„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 26. April 2010

Tomasello 2 (Fortsetzung)

(Vgl. auch meine Posts vom 24.05.2011 und vom 06.06., 07.06. und 08.06.2012)

Wilhelm von Humboldt als einer der Begründer der modernen Sprachwissenschaften hatte noch postuliert, daß die Sprache mit dem ersten gesprochenen Wort schon vollständig gegeben sei. Demnach hat sich die Sprache also nicht im eigentlichen Sinne ‚entwickelt‘, sondern sie ist gleichsam das Produkt einer genialen Schöpfung des ersten Menschen, der das erste Wort an einen Mitmenschen richtete (und dann auch gleich von ihm verstanden wurde). Dem entspricht die Vorstellung, daß das Bewußtsein ein nicht teilbares Ganzes bildet, das sich nicht in einzelne, womöglich dann auch noch selbständig weiterfunktionierende Teile zerlegen läßt. Und Bewußtsein – insbesondere Selbstbewußtsein – konnte man sich einfach nicht ohne Sprache vorstellen. – Diese Vorstellung hat die wissenschaftliche Forschung im 19. und 20. Jhdt. durchgehend geprägt. Immer wenn es um das menschliche Bewußtsein ging, ging man von seiner prinzipiellen Sprachlichkeit aus, immer im engeren Sinne einer ausgebildeten Wortsprache, und das Bewußtsein wurde dem biologischen Organismus, dem Körper, gegenübergestellt, als ein eigenständiges Gebilde, als im emphatischen Sinne Geist.

Beides ist falsch, wie wir inzwischen sowohl aus der neurophysiologischen (Antonio Damasio) wie auch aus der anthropologischen (Michael Tomasello) Forschung wissen: nicht nur das Bewußtsein erstreckt sich auf verschiedene, den evolutionären Prozeß der Menschwerdung widerspiegelnde, in sich selbständige Ebenen vom Proto-Selbst über das Kern-Selbst, dem erweiterten Bewußtsein bis hin zum Gewissen und zur Ethik als den höchsten Errungenschaften des menschlichen Bewußtseins; dieses Bewußtsein funktioniert über weite Strecken vorsprachlich. Aber auch die spezifisch menschliche Sprachlichkeit bildet kein unteilbares Ganzes, sondern setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen, die sich in der vorsprachlichen Phase der menschlichen Ontogenese (Kleinkinder) nach und nach entwickeln und jeweils unabhängig voneinander funktionieren, bis sie sich bei voll ausgebildeten, sprachkompetenten Erwachsenen zu einem sprachlichen Ganzen integrieren. Diese Beobachtung an der Sprachentwicklung von Kleinkindern läßt zurückschließen auf entsprechend phylogenetische Vorgänge der menschlichen Evolutionsgeschichte.

Zu jeder vollausgebildeten Sprache gehört eine entsprechende Grammatik mit Syntax. Hier bewegen wir uns auf der konventionellen Ebene, d.h. der Ebene der kulturellen Entwicklung; denn Sprachkonventionen entstehen zwar nicht unabhängig von der biologischen Evolution, verlaufen aber nach ganz eigenen, historischen Gesetzen. Tomasello unterscheidet drei Ebenen der Syntaxbildung, die einfache (1), die ernsthafte (2) und die extravagante (3) Syntax, wobei die erste noch am engsten mit den biologischen Bedingungen des menschlichen Organismus zusammenhängt. Die einfache Syntax funktioniert noch auf der Ebene der Kombination von Zeigegesten und Gebärdensprache. (S.286 u.ö.) Hier gibt es eine einfache Ereignis-Teilnehmer-Anordnung, also letztlich nur die Kombination von mindesten zwei Gesten, wobei eine Geste wegfallen kann, wenn der gemeinsame Hintergrund eindeutig genug ist, daß z.B. eine Zeigegeste ausreicht. Auch Schimpansen sind zu einer solchen einfachen Syntax in der Lage. Diese einfache Syntax reicht aus, um Aufforderungen zu kommunizieren. Menschliche Kleinkinder wollen allerdings schon auf dieser Ebene mehr. Sie wollen mit ihren menschlichen Bezugspersonen Gefühle teilen, und sie wollen, daß alle Beteiligten wissen, daß man sie teilen will. Ansonsten zeigen sie deutliche Anzeichen von Unzufriedenheit.

Auf der Ebene einer ernstzunehmenden Syntax werden Informationen ausgetauscht. (S.289ff.u.ö.) Die Grammatik muß den Kommunikationspartnern zu diesem Zweck syntaktische Mittel zur Identifikation von Gegenständen und ihrer Strukturierung zur Verfügung stellen. Dazu eignet sich z.B. die Reihenfolge der Wörter und Phrasen im Satz. Aber auch die Kombination mit dem Gesichtsausdruck und der Betonung ist möglich, oder auch die Konventionalisierung von ursprünglich natürlichen Gesten oder sprachlichen Ausdrücken.

Die Konventionalisierung ist Tomasello zufolge überhaupt ein hochinteressantes Phänomen. Sie stellt ein ausschließlich kulturelles Produkt dar und hat überhaupt nichts gemeinsam mit Naturvorgängen. Deshalb ist ihr Effekt hinsichtlich der Sprachentwicklung auch einzigartig im Vergleich mit einer analogen evolutionären Entwicklung von Kommunikationssignalen im Tierreich. Jede Tierart entwickelt arttypische Signale, ob es sich nun um Alarmsignale handelt oder um solche der Paarungsbereitschaft und Brautwerbung. Diese Signale sind für alle Individuen einer Tierart gleichermaßen verständlich und überall, wo diese Tierart auf diesem Globus vorkommt, gleich. Nicht so beim Menschen! Die Konventionalisierung hat dazu geführt, daß es um die 6000 verschiedene Sprachen gibt. Wer seine Muttersprache beherrscht, wird sich mit ihr nur dort verständlich machen können, wo er geboren wurde und aufgewachsen ist. Ansonsten muß er auf Gesten und Gebärdensprache zurückgreifen.

Die Konventionalisierung der Sprache hängt also eng mit kulturellen Vorgängen zusammen; präziser: sie ist ein kultureller Vorgang, und sie beruht auf der „Drift zum Arbiträren“ (S.236ff.u.ö.), wie Tomasello es nennt. Am Beispiel der „Nicaragua-Zeichensprache“ kann man diesen Prozeß der Konventionalisierung beobachten (vgl.S.294ff.): Gehörlose Kinder wurden in einer schulischen Umgebung zusammengebracht und entwickelten dort „spontan bestimmte Formen der Kommunikation untereinander, indem sie eine gemeinsame Menge von Zeichen benutzten.“ (Vgl.S.294f.) Gehörlose Kinder, die ohne Kontakt mit anderen Gehörlosen aufwachsen, entwickeln normalerweise eigene „Home-Sign-Gebärdensprachen“, die sich an der Notwendigkeit orientieren, auch von Normalhörenden verstanden zu werden. Home-Sign-Gebärdensprachen bleiben grammatisch rudimentär. Erst gemeinsam mit anderen Gebärdensprachlern entwickeln gehörlose Kinder spontan kompliziertere Grammatiken. So auch die Kinder in Nicaragua, wobei auch deren Gebärdensprache im Vergleich mit ausgereiften, konventionalisierten Sprachen vergleichsweise primitiv blieb.

Dann aber kam eine zweite Generation von gehörlosen Kindern hinzu, und jetzt entstand das, was Tomasello die „Drift zum Arbiträren“ nennt: Die „Novizen“ (S.295) kannten den Entstehungszusammenhang einzelner Gebärden nicht, der für die Erfinder dieser Gebärden durchaus einen natürlichen Hintergrund hatte, spontan entstanden aus der Kombination von Zeigegesten und ikonischen Darstellungen. Diese ikonischen Darstellungen waren nun zu funktionalen Teilen einer gemeinsamen Syntax konventionalisiert, und die Kinder der zweiten Generation kannten nur diese syntaktische Funktion, die sie in der lebensweltlichen Praxis des gemeinsamen Handelns und Kommunizieren jeweils errieten und mehr oder weniger richtig anwandten. Es gibt gewissermaßen „blinde Flecken“ im Verstehen der Syntax, die auf diese Unkenntnis der Entstehungsgeschichte zurückzuführen sind. Die syntaktischen Elemente bekommen also etwas Arbiträres, und bei jeder Generation entsteht diese „kulturelle Dialektik“(S.309) aus Verstehen und Nicht-Verstehen aufs Neue, so daß Innovationen in der grammatischen Entwicklung einer Sprache ganz von selbst entstehen. Der Effekt ist das, was wir kulturelle Entwicklung nennen können, und nicht zuletzt der Sprachenwandel der zu den genannten 6000 Sprachen auf unserem Globus geführt hat

Demnächst mehr zur extravaganten Syntax ...

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