„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 23. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)

1. Gemeinschaft, Masse und Gesellschaft
2. Ohne Sinn und Bedeutung

Bei Michael Gamper ist davon die Rede, daß Schwarmintelligenz für ein „letztlich rätselhaftes Aufsteigen von Sinn und Bedeutung aus der Materie“ steht. (Vgl. Gamper 2009, S.74) Bei der Schwarmintelligenz geht es um die „Optimierung von Vorgängen in Einheiten der großen Zahl“ (Gamper 2009, S.73). Was genau wird also in einer Menschenmasse optimiert? Auf einer informationstheoretischen Ebene läßt sich eine überraschend einfache, fast schon tautologische Antwort darauf geben: die Geschwindigkeit der Informationsübertragung in großen Menschenmengen (vgl. Stäheli 2009, S.90f.), – wobei Menschen-‚Menge‘ heißt: eine große Menge von Individuen, und Menschen-‚Masse‘: deren Verwandlung in effektive „Relaisstationen“ (Stäheli 2009, S.90).

Das erinnert von ungefähr an Damasios „rasche Kognition“ (vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.V), – aber nur von ungefähr. Denn Damasios raschen Kognition liegt eine individuelle Haltung zugrunde, die im Interesse der Informationsübertragung nur als „Hindernis()“ erscheint, „welche die Übertragungsgeschwindigkeit beeinträchtig(t)“ (vgl. Stäheli 2009, S.90f.). Die Geschwindigkeit der Informationsübertragung hat nichts mit Haltungen oder gar Individuen zu tun.

Letztlich ist es wie mit den bio-molekularen Prozessen auf der Ebene des Erbgutes: auch hier wird zu Unrecht von genetischen ‚Informationen‘ gesprochen. Stattdessen haben wir es mit biochemischen Prozessen zu tun, in denen es keinen Sender, keinen Empfänger und keinen Kanal gibt, sondern nur Deformation und Transformation. (Vgl. meinen Post vom 18.08.2011) Auch auf der Ebene der Menschenmasse werden keine ‚Informationen‘ übertragen. Von wem an wen? Die Menschenmasse dient keinen äußerlichen Zwecken. (Vgl. Stäheli 2009, S.96 und 98) Sie ist „in sich selbst verliebt“. (Vgl. Stäheli 2009, S.98)

In gewisser Weise entzieht sich das Phänomen der ‚Informationsübertragung‘ in Menschenmassen meiner Differenzierung von Sinn und Bedeutung, wie ich sie in meinem Post vom 07.07.2011 vorgeschlagen habe. Nach meiner Ansicht steigen „Sinn und Bedeutung“ nicht einfach „rätselhaft“ aus der Materie auf wie genetische ‚Informationen‘ aus dem Erbgut. So wie ich Sinn und Bedeutung verstehe, stellen sie eine unmittelbare Folge der von Plessner beschriebenen Doppelaspektivität von Innen und Außen dar, – d.h. es geht um Ausdruck, um Expression. Weder die Schwarmintelligenz noch die Menschenmasse verfügen über ein Innen und Außen. So verfügt z.B. die Menschenmasse auch über keine Wirklichkeitswahrnehmung (vgl. Gamper 2009, S.83f. und Stäheli 2009, S.96), was schon eine Differenzierung zwischen Innen und Außen voraussetzt.

Zu meinen bereits vorgestellten Differenzierungen zwischen Information (binär und artikulatorisch), Referenz, Bedeutung und Sinn muß ich hier also noch eine zusätzliche Differenzierung hinzufügen, die dem Reiz-Reaktions-Reflexbogen entspricht und außerhalb des menschlichen Bewußtseins verläuft: das Signal. Plessner spricht bei seiner Differenzierung zwischen tierischem und menschlichem Bewußtsein davon, daß Tiere keine Gegenstandswahrnehmung haben, sondern nur eine komplexqualitative Wahrnehmung. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Im Rahmen dieser komplexqualitativen Wahrnehmung differenzieren sie nicht zwischen Vordergrund und Hintergrund. Alle Reize stellen für sie nur Signale für Aktionen dar, „Feldverhalte“ und keine „Sachverhalte“. (Vgl. meinen Post vom 24.10.2010)

Diese Differenz zwischen Feldverhalten als Aktionsfeldern und Sachverhalten als Feldern von individualisierbaren Gegenständen möchte ich auch auf die Menschenmasse beziehen. Auch Menschenmassen reagieren nicht auf ‚Informationen‘, sondern auf ‚Signale‘. Stäheli liefert für diese These Belege. Nach Le Bon gibt es „zwei zentrale Führungstechniken“ für die „hypnotische Steuerung“ von Menschenmassen: „die Behauptung und die Wiederholung. ... Die Behauptung beeindruckt nicht so sehr durch ihren (auswechselbaren) Inhalt, sondern durch das entschiedene Mitteilungsverhalten. Behauptungen müssen stets in möglichst identischer Form wiederholt werden, wodurch sie wie von selbst Überzeugungskraft gewinnen: Was ständig wiederholt wird, wird wohl seine Richtigkeit haben.“ (Stäheli 2009, S.95)

‚Informationen‘, die sich in Menschenmassen „in hoher Geschwindigkeit verbreiten“ (vgl. Stäheli 2009, S.91), sind inhaltlich also völlig ungebunden. Ihre ‚Bedeutung‘ ergibt sich einzig und allein aus ihrer Wiederholung (was übrigens an Assmanns Textbegriff erinnert (vgl. meinen Post vom 29.01.2011), – nur daß hier die Wiederholung keinen Kommentar darstellt, sondern lediglich einen Affekt, also die Reaktion auf einen Stimulus: die vorangegangene Behauptung). Der Informationsbegriff ist hier demnach genauso wenig angebracht wie bei der Beschreibung molekulargenetischer Prozesse. (Vgl. meinen Post vom 18.08.2011) Mit Plessner kann man also besser von einer Signalübertragung sprechen als von Informationsübertragung.

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