„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 12. Mai 2012

Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011

1. Existentieller Historismus
2. Genesis und Geltung
3. Historische Individualität und Subjektivität
4. Lebenswelt und Gewalt
5. Lebenswelt und Praktiken
6. Unaufgehobene Potentiale

Bevor ich auf Joas’ Verknüpfung von Genesis und Geltung eingehe, möchte ich auf Lambert Wiesings „Das Mich der Wahrnehmung“ verweisen. Dort lehnt Wiesing eine solche Verknüpfung mit der Begründung ab, daß eine genetische Rückführung von Wahrnehmungsgewißheiten auf sinnesphysiologische Mechanismen nur die qualitative Besonderheit des Wahrnehmungssubjekts aus dem Blick geraten ließe. (Vgl. meinen Post vom 04.06.2010) Diese qualitative Besonderheit besteht Wiesing zufolge eben darin, daß wir als Wahrnehmungssubjekte mit einer realen Außenwelt konfrontiert sind, die in ihrer Widerständigkeit unserem manipulierenden Zugriff entzogen ist. Deshalb sind wir auch nicht das ‚Ich‘, sondern das ‚Mich‘ der Wahrnehmung, weil wir die Wahrnehmungsgewißheiten nicht konstruieren, sondern sie uns widerfahren.

Ganz ähnlich argumentiert Joas in bezug auf den historischen Sinn: „Jeder historische Sinn ist potentiell ein aktueller Sinn.“ (Joas 2011, S.185) – Das historische Sein bildet immer zugleich ein Sollen, das wir nicht konstruieren, sondern von dem wir ähnlich – in Form von Appellen (vgl. Joas 2011, S.52f., 184f., 187f., 190ff., 202 u.ö.) – ‚angesprochen‘ werden, wie uns die Wahrnehmung bei Wiesing ‚anspricht‘. Als Angesprochene, also als gemeintes ‚Mich‘ historischen Sinns, müssen wir uns nun zu diesem Anspruch verhalten: „Wo das in Rede stehende Sein selbst ein Sollen beinhaltet – wie bei historisch entstandenen Normen und Werten –, setzen wir uns nicht nur zur Faktizität, sondern auch zu den Geltungsansprüchen historischer Gebilde in ein Verhältnis.“ (Joas 2011, S.185f.)

Wenn wir also bei Wiesing und Joas eine auffällige Gemeinsamkeit in der Qualifizierung des Verantwortungssubjekts als Objekt empirischer und historischer ‚Ansprüche‘ vorliegen haben, wie kommt es dann zu einer so unterschiedlichen Bewertung des Verhältnisses von Genesis und Geltung? Interessanterweise aus demselben Grund der Zurückweisung einer Naturalisierung von Subjektivität. Ähnlich wie Wiesing, der sinnesphysiologische und neurophysiologische Reduktionsversuche von Wahrnehmungsgewißheiten ablehnt, lehnt Joas atomistische Analysen von Wertbindungen ab, „als wären sie eben nichts als einzelne, in sich abgeschlossene Stellungnahmen“ (vgl. Joas 2011, S.259) – Joas zufolge nehmen wir niemals zu einzelnen Werten Stellung – das würde eine souveräne Verfügung über diese Werte implizieren –, sondern immer zu Wertekomplexen, denen wir uns zugehörig fühlen. Diese Wertekomplexe sind aber historische Gebilde, die wir nur über ihre Genesis verstehen können. Und im Verstehen ihrer Genesis wächst ihnen eine Geltung zu, die über vereinzelte, subjektive Zustimmung hinausreicht, also in Form von Plausibilität verallgemeinerbar ist.

Also noch einmal: was unterscheidet jetzt Wiesings Wahrnehmungsgewißheiten, die unabhängig von ihrer Genesis gelten sollen, von Joas’ Wertebindungen, deren Geltung mit ihrer Genesis verknüpft ist? Ich selbst habe mich schon zu diesem Thema in einem Aufsatz mit dem Titel „Versuche zur Veranschaulichung der Fischerschen Bildungskategorien“ (Franz Fischer Jahrbuch 2007, S.169-193) geäußert. Franz Fischer unterscheidet zwischen empirischen Gewißheiten und Gewissen. Unseren empirischen Gewißheiten, also unseren Wahrnehmungsgewißheiten und unserem Gewissen gegenüber sind wir gleichermaßen unfrei. Wir können weder unsere Gewißheiten noch unser Gewissen verleugnen, ohne daß unsere geistige und seelische Gesundheit Schaden nimmt. Während aber die empirischen Gewißheiten Gegenwartsgewißheiten darstellen – wir befinden uns als Wahrnehmungssubjekte im selben Raum wie die ‚Objekte‘ unserer Wahrnehmungen –, sind die Gewißheiten unseres Gewissens geschichtlich vermittelt. Das Gewissen spricht nur zu uns, weil es eine Geschichte hat, – eine persönliche und eine kulturelle.

Aufgrund ihrer gegenwärtigen Unmittelbarkeit bedeutet also jede genetische Rückführung von Wahrnehmungsgewißheiten auf sinnes- und neurophysiologische Mechanismen ihre Auflösung. Nichts ist mehr gewiß. Dem stellt sich Wiesing entgegen. Bei den historischen Gewißheiten hingegen wird ihre Werthaltigkeit über ihre Genesis überhaupt erst verständlich und damit verallgemeinerbar. Jeder Versuch, einzelne Werte „atomistisch“ zu analysieren, führt zu ihrer Auflösung. Dem stellt sich Joas entgegen.

Joas entwickelt nun genealogisch die besondere Gewissensgestalt moderner Menschenrechte. Er fragt nach der Quelle ihrer spezifischen subjektiven Evidenz und macht sie an der „Sakralität der Person“ fest. Die Person bildet das moderne Tabu, das von der Abschaffung der Folter über die Ächtung von Sklaverei, der Gleichberechtigung der Frau bis zum individuellen Widerstandsrecht gegenüber staatlicher Willkür und Terrorherrschaft reicht. Tabu, Heiligkeit, Sakralität sind Ausdrücke für die Intensität, mit der wir zu den entsprechenden Gegenständen Stellung beziehen: „Die Qualität ‚Sakralität‘ wird Objekten spontan zugeschrieben, wenn sich eine Erfahrung eingestellt hat, die so intensiv ist, daß sie das gesamte Weltbild und das Selbstverständnis derer, die diese Erfahrung gemacht haben, konstituiert oder transformiert. Die Elemente der Erfahrung werden mit der Ursache der Intensität in Verbindung gebracht.“ (Joas 2011, S.93)

Dabei spricht Joas von der ‚Person‘ und nicht vom ‚Individuum‘, um sicherzustellen „daß der damit umschriebene Glaube an die irreduzible Würde jedes Menschen nicht sofort verwechselt wird mit einer gewissenlos egozentrischen Selbstsakralisierung des Individuums und damit einer narzißtischen Unfähigkeit, sich aus der Selbstbezüglichkeit zu lösen. Der Begriff der Person hat den zusätzlichen Vorteil, daß er nicht wie der des Individuums als Gegenbegriff zur Gesellschaft (oder Gemeinschaft) verstanden werden kann. In ihm steckt vielmehr ein Verweis auf die notwendige Sozialität des Individuums und auf einen spezifischen Typus sozialen Lebens, für den die Personalität jedes Individuums konstitutiv ist.()“ (Joas 2011, S.86)

Die Menschenrechte sind nun Ausdruck unserer geschichtlich verwurzelten, gleichsam religiös anmutenden Intuitionen bezüglich der Integrität der Person und ihrer unantastbaren Würde. In Umkehrung einer Formulierung von Habermas, demzufolge das Sakrale in rational begründeten Konsens übergegangen ist, also ‚versprachlicht‘ und damit überflüssig geworden ist (vgl. Joas 2011, S.95), bezeichnet nun Joas die Menschenrechte als „Versprachlichung des Sakralen“ (Joas 2011, S.263), – aber eben nicht als restlose Auflösung des Sakralen in Rationalität, sondern als dessen bewahrende Artikulation, wobei diese Artikulation noch nicht abgeschlossen ist, sondern in Form einer unabgeschlossenen, zukunftsoffenen, immer auch gefährdeten Wertegeneralisierung der Ergänzung und Modifizierung durch kreatives, neue Werte schaffendes Handeln bedarf. (Vgl. Joas 2011, S.60, 132f.)

Joas’ Projekt einer affirmativen Genealogie ist also geschichtsoffen und will von einem postmodernen Ende der Geschichte nichts wissen: „Aus der Konstruktion der Geschichte als einer stufenweisen Erreichung eines Endzwecks, bei der die handelnden Subjekte keine oder nur eine marionettenhafte Rolle spielen, wird ‚die Teleologie des seine Vergangenheit zur Zukunft aus dem Moment herausformenden und gestaltenden Willens‘ (). Weil dieser Wille sich aber selbst auf die Bedingungen seines Entstehens hin reflektiert, ist diese handlungsbezogene und nicht objektivistische Teleologie gleichwohl nicht voluntaristisch. Vielmehr korrigieren sich so Willensbildung und Geschichtskonstruktion wechselseitig. ‚Das ist die einzig mögliche philosophische Bewältigung des Historismus‘ (). ... Im Gegenteil lehrt uns diese Einsicht, daß Differenzen der Geschichtskonstruktion unvermeidlich sind und durch den historischen Wandel, durch neue Handlungssituationen und neue Idealbildungen, immer unvermeidlich bleiben werden.“ (Joas 2011, 185f.)

Eine Teleologie, die die Vergangenheit aus der Gegenwart heraus zu einer Zukunft formt und im Sinne eines existentiellen Historismus an den subjektiven Willen zurückgebunden bleibt, nicht im Sinne einer subjektiven Souveränität, sondern im Sinne einer wechselseitigen Korrektur, hat die von Franz Fischer beschriebene Struktur eines Sinns von Sinn. (Vgl. meinen Post vom 07.07.2011) Diesem Sinn von Sinn entspricht der Blick auf künftige Generationen und deren Möglichkeiten. Sinn von Sinn richtet sich nie nach hinten, etwa um mit gegenwärtigen Errungenschaften über nicht wieder gut zu machendes Leid hinwegzutrösten: „Selbst bei einer Transformation in universalistische Wertbindungen, etwa im Fall der Menschenrechte, kann natürlich nicht die Rede davon sein, daß damit Trost gefunden und retrospektiver Sinn erzeugt worden sei.“ (Joas 2011, S.118f.)

Sinn von Sinn richtet sich immer nach vorne, denn wenn Menschenrechte vergangene Leid- und Unrechtserfahrungen artikulieren, dann vor allem, um sie künftig zu vermeiden und der Menschlichkeit eine Chance zu geben.

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