nicht an der Perfektion der gemachten Geräte teilhaben zu können. (Vgl. Anders 1956, S.V, 4f., 41ff., 100) So empfindet es dieser Mensch als unfair – und er schämt sich dafür –, daß er nicht wie eine Maschine behandelt wird! (Vgl. Anders 1956, S.24, 53f.) So ist es denn kein Wunder, daß auch Metzinger es vorzieht, „Roboterkunde zu treiben statt Psychologie“, wie es Günther Anders den Psychologen seiner Zeit vorwirft. (Vgl. Anders 1956, S.128f.) Allerdings teile ich den Pessimismus von Günther Anders nicht, mit dem er die Ausweglosigkeit des um sein Selbst betrogenen Menschen beschreibt. Anders vergißt angesichts der lebensweltlichen Mechanismen, die er als Kombination aus ‚Verbiederung‘ und Entfremdung darstellt, die menschliche Exzentrizität, also die Leib-Körpergrenze, der der Mensch nicht entkommen kann und die ihn immer wieder aus der Selbstvergessenheit herausreißt, so sehr ihn die lebensweltlichen Verstrikkungen auch zu vereinnahmen scheinen.

Er ‚vergißt‘ diese exzentrische Positionalität, soll heißen: Anders weiß durchaus darüber einiges zu sagen, – als „Scham“, die er in ihrer Funktionsweise ähnlich beschreibt wie Plessner Lachen (Störung des Situationsbezugs) und Weinen (Störung des (Lebens-)Weltbezugs), nämlich als Störung des Identitätsbezugs. (Vgl. Anders 1956, S.68ff.) Er versäumt es nur, daraus die entsprechenden Schlüsse über die Freiheit und damit über die individuelle Urteilskraft zu ziehen.

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