„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 11. Dezember 2010

Erkenntnisethik – einige Gedanken zur Einleitung

"Es geht um die Lehre von den Verantwortlichkeiten des Denkens, vom Ethos in allem Denken, nicht nur um formale Wahrhaftigkeit oder existentielle Echtheit, sondern ebenso um die Lösung der Frage nach der Möglichkeit der Selbstvollendung des Denkens, die mehr ist als nur Erkenntniskritik und -theorie, Erkenntnisethik." (Alois Dempf, Maurice Blondel, in: PhJ 62 (1953), 285-290, S.288.)

Wollten wir die Frage nach dem Sinn des Menschseins wirksam beantworten, müssten wir uns einer Methode bedienen können, die einen direkten Zugang zu seiner Sinnbestimmung erlaubte. Da Sinn aber nichts erforschbar (Vor-) Gegebenes, sondern etwas erlebbar Aufgegebenes ist, kann seine Bestimmung nicht direkt, d.h. in konkreter Vorbestimmung, erfragt werden. Somit kann auch die Sinnfrage nach dem Menschen nicht direkt beantwortet werden. Wohl aber können wir sie indirekt beantworten, indem wir – bescheidener – nach dem Sinn im Menschsein und nicht nach dem Sinn des Menschseins fragen. Dann ginge es nämlich nicht mehr um den direkten Zugang zur Sinnbestimmung selbst, sondern lediglich um die Möglichkeit eines solchen Zuganges als Vorbereitung auf das Aufgegebenheitserlebnis. Diese indirekte Sinnfrage würde dann etwa lauten: Inwiefern ist der Mensch sich selbst zugänglich, um seine Sinnbestimmung erleben zu können?

Nahe liegend ist der Versuch, den Begriff des Menschen als Kollektivum aufzufassen und eine Zugangsmöglichkeit phylogenetisch im Evolutionsgedanken zu suchen. Insofern der Mensch sich selbst gattungs- und kulturgeschichtlich immer schon vorhergegangen ist, scheint sich darin eine Spur für sein sich immer schon Voraussein, also eine Vorbestimmung, abzuzeichnen. Der Sinn eines jeden Menschen wäre dann von den Gattungseigenschaften her zu suchen. Sogleich entsteht jedoch das Problem einer theoretisch-abstrakten Bestimmung, die keine direkte Sinngebung für das Individuum ergibt. Die ausschließliche Orientierung am Kollektivum (Gattung, Nation, Ethnie, Gesellschaft, Familie etc.) führt zu einer Entfremdung der personalen Identität (zugespitzt formuliert: zur Überschattung, Verdrängung und Fremdsteuerung der eigenen, selbstbestimmten Entwicklung durch Traditionen, Konventionen, Normen).
Der alternative Versuch bestünde also darin, den Begriff des Menschen als Individuativum zu begreifen und eine Zugangsmöglichkeit ontogenetisch im (einzel-) biographischen Entwicklungsgedanken zu suchen. Hier müsste nun unterschieden werden zwischen dem Menschen als principium individuationis und als Positivität bzw. je einmalige Diesheit (haecceitas). Man könnte hier mit dem früh verstorbenen österreichischen Bildungsphilosophen Franz Fischer (1929-1970) auch von einer Unterscheidung zwischen konkretallgemein und konkretindividuell sprechen (Franz Fischer, Sinn und Wirklichkeit, in: Ders., Philosophie des Sinnes von Sinn, hrsg. v. E. Heintel, Kastellaun: Henn, 1980, S. 62-82). Bei Ersterem würde sich das oben genannte Problem einer, Zeit und Raum einer Einzelexistenz übergreifenden, theoretisch-abstrakten Bestimmung auf der raumzeitlichen Ebene des einzelnen wiederholen. Auch das theoretisch betrachtete Individuum definiert sich ja als Begriff aufgrund seiner biographischen Entwicklung zwischen immer schon vorhergegangenen und stets vorausliegenden Erlebnissen (im Rahmen seiner jeweiligen Lebensspanne). Die direkte Sinngebung für das Individuum als solches würde auch nicht aus der theoretisch-abstrakten Bestimmung der Kategorie Individuum erfolgen können. Erschwerend käme sogar noch hinzu, dass hier nicht nur der Gattungsbegriff noch mitspielt, sondern auch der (nur theoretisch verstandene) Begriff des Anderen und seine Bedeutung für die (nur theoretisch verstandene) wirkliche Begegnung mit dem biographisch sich entwickelnden Subjekt.

Bleibt allein der Mensch in seiner Positivität des lebendigen Wirklichseins. Allerdings ist dieser Daseinsmodus der Theoretizität des Begriffes Mensch unmittelbar vorausgesetzt, so dass diese Kategorisierung und die davon abhängige Sinnbestimmung des einzelnen Individuums für dieses selbst immer zu spät einsetzen muss.

In der Frage nach ,dem Menschen‘ zeigt sich also letztendlich eine grundsätzliche Undurchführbarkeit seiner Bestimmung. Denn weder im allgemeinen noch im individuellen (d.h. sowohl im theoretisch als auch wirklich individuierten) Verständnis gibt es ,den Menschen‘.


Der Mensch erkenntnistheoretisch, erkenntniskritisch und erkenntnisethisch

Obwohl man mit großer Selbstverständlichkeit biologisch vom Gattungswesen Mensch oder kulturanthropologisch von den Errungenschaften in der Menschheitsgeschichte spricht, umfassen diese Kategorien jedoch niemals alle Ausprägungen des Menschseins, d.h. sämtliche seelischen, geistigen und sinnlichen Daseinsweisen aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Menschen. Freilich erscheint dieser Anspruch geradezu absurd, da es sich hierbei sowohl qualitativ als auch quantitativ um eine erkenntnistheoretisch unerreichbare Komplexitätsentsprechung handelt. Demgemäß geben die Humanwissenschaften auch vor, dieses Problem adäquat bewältigt zu haben, indem sie ihre operative Reichweite von sich aus methodisch einschränken und dadurch die Grenze zur vollständigen Wissbarkeit über den Forschungsgegenstand Mensch als eine von ihnen selbst gesetzte, ja von ihnen sogar als eigenständig und eigenmächtig selbst zu setzende betrachten! ,Was ist der Mensch?‘, sei keine Frage, die der Wissenschaft Sinn bestimmend vorausgesetzt wäre, sondern vielmehr eine Frage, die erst durch die Wissenschaft als eine sinnvoll zu beantwortende gesetzt bzw. erzeugt würde. Als wissenschaftliche Erkenntnis über den Menschen in seiner Allgemeinheit als biologische oder kulturelle Kategorie gilt demnach nur, was über ihn bereits erforscht und folglich erklärt oder interpretiert wurde und im Kontext einer Zukunftsforschung an Erwartbarem realistischerweise noch zu erforschen, erklären und deuten ist. Für die Geschichtswissenschaft beinhaltet diese Erforschung das Problem einer zweifachen Einschränkung durch Historizität. Zum einen haben wir es mit einer selektiven Überlieferung von Ereignissen zu tun, die eine Diskrepanz zwischen tatsächlicher Geschichte und der Geschichtsschreibung aufzeigt (Einschränkung in der Faktizität von historischen Ereignissen). Zum anderen wird diese Diskrepanz an sich nochmals beeinträchtigt durch die Konstruktivität menschlicher Wahrnehmung durch Standpunktbezogenheit und Subjektivität (Einschränkung in der Deutung von historischen Ereignissen). Für die Naturwissenschaft ergeben sich im Wesentlichen vergleichbare Einschränkungen aufgrund des Methodenproblems. Der ,metaphysische‘ Rest wird gezielt aus dem Blickfeld herausgenommen und somit für spekulativ, weltanschaulich oder gar irrelevant gehalten.

Erkenntniskritik als Wissenschaftstheorie wendet sich nun diesem Sachverhalt zu und fragt nach der prinzipiellen Erreichbarkeit der erkenntnistheoretischen Grenze und wo diese Grenze dann verortet werden könnte. Es geht hier also um eine Reflexion auf das theoretisch Machbare bzw. sinnvoll Erreichbare der Humanwissenschaften, um ein effizientes und möglichst umfangreiches Ausschöpfen intersubjektiv überprüfbaren Wissens bis an seine metaphysischen Ränder. Erkenntniskritik als Wissenschaftsphilosophie stellt wiederum eine reflexive Überhöhung dieses Vorgehens dar, indem sie in der wissenschaftstheoretischen Erkenntniskritik eine unauflösbare Aporie in Form einer petitio principii aufdeckt. Denn die hier angesprochene Grenze ist als selbst gesetzte eine prinzipiell andere als die tatsächliche, in der wir existentiell immer schon stehen. Die metaphysischen Ränder werden hier als ungenützter Grenzraum zwischen Theorie und Praxis identifiziert, der sich in der Frage nach der Möglichkeit einer Übereinstimmung „von Erkenntnis und Wirklichkeit, von Bewußtsein und Gegenstand oder von Sprache und Wirklichkeit“ konstituiert (Fischer, Systematische Untersuchungen zum Affinitätsproblem, in: Fischer, 1980, a.a.O, S.7-54: S.9f.). Wir können also um die tatsächliche Grenze nicht wissen, da wir sie lediglich erkenntnistheoretisch, bewusstseinstheoretisch oder sprachlich konstituieren können und alle Theorie in ihrer Versprachlichung ihrerseits nicht das Erleben (Existieren) und dessen unmittelbaren Sinn als solchen hinreichend wiedergeben kann. Diese prinzipielle Grenze zwischen Sprache und Wirklichkeit bzw. Versprachlichung des Gemeinten und seinem Erlebtwerden wird in der Kurzgeschichte „Das unerbittliche Gedächtnis“ des argentinischen Schriftstellers, Jorge Luis Borges, auf sehr anschauliche Weise beispielhaft thematisiert. (Jorge Luis Borges, Das unerbittliche Gedächtnis, in: Ders., Lotterie in Babylon – die schönsten Erzählungen, Berlin 1997).

Diese Einsicht wiederum ist jedoch auch nur theoretisch in ihrer Reichweite. Es gibt deshalb die Möglichkeit einer letzten Reflexionsüberhöhung, die in dieser Tatsache (einer prinzipiellen Vorausgesetztheit der wirklichen Grenze) an sich eine Sinnbestimmung sieht. Hier wird die Grenze nicht mehr gesetzt und auch nicht mehr die Diskrepanz zwischen der wirklichen und der theoretischen Grenze reflektiert, sondern gefordert, sich zu der wirklichen Grenze in ihrer theoretischen Unerreichbarkeit praktisch-ethisch zu verhalten. Es geht also um Erkenntnisethik.

3 Kommentare:

  1. Wenn weder phylogenetische (also einerseits biologische, andererseits kulturanthropologische) noch ontogenetische (also psychologische und pädagogische) Betrachtungsformen des Menschen einen Begriff des Menschen ermöglichen können, wie wäre es dann mit einer Triangulation all dieser Betrachtungsweisen, wie sie z.B. Damasio für die Frage nach dem Bewußtsein vorschlägt? Sie würden zwar zu keinem Begriff des Menschen im eigentlichen Sinne führen, aber vielleicht eine anthropometrische Vermessung des Umfangs des Menschlichen ermöglichen.

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  2. Ich stoße gerade zufällig bei der Lektüre von Hermann Schmitz (Der unerschöpfliche Gegenstand (3/2007)) auf den Begriff des „beschränkt streuenden Sachverhaltes“ (S.60), worunter er Sachverhalte versteht, die inhaltlich nicht vollständig definiert/definierbar sind. Sie beinhalten einen „Spielraum“ an möglichen Bedeutungen, sind aber „an den Rändern für das, was ... ‚nicht mehr geht‘, fein empfindlich.“ (Vgl.S.61) Genau so stelle ich mir die ‚Beschreibung des Menschen‘ vor, im Sinne der Beschreibung eines beschränkt streuendes Sachverhaltes verbunden mit einem feinen Gespür für die menschliche Differenz.

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  3. Bei meinem Kommentar vom 12.12.2010 fiel mir die Formulierung „anthropometrische Vermessung“ spontan ein, und ich verwendete sie, wie ich gestehen muß, mit einem gewissen Vergnügen. So etwas fällt einem nicht alle Tage ein. Daß ich mich damit haarscharf an der von mir entschieden abgelegten Physiognomik entlang bewegte, war mir dabei schon klar. Aber wie ich nun, da ich den Begriff in verschiedenen Lexika nachgeschlagen habe, feststellen muß, haben sich auch Rassentheoretiker dieses Ausdrucks bedient. Heutzutage wird er eher unverfänglich benutzt, z.B. für ergonomische Maßnahmen am Arbeitsplatz oder bei der Gestaltung von Fahrzeugen, Möbeln etc. Bei der Lektüre von Plessners „Lachen und Weinen“ stoße ich gerade auf eine längere Anmerkung zur Physiognomik, der ich mich nur vollinhaltlich anschließen kann. Plessner stellt zum Versuch, physiognomische Charakterbestimmungen festzulegen, klar, „daß viele derartige Eigenschaften gar keine sind, sondern Gelegenheitsbildungen beim Zusammenstoß einer Person mit einer bestimmten Lage“ und daß deshalb „unser physiognomisches Urteil über den Menschen überhaupt einer Fülle von Voreingenommenheiten und Schwächen (unterliegt). Die meisten derart am Ausdrucksbild orientierten Beschreibungen gebrauchen ‚Begriffe‘ aus der menschlichen Sphäre, die keine Begriffe sind, sondern Vorwürfe und Lobsprüche.“ (Vgl. Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, München 2/1959, S.69)

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