„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 6. Februar 2012

Zur dreifachen Gliederung der Person (Ende)

Im letzten Post war als wichtigste Aufgabe des präsentativen Bewußtseins vom Realitätsbewußtsein die Rede gewesen. Letztlich besteht das präsentative Bewußtsein in der Wahrnehmung und im Wahrnehmungsglauben, so daß man sich die von Plessner angesprochene, dem Realitätsbewußtsein zugrundeliegende Verbindung von Seele und Körperleib vielleicht am besten am Verhältnis von leiblichem Weltglauben (Wahrnehmungsglaube) und Lebensweltglauben verständlich machen kann (vgl. meinen Post vom 13.01.2012).

Der Lebensweltglaube besteht in der Unmöglichkeit, die eigene Lebenswelt zu reflektieren. Um sie zu reflektieren, müßte man ihr von außen gegenübertreten können. Sobald wir aber aus ihrem Binnenhorizont heraustreten, haben wir es nicht mehr mit einer Lebenswelt zu tun. Die Lebenswelt schließt schon den Gedanken an ein Außen von vornherein aus. Daß wir selbst in einer Lebenswelt befangen sind, kann uns nur durch das Fremde bewußt werden, das in sie eindringt: ob es sich nun um Außerirdische handelt oder um Konquistadoren.

Der leibliche Weltglaube hingegen besteht gerade in der Unbezweifelbarkeit eines Außen und in der unkontrollierbaren Doppelaspektivität von Außen und Innen, von Körper und Leib. Daß eine Welt da draußen existiert und daß wir ihr gleichzeitig gegenüberstehen und Teil von ihr sind, bildet die unbezweifelbare Wahrheit des Wahrnehmungsglaubens. Beides zusammen – leiblicher Weltglaube und Lebensweltglaube – ‚verschmilzt‘ zum Realitätsbewußtsein. Die Realität wird gleichzeitig unbezweifelbar und vertraut (Lebenswelt), wie sie uns widerständig und fremd bleibt. In dieser Verschmelzung liegt ihre unbezweifelbare Präsenz, ihr Jetzt und Hier. Aufgrund des Vollzuges von Jetzt und Hier als präsentatives Bewußtsein können wir nicht mehr zwischen leiblichem Weltglauben und Lebensweltglauben unterscheiden. Erst in Krisensituationen treten Körperleib und Lebenswelt wieder auseinander.

Wenn die Lebenswelt zerbricht, werden wir auf unsere singuläre Leiblichkeit (Existenz) zurückgeworfen. Dabei kann auch der leibliche Weltglaube selbst Schaden nehmen, so daß wir jede räumliche und zeitliche Orientierung verlieren. Mit dem leiblichen Weltglauben nähme dann auch die geistige und seelische Gesundheit Schaden. Das ist keine notwendige Folge des Lebensweltverlustes, aber eine mögliche. Es ist wie mit Kierkegaards „Krankheit zum Tode“, die immer zwei Gesichter hat: das zwanghafte Festhalten an der Lebenswelt ist genauso gefährlich wie ihr Verlust.

Ein weiterer Verweis muß hier noch hin: im letzten Post hatte ich mich auf Ernst Jüngers „Im Stahlgewitter“ (1920) bezogen, weil mir seine Metapher vom  „dunklen Land hinter dem Bewußtsein“ so gut gefiel. Jetzt bin ich mit dem Buch durch, und jetzt ist es mir eher peinlich. An der Art, wie Jünger die grauenvollen Erfahrungen des „Großen Krieges“ immer wieder einbettet in eine Lebenswelt, die längst nicht mehr ‚funktioniert‘ (bzw. fungiert), zeigt sich vor allem, wie er das Unrettbare zu retten versucht: Karl May – und das schreibe ich als eingeschworener Karl-May-Fan; an seinen Büchern habe ich das Lesen gelernt!  – im Schützengraben! Jünger versucht mit Worten, deren Pathos schon zur Zeit ihrer Niederschrift längst abgelebt war, eine in Fetzen zerrissene Lebenswelt zusammenzunähen. Wo Nishitani ein Niesen reicht, genügt Jünger der ganze erste Weltkrieg nicht. Am Ende ist eine ganze Welt zerstört, aber der einfache Krieger kehrt, zwar äußerlich verwundet, aber innerlich unerschüttert, in die ‚Heimat‘ zurück.

Jüngers Stil – der Pathos, die halbgare Philosophie, der auf Simplizität gestylte Humor – erinnert mich sehr an einige Reformpädagogen, mit denen ich mich beruflicherseits in einem DFG-Forschungsprojekt beschäftigen durfte und die ihren Schülern voran und diese hinter sich herziehend begeistert in diesen Krieg gezogen sind: an die vielen tausend „Kantoreks“, von denen in Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929) die Rede ist. Auch das ist Pädagogik!

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