„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 30. April 2011

Viktor Mayer-Schönberger, Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten, Berlin 2010 (2009)

  1. Gesellschaftliches Gedächtnis und individuelles Wachstum
  2. Entropie und das Prinzip der Negation 
  3. Vergessen und Urteilsvermögen
  4. Analoge Gedächtnismedien und digitales Gedächtnis (fragmentierte Positionalität)
  5. Erinnern als Narrativität (Reembedding)
  6. Problembewußtsein wecken mit Verfallsdaten
Wie im letzten Post schon angesprochen steht bei Mayer-Schönbergers Analysen des digitalen Gedächtnisses der Informationsbegriff im Vordergrund. Dazu paßt sein methodisches Vorgehen, das sich am thermodynamischen Prinzip der Entropie orientiert: „Das Anlegen von Erinnerungen schafft Ordnung im Gehirn, wofür Energie nötig ist, die wiederum durch ein Mehr an Unordnung erkauft werden muss. Das Vergessen hingegen könnte zufällig vonstatten gehen, ohne Energie erfordernde Ordnungsprozesse.“ (Vgl.M.-Sch. 2010, 32f.)

Daß Mayer-Schönberger seine Analysen auf dem thermodynamischen Gesetz der Entropie aufbaut, ist eine konsequente Anwendung des Konzepts vom Gedächtnis als Informationsspeicher. Information ist mathematisch gesehen schließlich nichts anderes als Ordnung in der Unordnung. Erinnern ist mithin Ordnung im Meer der Unordnung des Vergessens, weshalb für das Vergessen auch keine psychische bzw. mentale Energie aufgewandt werden muß. Es geschieht einfach, und unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen gehen damit den Weg aller Materie: den des allmählichen Verfalls von Ordnung, weshalb Mayer-Schönberger hier auch vom „biologischen Vergessen“ spricht: „Bei der Verarbeitung der eingehenden Reize in unseren Nervenzellen wird ungeheuer viel Information gezielt verworfen. Der Existenz dieser untersten, rein biologischen und unbewussten Schicht des Vergessens sind wir uns meist gar nicht gewärtig.“ (M.-Sch. 2010, S.27) (Vgl.M.-Sch. 2010, S.139ff.) – Wenn man allerdings vom biologischen Vergessen spricht, sollte man nicht nur an die Wahrnehmung im engeren Sinne denken, sondern auch an das meines Wissens nicht zentral gesteuerte Immunsystem, oder an die Knochen, die Muskulatur, die Zähne, die Haut, die jeweils verschiedene Gedächtnisspeicher bilden und, so viel ich weiß, nichts vergessen.

Das biologische Vergessen bildet die unterste Ebene von insgesamt – nach meiner Zählung – drei übereinander gestaffelten Gedächtnisformen. Bei den anderen beiden Gedächtnisebenen handelt es sich um das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis, die Mayer-Schönberger noch mal beide in verschiedene Gedächtnisfunktionen unterteilt, auf die ich hier jetzt aber nicht näher eingehen will, da sie im wesentlichen den Funktionen gleichen, wie wir sie in diesem Blog schon bei Assmann und Welzer besprochen haben.

Das biologische Vergessen funktioniert nun Mayer-Schönberger zufolge nach einem Prinzip, das wir schon bei der Gestaltwahrnehmung kennengelernt haben, wie sie Helmuth Plessner als spezifisch menschliche Fähigkeit darstellt (vgl. meinen Post vom 21.10.2010): nach dem Prinzip der Negation. Plessner macht die Negation als Wahrnehmungsprinzip am Verhältnis von Figur und Hintergrund fest. Um die Figur bzw. Gestalt eines Wahrnehmungsgegenstandes in den Vordergrund zu rücken, müssen viele andere, gleichzeitig mit der Figur wahrgenommene Einzelphänomene als Gesamtheit in den Hintergrund rücken, also aus der bewußten Wahrnehmung ausgeblendet werden. Nicht anders beschreibt Mayer-Schönberger das Vergessen, wenn er feststellt, daß „bei der Verarbeitung der eingehenden Reize in unseren Nervenzellen ... ungeheuer viel Information gezielt verworfen“ werden muß.

So gesehen verhalten sich also Erinnern und Vergessen zueinander wie Vordergrund und Hintergrund in der Wahrnehmung, so daß man also das Erinnern durchaus als eine Form der Gestaltwahrnehmung beschreiben kann. Soweit geht Mayer-Schönberger aber nicht, da ihn die Begrenztheit des Informationsbegriffs an einer weitergehenden Erörterung dieser Zusammenhänge hindert. Dennoch liegt dieser Zusammenhang von Erinnern und Gestaltwahrnehmung von seinen eigenen Analysen her auf der Hand. Denn Mayer-Schönberger hebt selbst den Abstraktionsprozeß hervor, der mit dem Abspeichern von Informationen einhergeht. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.47, 184, 195f.) Er bezeichnet ihn als „Dekontextualisierung“ (vgl.M.-Sch. 2010, S.109), und er spricht von der Notwendigkeit, daß Informationen wieder rekontextualisiert werden müssen, daß also der Hintergrund, der den zu ‚Informationen‘ geronnenen ‚Figuren‘ abhanden gekommen ist, wieder hergestellt werden muß.

Von diesem Stand seiner Analyse wäre es nur ein kleiner Schritt über den Informationsbegriff hinaus gewesen, um das menschliche Gedächtnis auf einer Ebene zu thematisieren, wie wir sie von Jan Assmann als kulturelles Gedächtnis kennen. So beinhalten auch Mayer-Schönbergers kurzen Ausflüge in den Bereich der Ästhetik hauptsächlich Erörterungen zum Kosten-Nutzen-Verhältnis von Höhlenmalereien und Grabbeigaben, während die eigentlich künstlerischen Motive nur am Rande erwähnt werden. Als Fazit hält er lediglich fest: „Doch auch dieses künstlerische Erinnern hatte seinen Preis. Es war zeitraubend und teuer.“ (M.-Sch. 2010, S.42)

Mayer-Schönbergers Hauptinteresse gilt dem digitalen Gedächtnis, und das beinhaltet nun in der Tat nichts anders als Informationen. Insofern ist – wie gesagt – die Orientierung am Kosten-Nutzen-Verhältnis der Informationsspeicherung, also des Erinnerungsvermögens, konsequent. Allerdings hält er diese Orientierung nicht konsequent durch. Denn so penibel Mayer-Schönberger auch die aufwendigen Kosten analoger Speichersysteme von der Malerei über die Schrift und den Buchdruck, die Photographie, Tonbänder und Filmrollen bis zu den modernen Massenmedien des 19. und 20. Jhdts. auflistet (vgl.M.-Sch. 2010, S.40-66), so pauschal bleiben seine Berechnungen zu den digitalen Speichermedien, die in der Feststellung münden: extrem billig und potentiell unendlich groß (vgl.M.-Sch. 2010, S.66ff., 78-89, 99 u.ö.). Kurz: Mayer-Schönberger kommt zu dem Resultat, daß mit dem digitalen Gedächtnis Vergessen teurer geworden ist als das Erinnern: „Solange Speicher so billig und so leicht zu bekommen ist, lohnt es sich einfach nicht mehr, Zeit auf die Entscheidung zu verwenden, was man wirklich behalten will. Das Vergessen, verstanden als Ergebnis einer Entscheidung, für die man drei Sekunden pro Bild benötigt, ist für die Menschen inzwischen zu kostspielig geworden.“ (M.-Sch. 2010, S.84)

Wäre es aber tatsächlich so, dann wäre damit ein Naturgesetz außer Kraft gesetzt: die von Mayer-Schönberger selbst immer wieder in seinen Kosten-Nutzen-Rechnungen beschworene Entropie. Es würde bedeuten, daß Unordnung energieaufwendiger wäre als Ordnung. Aber in Wirklichkeit läßt Mayer-Schönberger die eigentlichen ‚Unkosten‘ des digitalen Gedächtnisses, zu dem untrennbar das Internet gehört, unter den Tisch fallen. Um all die Standards (=Ordnung) aufrechtzuerhalten, die den globalen und jederzeitigen Zugriff auf das digitale Gedächtnis ermöglichen, bedarf es einer enormen Infrastruktur, angefangen von in den Tiefen der Ozeane verlegten Glasfaserkabeln bis hin zu orbitalen Satelliten. Um allein den Betrieb der Server aufrechtzuerhalten, bedarf es riesiger Kühltürme. Ein Mausklick auf eine Website verbraucht eine Energie, die dem Aufbrühen einer Tasse Tee entspricht. Auch an den Rändern der extremen Ordnung, wie sie das digitale Gedächtnis darstellt, lauert also nach den Gesetzen der Entropie die Unordnung!

Deshalb reicht die ‚Zukunftssicherheit‘ des Internets, von der Mayer-Schönberger spricht (vgl.M.-Sch. 2010, S.74), nur bis zum nächsten Stromausfall. Digitalisierte Informationen werden also keineswegs „zu erschwinglichen Preisen für immer vorrätig und verfügbar“ sein. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.99) Letztlich sind die Kosten des Internet nur genauso unsichtbar, wie nach Blumenberg die spezifische Funktionalität unserer technischen Geräte. (Vgl. meinen Post vom 07.08.2010) Indem ihm eine unendliche Dauer bescheinigt wird, wird die dem digitalen Gedächtnis zugrundeliegende Technologie unsichtbar, also gewissermaßen ‚verlebensweltlicht‘. Einer solchen Mystifizierung würde eine konsequentere Berücksichtung des zweiten Satzes der Thermodynamik entgegenwirken.

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