„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 24. November 2011

Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

Da Merleau-Ponty eine Überwindung der „klassischen“ Subjekt/Objekt-Differenz anstrebt, muß er Rationalität bzw. ‚Intelligenz‘ anders begründen. Dazu greift er zu Beschreibungsformeln, die an ‚Emergenz‘ und an dezentralisierte Intelligenzformen wie die Schwarmintelligenz erinnern. Auch darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu Plessner, der mit den zum Gestaltbegriff gehörenden Begriffen der Einheit und der Ganzheit und mit Differenzierungen zwischen Vordergrund und Hintergrund sowie zwischen Innen- und Außenhorizonten auch die Physiologie und die Anatomie des tierisch-menschlichen Organismus in seine Analysen nicht nur miteinbezieht, sondern sie sogar zur Grundlage seiner Bestimmung des spezifisch menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses als exzentrische Positionalität macht.

Insofern Merleau-Ponty eine Innen/Außen-Differenzierung des tierisch-menschlichen Organismus ablehnt, stellt sich für ihn das Problem, auch die Frage nach dem Freiraum für das Bewußtsein, den Plessner in dieser Grenzbestimmung verortet, anders beantworten zu müssen. Anstatt also beim Verhältnis von Körper (Außen) und Leib (Innen) anzusetzen, formuliert er die damit verbundene Problematik um als ein Problem der Verhältnisbestimmung von „Motorik“ und „Intelligenz“, und zwar in dem Sinne, ob das Bedeutungsmoment der Sprache vor allem ein motorisches Phänomen oder vor allem ein Intelligenzphänomen sei. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.230f.).

Merleau-Ponty bringt nun seine Hoffnung zum Ausdruck, daß sich beide Aspekte des Bedeutungsbegriffs in einem dritten Begriff vereinen lassen: „Nie wird es gelingen, beiderlei Sinn in eins zu fassen, solange man, zwischen dem Begriff der ‚Motorik‘ und dem der ‚Intelligenz‘ schwankend, nicht einen dritten Begriff zu entdecken vermag, der beide in sich vereinigt: eine auf allen Ebenen sich gleiche Funktion, die schon in der verborgenen Vorbereitung der Sprache ebenso wie in den Artikulationsphänomenen am Werke ist, die das ganze Gebäude der Sprache trägt, und doch in relativ autonomen Vorgängen sich stabilisiert.“ (Merleau-Ponty 1966, S.231)

Als dieser dritte Begriff kommt für Merleau-Ponty nur der Leib selbst in Frage, der „in offen endlosen Folgen diskontinuierlicher Akte immer neue Bedeutungskerne sich einzuverleiben“ vermag, „die sein natürliches Vermögen überschreiben und überhöhen.“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.229) – Dieser Vorgang der „Bedeutungsschöpfung“ (Merleau-Ponty 1966, S.224) wird nun wie folgt beschrieben: „Dieser Akt der Transzendenz begegnet uns zuerst in der Aneignung eines Verhaltens, sodann in der stummen Kommunikation der Gebärde: durch ein und dasselbe Vermögen erschließt sich der Leib hier einem neuen Verhalten und gibt in eins Zeugen dieses Verhalten zu verstehen. Im Subjekt wie im Zeugen seines Verhaltens dezentriert sich plötzlich das zuvor bestimmte System der Vermögen, bricht auseinander und gestaltet sich neu nach einem Gesetz, das beiden unbekannt war und gerade in diesem Augenblick erst sich mitteilt.“ (Merleau-Ponty 1966, S.229)

Wir haben es also (a) mit „relativ autonomen“, also unbewußten bzw. irrationalen Vorgängen zu tun, (b) mit einem „Akt der Transzendenz“, (c) mit einer „Dezentrierung“ eines Systems von Vermögen, die insgesamt das menschliche Ausdrucksvermögen bilden und die sich nach ihrer Dezentrierung (d) zu einer neuen ‚Gestalt‘ zusammenschließen, deren Gesetzmäßigkeit bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt geblieben ist und die jetzt einsichtig wird. Auch ohne daß Merleau-Ponty die Begriffe der Emergenz und der Schwarmintelligenz zur Verfügung hat, wird hier doch die Affinität der Merleau-Pontyschen ‚Transzendenz‘ zum Begriff der Emergenz augenfällig. Und sein Anliegen, die Bedeutungsschöpfung am Subjekt vorbei aus ihrer leiblichen Verfaßtheit heraus zu erklären, erinnert wiederum sehr an das „letztlich rätselhafte() Aufsteigen von Sinn und Bedeutung aus der Materie“, von dem Michael Gamper spricht, also an Schwarmintelligenz als einer im wesentlichen dezentralisierten Intelligenzform. (Vgl. Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, in: Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S.69-84: 74)

Das Entstehen von ‚Freiräumen‘ der Bedeutungsschöpfung wird von Merleau-Ponty dann auch tatsächlich sehr bildhaft am Beispiel einer siedenden Flüssigkeit beschrieben: „... die Intention des Sprechens erfordert eine offene Erfahrung, dem Sieden einer Flüssigkeit gleich tritt sie auf, wenn inmitten der Dichte des Seins offene Sphären sich bilden und nach außen drängen.“ (Merleau-Ponty 1966, S.232) – Die Frei-Räume bzw. Spiel-Räume der Bedeutungsintention sind also nicht an der Grenze des Körperleibs anzusiedeln, sondern als eine „inmitten der Fülle des Seins geschaffene Öffnung“ (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.232) bilden sie gleichsam ‚Blasen‘. Wenn die damit verbundenen Implikationen nicht so ernst wären, könnte man sich an der Heiterkeit eines Seins erfreuen, das wie ein Comic-Heft mit Sprechblasen durchsetzt ist, denen die eingeletterte Bedeutung leicht abgelesen werden kann.

Aber die Metaphorik einer Blasen (Sphären) bildenden, siedenden Flüssigkeit, ist doch allzu überhitzt, um komisch zu sein. Und sie hat Nachfolger gefunden, – den Blasen werfenden Sloterdijk.

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