„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
In Meyer-Drawes Verhältnisbestimmung von Leiblichkeit und Sozialität finden sich Parallelen zu Plessners Differenzierungen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. (Vgl. meine Posts vom 14.11.2010 bis 17.11.2010) So heißt es bei Meyer-Drawe zum sozialen Verstehen: „Jedes soziale Verstehen zeigt ... in seiner eröffnenden zugleich eine de-struierende Tendenz. De-Struktion meint dabei hier: Abbau von Fremdheit, Domestizierung der Andersheit.“ (Meyer-Drawe 1984, S.153) – „Abbau von Fremdheit“ entspricht der Intimität innerhalb einer Gemeinschaft, deren Mitglieder sich, wie in einer Familie, ungeachtet ihrer individuellen Verschiedenheit als einander zugehörig wahrnehmen. Diese Unbedingtheit der Zugehörigkeit unterscheidet die Gemeinschaft von der Gesellschaft, deren Mitglieder einander nur aufgrund von Rollen und Funktionen respektieren. Der Gesellschaft ist es also wesentlich, daß sich ihre Mitglieder letztlich fremd bleiben. Die gesellschaftlichen Rollen und Funktionen, die ‚Masken‘, dienen also dem Umgang unter Fremden, was man mit Meyer-Drawe auch als „Domestizierung der Andersheit“ beschreiben könnte.

Die Gemeinschaft wäre also der Ort, an dem Intimität an die Stelle von Fremdheit tritt, und Gesellschaft wäre der Ort, an dem Fremdheit an die Stelle von Intimität tritt. In der Gemeinschaft kann Fremdheit nicht toleriert werden, und in der Gesellschaft kann Intimität nicht toleriert werden. In der Gesellschaft bedeutet „Kommunikation“ deshalb „nicht eo ipso Verstehen eines Anderen, sondern Verständigung, Aushalten von Fremdheit und Durchsetzen der Eigenheit.“ (Meyer-Drawe 1984, S.153)

Das „Durchsetzen von Eigenheit“ würde allerdings nun bei Plessner bedeuten, daß sich diese „Eigenheit“ zugleich als „Maske“ tarnt. Denn wir setzen unsere Eigenheiten in der Gesellschaft nie uneingeschränkt um, weil wir sonst unser Innerstes (Intimität) der Gefahr einer Verletzung aussetzen würden. ‚Durchsetzen‘ meint bei Plessner deshalb vor allem ‚Spielen‘: also das Einhalten einer Distanz zum vollen Ernst.

An eine solche Distanz des Individuums zur Gesellschaft erinnert auch Meyer-Drawes daran anschließender Satz: „Zwar ist das ‚natürliche Ich‘ ein dezentriertes, non-egologisches Ego, aber doch ein Ich, in dem sich der Kontext, das soziale Gewebe bricht, indem es einen bestimmten Sinn realisiert und anderen erst gar nicht übernimmt.“ (Ebenda) – Insofern sich das soziale Gewebe, also das Rollen- und Funktionengeflecht einer Gesellschaft, am Ich – ob es nun ein natürliches oder ein individuelles sei, wollen wir hier dahingestellt sein lassen – „bricht“, wird dieses Ich zum Akteur aufgewertet, also im Plessnerschen Sinne zum Spieler auf der Bühne gesellschaftlicher Konventionen.

Dennoch kann nicht übersehen werden, daß Meyer-Drawe hier nur von einem „natürlichen“ und „dezentralisierten“ Ich spricht. Wie sich ein soziales ‚Gewebe‘ daran brechen können soll, wo es ihm doch eher im Merleau-Pontyschen Sinne „inkarniert“ ist, wird nicht weiter erklärt. Denn einen Hiatus in der Weltzugewandtheit des Körperleibs gibt es hier ja nicht.

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