„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 16. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)

1. Statische Muster und lebendige Netzwerke
2. Politik als Kybernetik
3. Der Körperleib und die Zeit an sich
4. Zurück zu einer Metaphysik der zwei Welten?
5. Transgredienz und Emergenz: Konzepte vom Ganzen und seinen Teilen
6. Multitudes und Öffentlichkeit
7. Biologie und Information

Wenn sich die Intentionalität von Schwarmverhalten also von menschlicher Intentionalität darin unterscheidet, daß sie nicht auf einem Körperleib basiert, so stellt sich die Frage, inwiefern wir sie als Gestalt wahrnehmen. Der Unterschied läßt sich vielleicht am besten mit den Begriffen der Transgredienz (vgl. meinen Post vom 21.10.2010) und der Emergenz auf den Punkt bringen: die Gestalt von Körpern wird durch Transgredienz ermöglicht – man könnte vielleicht auch sagen, sie ‚transgrediert‘ –, während Schwärme emergieren.

Transgredienz, wie sie Plessner beschreibt, beruht auf dem Prinzip der Antizipation der in der Raumzeitlichkeit unserer Wahrnehmung verborgenen Rückseiten von Körpern. Wir nehmen ein Haus als ganze Gestalt wahr, auch wenn wir seine Rückseite noch nicht sehen können. Denn obwohl wir die Rückseite des Hauses nicht sehen können, gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, daß es eine hat. Deshalb erscheint es uns nicht als etwas Unvollständiges, sondern als etwas Ganzes, – eben als eine Gestalt: wir ‚überschreiten‘ in der Wahrnehmung immer schon die sichtbaren Seiten eines Körpers auf seine nicht sichtbaren Rückseiten hin.

Diese Transgression hat zwei Richtungen: so wie sie nach außen auf die Rückseiten eines Körpers hin geht, so geht sie nach innen auf den ‚Kern‘ des Körpers hin, d.h. auf seine Substanz. ‚Substanz‘ meint hier nichts anderes, als daß Körperdinge in unserer Wahrnehmung ‚gehalten‘ und ‚getragen‘ werden und daß sie sich so vor einem Hintergrund als ein individuelles Ding abheben, das sich von anderen Dingen in seinem Kontext abgrenzt und unterscheidet. Es erhält sich selbst als Ding für eine gewisse Dauer, bis es in der Zeit verfällt und auseinanderfällt. Körper sind raumzeitliche Dinge. Die Transgredienz als Gestaltprinzip geht also auf Rückseiten und Substanzen, auf Dinge im Raum und in der Zeit.

Den Begriff der Gestalt bezieht Plessner sowohl auf tote wie lebende Körper. Den Begriff des Ganzen reserviert er dann aber nur für lebende Körper, um damit das Lebendige als eine „übergestalthafte Ordnungsform“ zu kennzeichnen. (Vgl. meinen Post vom 22.10.2010) Für diesen Post möchte ich das dahingehend pointieren, daß das Lebendige ein Ganzes bildet, aus dem wir keine Teile entfernen können, ohne diese Teile zu vernichten. Unabhängig vom lebendigen Ganzen können die Teile nicht existieren.

Nicht so die Schwärme: sie haben weder Rückseiten noch Substanz. Sie emergieren aus einem Kontext heraus, weil unmerklich ein bestimmter Schwellenwert in der Akkumulation von Teilen überschritten wurde, von dem an sie ein chaotisch-dynamisches Ganzes bilden; sie erhalten sich am Rande zum Chaos und lösen sich wieder im Kontext auf. Dieses Ganze ist heterogen: „Ein Schwarm ist ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile, aber es ist auch ein heterogenes Ganzes. D.h., dass er nicht als eine vereinheitlichte, homogene Gruppe definierbar ist, die den heterogenen Bedürfnissen und Begehren von Individuen dient. Vielmehr erfordern die Prinzipien der Selbstorganisation, dass die Gruppe erst aus den lokalisierten, singulären, heterogenen Handlungen der einzelnen Einheiten entsteht.“ (Thacker 2009, S.53)

Wäre ein Schwarm ein Ganzes, das seinen Teilen dient, wäre es auch nicht mehr dezentral, sondern zentralisiert. Ein solches Ganzes wäre nicht nur selbstorganisiert, sondern auch selbstreflexiv. Es würde im Damasioschen Sinne sich selbst beobachten, so wie das Gehirn seine organischen Funktionen beobachtet. Da der Schwarm aber als Ganzes aus den Interaktionen seiner Teile emergiert, ohne daß diese Interaktionen auf ein Zentrum hin koordiniert und auf diese Weise integriert wären, kann er nur ein heterogenes Ganzes bilden. Dieses heterogene Ganze ist zwar mehr als seine Teile, eben der Schwarm, und dieses Ganze wäre auch nichts ohne seine Teile – also kein Fischschwarm ohne Fische –, aber über die lokalen Interaktionen der Teile hinaus haben diese keinen Anteil am Ganzen des Schwarms: Es verbindet sie kein gemeinsames Schicksal mit ihm, und so bleiben sie, auch wenn der Schwarm sich auflöst, erhalten.

Gemeinsames Schicksal und zentralisiertes Ganzes machen also die Gestalt von lebendigen Körpern aus, während das Schwarmverhalten nur ein zufälliges, emergentes Ganzes bildet, das sich jederzeit ohne weitere existentielle Folgen für seine Teile wieder auflösen kann.

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