„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 5. März 2018

Adrian Owen, Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod, München 2017

(Verlagsgruppe Droemer Knaur, Hardcover, 320 S., 19.-- €)

1. Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie
2. Bewußtseinskriterien I
3. Körper, Gehirn und Bewußtsein
4. Bewußtseinskriterien II
5. Ethik und Seele

Der Grundsatzstreit zwischen Maureen, der früheren Freundin, und Owen über den Vorrang von Forschung oder Pflege hatte Owen früh für ethische Fragen sensibilisiert. Hinzu kamen die tragischen Ereignisse, Maureens Gehirnblutung und der Gehirntumor seiner Mutter, die Owens Interesse an der weiteren gesundheitlichen Entwicklung seiner Wachkomapatienten wachhielt, so daß er sich immer wieder mit der Frage auseinandersetzte, wie er mit ihnen während der Scans umgehen sollte und wie er mit seiner Arbeit dazu beitragen konnte, ihre Lebensumstände zu verbessern. So ist Owen sehr betroffen von Juans Bericht, daß die fMRT-Scans bei ihm große Angst ausgelöst hatten:
„‚Was wissen Sie noch vom ersten Mal, als wir Sie scannten?‘, fragte ich ihn. ‚Ich hatte Angst.‘ ... ‚Warum hatten Sie Angst?‘ ‚Ich wusste nicht, was passiert.‘ Ich musste ihm die nächste Frage stellen: ‚Würden Sie sagen, dass wir Ihnen nicht genug mitgeteilt haben, was passieren wird, als wir Sie jenes erste Mal in die Röhre schoben?‘ Er schaute mich direkt an: ‚Auf jeden Fall‘, antwortete er. Ich war entsetzt.“ (Owen 2017, S.258)
Es ist diese sich selbst nicht schonende Offenheit, mit der Owen die Problematik des Umgangs von Neurowissenschaftlern mit ihren Probanden beschreibt, für die ich ihn sehr schätze. Juan gehört zu den ganz wenigen Wachkomapatienten, die es geschafft haben, ins Leben zurückzukehren. Sein Zustand hatte auf der Glasgow-Koma-Skala bei drei von fünfzehn möglichen Punkten gelegen: „Weniger als drei Punkte kann man gar nicht haben, jedenfalls nicht ohne tot zu sein.“ (Owen 2017, S.248).

Daß Juan es ins Leben zurück geschafft hat, kommt einem Wunder gleich; umso mehr als er auch körperlich fast vollständig genesen ist. Einen großen Anteil daran hat die unerschütterliche Unterstützung durch seine Mutter:
„‚Im Krankenhaus wussten sie nicht, was sie tun sollten‘, erzählte die Mutter. ‚Sie tischten immer nur noch mehr Medikamente auf. Sieben Antibiotikatherapien innerhalb von drei Monaten. Sein Immunsystem versagte. Er hatte immer wieder vier oder fünf Tage lang hohes Fieber. Durch die Sauerstofftherapie wurde sein Immunsystem gestärkt. Ich zog eine Ernährungsberaterin hinzu, die sich mit Hirnschädigungen auskannte und ganz spezielle Ergänzungsmittel empfahl. Wir managten alles selbst. Juans Besserung war kein Wunder, sondern jede Menge harte Arbeit.‘“ (Owen 2017, S.258)
Als besonders bewegend empfinde ich Juans Bemerkung, daß er während der Scans geweint habe:
„Wir filmten die Gesichter unserer Patienten üblicherweise mit einer winzigen Kamera in der Röhre und überwachten die Patienten sehr genau. In den Akten fanden sich aber keine Notizen, aus denen hervorging, dass Juan während des Scans geweint hatte. ‚Sind Ihnen Tränen gekommen?‘ ‚Tränen sind mir nicht gekommen, aber ich habe trotzdem geweint.‘“ (Owen 2017, S.259f.)
Das wirft nochmal ein Schlaglicht auf die Rekursivität im Umgang zwischen den Experimentatoren und ihren Probanden, den Wachkomapatienten: sie funktioniert schlicht und einfach nicht. Alles, worauf sich die Neurowissenschaftler konzentrieren, sind die technologischen Mittel der Bildgebung, und was die bunten Bildchen ihnen zu sehen geben, enthält keinerlei Hinweise auf Tränen. Die Mutter eines anderen Wachkomapatienten hingegen wußte genau, was in ihrem Sohn vorging, noch bevor Owen und sein Team ihre Tests mit ihm durchgeführt hatten. Bei Scott, dem Sohn von Anne, wollten sie zum ersten Mal versuchen, etwas über seine Befindlichkeit herauszufinden, um ihm eventuell helfen zu können. Sie wollten wissen, ob er Schmerzen hatte und fragten bei der Mutter nach, ob sie damit einverstanden wäre: „‚Legen Sie los‘, sagte Anne. ‚Scott soll es Ihnen sagen.‘“ (Owen 2017, S.195) – Das Ergebnis der Befragung war erfreulich: Scott ging es gut. Aber das hatte die Mutter schon vor der Befragung gewußt: „‚Ich wusste, dass er keine Schmerzen hat‘, erklärte sie. ‚Andernfalls hätte er es mir gesagt.‘“ (Owen 2017, S.197)

Alles in allem sind die Ergebnisse der Scans von Scott also einerseits zwar erfreulich, andererseits aber für das Team ernüchternd:
„Scotts Reaktion im Scanner bestätigte lediglich das, was Anne bereits wusste. Für sie war klar, dass Scott im Inneren noch präsent war. Wie sie das wissen konnte, werde ich nie ergründen. Aber sie wusste es.“ (Owen 2017, S.197)
Immer wieder stößt Owen auf den für ihn irritierenden Umstand, daß die Familienangehörigen von der geistigen Präsenz ihrer komatösen Angehörigen felsenfest überzeugt sind und behaupten, mit ihnen zu kommunizieren, während die Ärzte und auch Owen und sein Team mit all ihrem Fachwissen und ihrer Technologie keinerlei Bewußtsein bei ihnen feststellen können. Owen weist zwar auf die Neigung der Menschen hin, Umstände und körperliche Signale so zu deuten, daß sie die vorgefaßte Meinung bestätigen, aber das gilt natürlich für beide Seiten, sowohl für die Forscher wie für die Familienangehörigen:
„Wir sind alle furchtbar anfällig für eine Bestätigungsneigung, doch für die Wachkomaforschung wird diese zu einem echten Problem. Menschen neigen dazu, Informationen so zu suchen, zu deuten und zu speichern, dass die bestehenden Überzeugungen bestätigt werden.“ (Owen 2017, S.186)
Bei Wachkomapatienten haben wir es mit Menschen zu tun, die gleichzeitig wach sind – sie geben Laute von sich und bewegen Augen und Körperteile, als wären sie bei Bewußtsein – und reaktionslos, d.h. sie reagieren auf keinerlei Ansprache durch andere Menschen oder auf Reize aus der Umwelt. Sie sind also irgendwie da und dann doch auch wieder nicht da. (Vgl. Owen 2017, S.77f.) Owen spricht von „Schwellenzustände(n)“, von „schwer fassbaren Grenzen zwischen Gehirn und Geist“ in der Grauzone. (Vgl. Owen 2017, S.286) Das erinnert an Plessners Beschreibung der Seele. Die ‚Seele‘ ist Plessner zufolge ein „Geschöpf der Nacht“. Sie zeigt sich, indem sie sich verbirgt. Sie ist expressiv: sie will verstanden, aber nicht durchschaut werden.

Von diesem ambivalenten Verhalten ist auch die Intimität, die Vertrautheit zwischen gesunden Menschen geprägt. Wenn wir einander auf eine Weise kennenlernen wollen, die auf mehr hinausläuft als auf bloße Bekanntschaft, erleben wir genau dieses Verhalten, rückhaltlose Offenheit und ängstliche Scheu, tiefste Vertrautheit und plötzliche Fremdheit, wie es auch Owen in seiner Beziehung mit Maureen erlebt hat.

Was die Angehörigen von Wachkomapatienten erleben, entspricht diesem Muster: da ist jemand, den man zu kennen glaubt, da, und er gibt Lebenszeichen von sich, und er ist zugleich nicht da und unendlich fremd. Dieser Umstand ‚beseelt‘ die Beziehung zwischen den Angehörigen und den Wachkomapatienten. Er verleiht ihr eine rekursive Spannung: die Grundlage jeder echten Kommunikation.

Und bei einigen Wachkomapatienten führt es tatsächlich zu dem Ergebnis, daß sie aufwachen und wieder eintreten in ein Gespräch, das die ganze Zeit, während sie reaktionslos dabei lagen oder saßen, schon stattgefunden hat.

Allerdings kommt Owen noch auf einen anderen Umstand zu sprechen. Wenn Wachkomapatienten in die Lage versetzt werden – durch Genesung oder durch Technologie –, etwas über ihre Befindlichkeit preiszugeben, ist diese häufig besser, als Außenstehende es erwartet hätten. Es gibt eine Studie, in der 91 Locked-in-Patienten befragt wurden:
„Entgegen der allgemeinen Erwartung erklärte ein signifikanter Anteil der Patienten (72 Prozent all derer, die auf die Fragen antworteten), glücklich zu sein. Darüber hinaus brachte die Studie ein weiteres interessantes Ergebnis: Je länger ein Patient schon ‚in sich selbst gefangen‘ war, desto ausgeprägter war sein Wohlbefinden.()“ (Owen 2017, S.224)
Owen zufolge weckt das Ergebnis dieser Studie Zweifel daran, ob gesunde Menschen, die Patientenverfügungen verfassen, in denen sie im Falle einer Erkrankung oder eines Unfalls das Abschalten der lebenserhaltenden Maschinen verlangen, wirklich sicher sein können, daß sie im Ernstfall tatsächlich noch genauso empfinden würden. Die überraschende Lebenszufriedenheit von Locked-in-Patienten ist jedenfalls nicht nur für Wissenschaftler wie Owen, sondern wohl für jeden gesunden Menschen im hohen Maße irritierend:
„Wie können so viele dieser Patienten zufrieden sein? Das ergibt keinen Sinn.“ (Owen 2017, S.226)
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2 Kommentare:

  1. Hab das Blog gerade entdeckt und finde es spannend. Daher hab ich es in meine Blogbibliothek (Seite für geistreiche Blogs, die gerade entsteht) aufgenommen:

    http://www.claudia-klinger.de/digidiary/blogbibliothek-teil-2/

    Leider ist es wenig hilfreich, mehreren Blogartikeln diesselbe Überschrift zu geben (hab es deshalb auf 2 begrenzt..), obwohl das doch vermeidbar wäre: Einfach Zwischentitel zur Überschrift machen und in Intro dann den Gesamtzusammenhang darstellen.

    Trotdem: sehr interessant! Hoffe, das Blog geht weiter - auch mal wieder mit wechselnden Titeln!

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    1. Ich danke Dir für den Eintrag in Deiner Blogbibliothek! Darüber freue ich mich sehr.

      Deine Anregung, die Titel meiner Blogposts anders zu organisieren, ist bedenkenswert. Aber tatsächlich bin ich inzwischen dabei, mich aus der Bloggerei zu verabschieden. Ich habe mir einen Termin im April 2020 gesetzt. Dann habe ich den Blog 10 Jahre betrieben, und es wird Zeit, mich von dieser Phase in meinem Leben zu verabschieden. Das sind zwar noch zwei Jahre, aber ich werde dennoch keine solchen Änderungen mehr vornehmen. Einige der Rezensionen beruhen auch auf kostenlos vom Verlag zur Verfügung gestellten Rezensionsexemplaren. Da muß einfach der Titel des Buches auch der Titel des Blogposts sein.

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