„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 9. September 2011

Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007

1. Der aufrechte Gang: Horizont versus Reflexbogen
2. Bewußtsein als ‚langsame Kognition‘
3. Unbesetzte Subjektpositionen: Ideen als Metaphern
4. Verstehen als Kontextphänomen

Mit dem aufrechten Gang beginnt eine Reihe von Raumbeschaffungen. Hatte Blumenberg schon der 90̊-Aufrichtung eine weitere 90̊-Aufrichtung auf insgesamt 180̊ hinzugefügt, die sich nun nicht mehr nur auf einen Horizont, sondern auch auf den Sternenhimmel richtete, welchen Platon alsbald mit seinem Ideen-Kosmos besetzte (vgl. Blumenberg 2007, S.15), so überträgt er diese raumerweiternde Grundstruktur des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in den folgenden Ausführungen auch auf Kants Verhältnisbestimmung von theoretischer und praktischer Vernunft (vgl. Blumenberg 2007, S.40-52) sowie auf die mythologischen Implikationen des Verhältnisses von Subjekt und Prädikat (vgl. Blumenberg 2007,  S.61-74). Beide Formen der Raumschaffung und Raumbesetzung sagen uns etwas über das Verhältnis von Idee und Metapher bzw. Symbol (Blumenberg zufolge meint Kant mit ‚Symbol‘ nichts anderes als die Metapher (vgl. Blumenberg 2007,  S.58)) einerseits und über die Idee als einer Funktion des ‚Sinnes von Sinn‘ andererseits.

Zunächst geht Blumenberg auf Kants Differenzierung zwischen Verstandesbegriffen und Vernunftsbegriffen ein. (Vgl. Blumenberg 2007, S.53ff.) Zu den empirischen Verstandesbegriffen gehören alle unsere Wahrnehmungen, z.B. weiße Schwäne, zu deren Typus das Weiße solange gehört, wie uns eine konkrete Anschauung von schwarzen Schwänen fehlt. Empirische Verstandesbegriffe sind also so lange gültig, wie ihnen konkrete empirische Anschauungen entsprechen: „Deshalb sagt Kant, daß die Art von Anschauungen, die für die Realität empirischer Begriffe erforderlich ist, ‚Beispiele‘heißt. Kein empirischer Gegenstand vertritt die Anschauung, die seinem Begriff zugrunde liegt, für sich allein und zureichend, aber doch so, daß er zur Realität des Begriffs, zur Herstellung seines gegenständlichen Bezugs, verhilft.“ (Blumenberg 2007, S.54)

Dann gibt es noch reine Verstandesbegriffe, z.B. die Kategorien der Relation und der Modalität. Auch sie bedürfen zu ihrer Realität einer Anschauung. Diese besteht aber nur in einer inneren Anschauung: dem Zeiterleben. (Vgl. Blumenberg 2007, S.55) Ich muß gestehen, daß es mir immer schon als etwas rätselhaft erschienen ist, was genau Kant damit gemeint haben könnte. Ich habe versucht, es mir mit dem Begriff der Kausalität zu erklären. Kausalität ist ein innerer Zwang, Ereignisse, die zeitlich direkt aufeinander folgen, in einen Ursache-Wirkungszusammenhang zu bringen. Dieser ‚innere Zwang‘, die Ereignisse in der Welt in einen kausalen Zusammenhang zu bringen, wäre dann eine Art innerer Anschauung, ähnlich der von den weißen Schwänen, – nur daß es sich bei den letzteren um empirische Anschauungen, nämlich um „Beispiele“ handelt. Bei der Kausalität handelt es sich also um eine innere Anschauung, im Sinne eines chronologisierenden „Schematismus“ (vgl. Blumenberg 2007, S.55). – Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sich dieser Schematismus wirklich auf alle Kategorien, die Kant aufzählt, so ohne weiteres anwenden läßt.

Wie auch immer: Beispiele und Schematismen bilden nach Kant die Realitätsgrundlage der empirischen und der reinen Verstandesbegriffe. Nun gibt es allerdings noch Begriffe, denen schlechthin keine Anschauung entspricht, weil sie eine Totalität implizieren, wie z.B. die Begriffe „Sein“, „Welt“ oder „Geschichte“, denen gegenüber wir keine Beobachter- bzw. Zuschauerposition einnehmen können: „Es ist unmöglich, für den Begriff ‚Welt‘ eine Anschauung bereitzustellen, sei es auch nur die eines Beispiels – schon deshalb, weil es ‚Welt‘ trotz des hyperbolischen Sprachgebrauchs nicht im Plural geben kann, es also unmöglich ist, eine Welt als Beispiel für die im Begriff Welt gemeinte Anschauung vorzuweisen.“ (Blumenberg 2007, S.55) – Wir sind immer schon Teil der von diesen Begriffen bezeichneten Zusammenhänge und Geschehnisse und sehen deshalb den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Wir haben es also bei der Welt nicht einfach mit einem Gegenstand zu tun, sondern mit einer Gesamtheit von Gegenständen. Es gibt aber noch eine andere Art von Begriffen, die ebenfalls nicht den Charakter von Gegenständen haben: nämlich Regeln, die uns vorschreiben, wie wir uns Gegenständen (und Menschen) gegenüber zu verhalten haben. Solche Begriffe sind z.B. „Gott“ oder „Freiheit“ oder einfach das sittlich „Gute“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.58f.) Alle diese Begriffe bezeichnet Kant als „Ideen“ oder als „reine Vernunftbegriffe“. (S.57, 62, 65) Die einzige Möglichkeit, uns eine Art ‚Anschauung‘ von ihnen zu verschaffen, ist es, „Symbole“ für sie zu finden, Gegenstände, die in uns ähnliche Gefühle wecken wie die reinen Vernunftbegriffe. So bezeichnet Kant z.B. das „Schöne“ als „Symbol des Sittlichguten“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.59) Die spontan geäußerte  Zustimmung beim Anblick des Schönen deutet nach Kant auf die fast schon instinktive Annahme hin, das, was wir selbst als schön empfinden, müßten auch alle anderen als schön empfinden. So steht das Schöne, dessen Genuß wir mit anderen teilen wollen, auch für den Anspruch des Guten: „Die Unmittelbarkeit der Zustimmung, die der ästhetische Gegenstand ohne Appell an das Eigeninteresse fordert, und die Freiheit der Einbildungskraft ohne Beliebigkeit, die er gewährt, bestimmen die durch Reflexion auffindbare Anwendbarkeit auf die praktische Vernunft.“ (Blumenberg 2007, S.59f.)

Ideen sind also Vorstellungen, denen kein Gegenstand entspricht, entweder weil sie eine Totalität von Gegenständen umfassen oder weil sie Regeln beinhalten, die unser Verhalten Gegenständen gegenüber betreffen. Weil sich zu diesen Ideen keine andere Anschauung geben läßt als die indirekte über Symbole und Metaphern, bleiben sie inhaltlich unbestimmt. Der theoretischen Vernunft können diese Metaphern natürlich nicht genügen. Bei der praktischen Vernunft ist das aber anders. Ihr genügt die praktische Notwendigkeit, daß Entscheidungen getroffen werden müssen, in denen wir uns vor die Wahl zwischen richtig und falsch gestellt sehen, um die Idee der Freiheit als Realität anzuerkennen. Die praktische Vernunft füllt „den leeren Platz“, den die theoretische Vernunft ihr gelassen hat (vgl. Blumenberg 2007, S.44f.), mit sittlichen Ideen.

Ideen bilden also einen „Unbestimmtheitsraum“, der der Vorbegrifflichkeit von Metaphern entspricht („Ursprungssphäre des Begriffs“ (vgl. Blumenberg 2007, S.28)), was sie vielleicht genau deshalb als Symbole für diese Ideen so geeignet macht. So kann das fröhliche „Lachen“ eines „Gefildes“ – bei Quintilian ist vom „Lachen einer Wiese“ die Rede – einen Gemütszustand anzeigen, der nach Kant demjenigen entspricht, der sich bei moralischen Urteilen einstellt. (Vgl. Blumenberg 2007, S.60)

Worauf es mir hier vor allem ankommt, ist, daß nicht nur die theoretische Vernunft der praktischen Vernunft einen leeren Platz einräumt, den diese nun in ihrem Sinne füllen kann. Auch die Ideen selbst bilden im Grunde nur Platzhalter, die den theoretischen Argumentationszusammenhang für praktische Notwendigkeiten offenhalten, die den theoretischen Ansprüchen auf vollkommene Bestimmbarkeit, dem „Ideal der vollen Vergegenständlichung“ (Blumenberg 2007, S.11), nicht genügen können. Wir haben es also nicht nur mit einem leeren Platz im theoretischen Kontext zu tun, sondern auch die reinen Vernunftbegriffe selbst, mit denen wir diesen leeren Platz füllen, bilden selbst wiederum ‚Unbestimmtheitsräume‘ (vgl. Blumenberg 2007, S.57), die für die unserer Wahrnehmung entzogene Verbundenheit „extrem auseinanderliegende(r) Bereiche“ (Blumenberg 2007, S.28) stehen.

Extrem weit auseinander liegen z.B. auch die kategorial getrennten Bereiche der Theorie und der Praxis. Auch Günther Buck sah im Erzählen von Beispielgeschichten aus der Literatur oder aus der Lebenspraxis eine Möglichkeit, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, ohne zu theoretisieren, aber dennoch beim Zuhörer Verstehen zu induzieren. (Vgl. „Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion“ (3/1989)) Was für Günther Buck die Beispielgeschichte leistet, leistet bei Kant das Symbol – unter anderem auch das ‚Beispiel‘ des tugendhaften Handelns, das unsere Achtung erzeugt – und bei Blumenberg die Metapher.

Blumenberg spricht denn auch von der „Kühnheit“ (vgl. Blumenberg 2007, S.28, 65) oder gar von der „Hochstapelei“ (vgl. Blumenberg 2007, S.63) oder einfach auch schlicht vom „Mut“ (vgl. Blumenberg 2007, S.89) der Metapher, die mal prätentiöser, mal bescheidener, aber immer unerschrocken Denkergebnisse vorwegnimmt, bevor sie argumentativ eingelöst werden können, und zu Handlungsentscheidungen verführt, bevor der richtige Moment unwiderruflich vergangen ist. Und mit diesem ‚Mut‘ der Metapher bewegen wir uns in genau jenem Spielraum, den uns nach Kants Formel die Aufklärung eröffnet hat: dem Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen, ohne uns vorher bei allen möglichen Autoritäten abgesichert und von ihnen dazu die Erlaubnis eingeholt zu haben. Der ‚Mut‘ der Metapher gehört so untrennbar zum Mut des eigenen Verstandesgebrauchs, zu jener Mischung aus Naivität und Kritik, die für ihn unerläßlich ist.

So kommen wir also vom Raumgewinn des aufrechten Ganges mit seinem erweiterten Horizont zum Raumgewinn des Sternenhimmels über uns: den Ideen. Die Ideen wiederum erweitern unseren Denkraum über den begrifflichen Rahmen hinaus, indem sie uns den Raum der „Unbegrifflichkeit“ erschließen, über den wir uns mit Hilfe von Metaphern verständigen.

Zwischen Begriffen, Ideen und Metaphern zeichnet Blumenberg folgende Analogien und Unterschiede: Begriffe in ihrer Bestimmbarkeit und Metaphern in ihrer Unbestimmtheit haben eine gemeinsame Herkunft (vgl. Blumenberg 2007, S.28); die Begriffe werden dann aber mit zunehmender Bestimmtheit immer unsinnlicher und drohen schließlich, in eine Mystik umfassender Negationen umzukippen (vgl. Blumenberg 2007, S.75, 80). Metaphern eröffnen den negativen Begriffen deshalb immer wieder positive Sinn- und Anschauungsressourcen, so daß diese ihren lebensweltlichen Nutzen nicht verlieren.

Bei den prinzipiell nicht bestimmbaren Ideen verschaffen die Metaphern hingegen allererst so etwas wie einen Anschauungsersatz, der es uns einerseits erlaubt, uns über praktische Notwendigkeiten zu verständigen, und der uns andererseits für diese praktischen Notwendigkeiten überhaupt erst sensibilisiert, so daß wir sie dort in den Blick bekommen, wo wir bislang ‚blind‘ für sie gewesen sind. Haben Metaphern in bezug auf Verstandesbegriffe immer Teil an deren zunehmenden Bestimmbarkeit – werden sie sozusagen durch zunehmende Bestimmung selbst zu Begriffen –, so werden Metaphern in bezug auf Ideen zu „absoluten Metaphern“, die niemals in Bestimmbarkeiten irgendwelcher Art aufgehen. Mit Bezug auf Begriffe können Metaphern selbst zu Begriffen werden. Mit Bezug auf Ideen aber können Metaphern niemals zu Begriffen werden. (Vgl. Blumenberg 2007, S.107)

Hier kommen wir nun zu dem Punkt, an dem Blumenberg meiner Meinung nach Kants transzendentalen Idealismus in eine narrative Metaphorik überführt. Letztlich scheint Blumenberg die Ideen von ihrem philosophischen bzw. erkenntnistheoretischen Status her mit dem unbestimmten Personalpronomen der dritten Person Singular, dem ‚Es‘, gleichzusetzen. (Vgl. Blumenberg 2007, S.66f.) In der Redewendung „Es regnet“ kommt ein seltsames Subjekt zur Sprache: „Entscheidend ist vor allem, daß die Unbestimmtheit des Subjekts in jenem Es das Gefühl vermittelt, keinen Adressaten zu haben für eine Beeinflussung, eine Einwirkung. Bei diesem sprachlichen Phänomen glaubt man sich unmittelbar vor der Nötigung zu sehen, die zur mythischen Namengebung geführt hat; wenn der Regen eine lebensentscheidende Realität war, durfte man ihn nicht jenem kryptischen Es überlassen ... Die Unbestimmtheit führt also dort geradewegs in den Mythos, wo sie nicht hingenommen werden kann.“ (Blumenberg 2007, S.66f.)

Genauso wenig also, wie bei Kant ein unfreies, unverantwortliches Handlungssubjekt aus Gründen der sittlichen Notwendigkeit hingenommen werden kann und deshalb die Ideen der Freiheit und des Sittlichguten praktisch postuliert werden müssen, kann es der Mensch Blumenberg zufolge hinnehmen, die „lebensentscheidende Realität“ des Regens einem unbestimmten „kryptischen Es“ zu überlassen. Führt das eine in die Moral, so führt das andere in den Mythos!

Damit spricht Blumenberg eine Struktur des Sinnverstehens an, die ich mit Franz Fischer als „Sinn von Sinn“ bezeichnen möchte. Hier bewegen wir uns nicht mehr in einem Reich transzendentaler Denknotwendigkeiten, sondern in einer Lebenswelt. Dieser ‚Raum‘ der Lebenswelt erstreckt sich von Horizont zu Horizont, den wir im Ausschreiten unseres Gesichtskreises ständig verschieben. ‚Trans-zendental‘ meint hier lediglich ein Über-Schreiten bestehender Horizonte auf neue Horizonte hin, nicht ein Jenseits unseres Denkens bzw. eine schlechthinnige Grenze unseres Denkens, etwa im Sinne einer Begrenztheit unserer theoretischen Vernunft.

Im Sinne dieses Ausschreitens hin auf immer neue Horizonte spreche ich von Sinn von Sinn. Bei keinem Sinn als solchem lohnt es sich, stehenzubleiben, weil jeder Sinn für sich nichtig ist. Erst im unendlichen Verweis auf anderen Sinn erweist sich Sinn als sinnhaft. Und dieser Sinn ist diesseitig. Wir streben nicht auf ihn hin wie auf ein jenseitiges Reich, noch begleitet er uns untergründig wie das Sein. Er hebt lediglich mit einer Aufrichtung an, dem aufrechten Gang. Denn von diesem anthropologischen Datum an liegt uns nichts mehr unmittelbar auf der Haut.

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