„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. Januar 2018

Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011

1. Prolog: Begriffe und Tatsachen
2. Komplexe Mißbrauchssysteme
3. Strukturmerkmale einer Vorzeigeschule: Abbotsholme
4. Knabenliebe und pädagogischer Eros
5. Fluktuation von Personal und Klientel
6. Gesellschaftliche Verantwortung

Jürgen Oelkers befaßt sich in seinem Buch „Eros und Herrschaft“ (2011) mit der Anfangszeit der deutschen Landerziehungsheime vom Ende des 19. Jhdts. bis zum Zweiten Weltkrieg. Der Fokus seiner Aufmerksamkeit richtet sich bewußt auf die dunklen Seiten der sogenannten Landerziehungsheimbewegung, wie die Gründer der Landerziehungsheime ihre eigenen Aktivitäten nannten. Das „Suchverhalten“, so Oelkers, legt fest, was gefunden wird. (Vgl. Oelkers2011, S.11f.) Das bisherige wissenschaftliche und von interessierten Intellektuellen geprägte ‚Suchverhalten‘ war von den Selbstbeschreibungen der Gründer und ihrer Nachfolger beeinflußt, die wenig Interesse daran hatten, das Mißlingen ihrer Praxis zu dokumentieren:
„Die Rhetorik der ‚neuen‘ und ‚besseren‘ Erziehung lässt dafür auch keinen Raum, sie bemüht Ideale, die nicht unrein erscheinen dürfen, denn anders wären sie nicht glaubwürdig. Wer von der Sprache, dem Duktus und der Selbstsicht der Reformpädagogik ausgeht, wird bei aller Verschiedenheit der Ansätze keine dunklen Seiten entdecken, weil sie naturgemäß nicht thematisiert werden. Ein Großteil der vorliegenden Literatur übernimmt die reformpädagogische Rhetorik und schließt von dort auf die Praxis.“ (Oelkers 2011, S.8)
Oelkers gesteht ein, daß er selbst es nicht für möglich gehalten hätte, wie sehr sich die Praxis der Landerziehungsheime schon von Beginn an von ihrer ‚Theorie‘ bzw. Rhetorik unterschied. Die bisherige Auseinandersetzung mit den Landerziehungsheimen habe sich, so Oelkers, auf „Ideologiekritik“ beschränkt, sprich: sich auf die Selbstdarstellungen der Gründer fokussiert, und schon von daher die Praxis in den Internaten nur am Rande zur Kenntnis genommen. Aber, so Oelkers, es sei gleichermaßen „naiv wie unentschuldbar“ gewesen, „mit dunklen Seiten nicht gerechnet zu haben“. (Vgl. Oelikers 2011, S.11)

Die „2010 im Vorfeld zur Hundertjahrfeier der Odenwaldschule bekannt gewordenen Fälle von sexueller Gewalt und die im Anschluss daran geführte öffentliche Diskussion über die deutsche Reformpädagogik“ waren für Oelkers deshalb der Anlaß, seine eigene kritische „Dogmengeschichte“ der Reformpädagogik 2011 mit einer Aufarbeitung eben dieser dunklen Seiten zu ergänzen. (Vgl. Oelkers 2011, S.12)

Gleich zu Beginn seines Buches erweitert Oelkers den Begriff des Mißbrauchs um die Dimension des Machtmißbrauchs in nach außen abgeschlossenen Institutionen, wie es sie in Internaten lange vor den Landerziehungsheimen schon immer gegeben hatte:
„Mit ‚dunklen Seiten‘ sind nicht nur Fälle von sexuellen Übergriffen gemeint, sondern alle Formen von Gewalt, also Übergriffe ebenso wie Erpressungen, Bedrohungen und Willkür etwa durch ungerechtfertigte Etikettierungen.“ (Oelkers 2011, S.8; vgl. auch S.17)
Schon immer hat es in diesem umfassenden Sinne von Mißbrauch in Internaten und Alumnaten Übergriffe von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen, aber auch unter den Kindern und Jugendlichen selbst gegeben. Für letzteres gibt es sogar einen eigenen Begriff: Pennalismus. (Vgl. Oelkers 2011, S.50, 90, 219f., 278) Das Wort stammt von lateinisch ‚penna‘, ‚Feder‘, eine Anspielung auf das Primat der Schrift und des Buches in Bildungseinrichtungen. Als ‚-ismus‘ bezeichnet es die schülerinterne Hierarchie und den Machtmißbrauch älterer Schüler gegenüber jüngeren Schülern:
„Alumnate in der Priesterausbildung waren außerhalb der kirchlichen Pädagogik nie ein Vorbild für die Schule und Internate sind immer von Berichten über Gewaltanwendung und sexuellen Verfehlungen – besonders unter den Schülern – begleitet worden, was zu scharfen Maßnahmen der Repression geführt hat. Der Dresdner Gymnasialrektor Johann Christian Schöttgen() etwa beschrieb 1747 eindringlich das ‚Pennal-Wesen‘ an den Universitäten, das darin bestand, Novizen oder ‚neue Pennalen‘ zu unterdrücken, zu demütigen und finanziell auszunehmen, ohne dass der Gewalt Einhalt geboten wurde ... . Ähnliche Herrschaftsformen unter den Schülern gab es auch in den Internaten.“ (Oelkers 2011, S.50)
Solche Mißbrauchsstrukturen blieben in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit meist unbeachtet, und auch in der „Erinnerungsliteratur“ wurde nur selten darüber berichtet. (Vgl. Oelkers 2011, S.278) Bekannter waren und sind „aggressive Handlungen von Lehrkräften oder Strafen“. (Vgl. ebenda) Daß geschlossene Einrichtungen, wie sie Internate nun einmal sind, immer etwas mit Herrschaft und Machtmißbrauch zu tun haben, ist deshalb Oelkers zufolge keine Frage:
„Eher ist die Frage, warum man pädagogischen Fortschritt von kleinen ‚privaten Zirkeln‘ und ‚in sich abgeschlossenen Bewegungen‘ ... – also Sekten – überhaupt hat erwarten können.“ (Oelkers 2011, S.126)
Geklärt werden muß Oelkers zufolge also vor allem die Frage, „in welchen Formen Macht ausgeübt und wie sie von Gewalt abgegrenzt wird, und sie kann an jede Schule gestellt werden, nicht nur an die, die zur Reformpädagogik gehören sollen“. (Vgl. Oelkers 2011, S.9)

Eine weitere Mißbrauchsebene neben der von Erwachsenen gegenüber den Schülern und von Schülern untereinander bildete das Arbeitsverhältnis zwischen Internatsleitern und ihren Mitarbeitern, also unter den Erwachsenen selbst. Die Gründer der Landerziehungsheime betrachteten ihre Internate als ihren Privatbesitz und duldeten keine Infragestellung ihres Machtanspruchs. Kritik war bei allen Gründern ein absolutes ‚geht gar nicht‘, natürlich rhetorisch mehr oder weniger geschickt verpackt:
„Es gibt keinen bekannten deutschen Reformpädagogen, der je einen folgenschweren Fehler zugegeben oder sich selbst und das eigene Konzept öffentlich korrigiert hätte.“ (Oelkers 2011, S.8)
Je nach Charakter der jeweiligen Gründerpersönlichkeit reichte die Variationsbreite der Kritikunterdrückung von offener Repression bis hin zu demokratisch camouflierten Manipulationen (vgl. Oelkers 2011, S.179, 183). Das wichtigste Herrschaftsinstrument der Gründer bestand in der reformpädagogischen Attitüde, immer auf der richtigen, der guten Seite zu stehen, und innerhalb ihrer Internate war die richtige Seite immer die des Internatsleiters:
„Die Sprache der Reformpädagogik ist ebenso ambitioniert wie selbstgerecht, und sie verführt dazu, unbesehen zuzustimmen, auch weil die damit kommunizierte hohe Moral suggestiv nahelegt, auf der richtigen Seite zu stehen.“ (Oelkers 2011, S.8)
Der Internatsleiter war natürlich – aus eigener Sicht – nicht einfach für sich selbst auf der richtigen Seite, sondern auf der Seite des Kindes. Aber er hatte die Definitionsmacht darüber, worin diese in den jeweiligen konkret zur Entscheidung stehenden Situationen bestand. So wurde auch der pädagogische Idealismus der Erzieher und Lehrer zu einem Herrschaftsinstrument in den Händen der Gründer, die deren Bereitschaft ausbeuteten, sich ungeachtet geregelter Arbeitszeiten und Tarife für das Wohl der Kinder zu engagieren:
„Die Lehrkräfte waren klar unterbezahlt, und das spricht nicht gerade für eine Vorzeigeschule (wie die Odenwaldschule – DZ), die ja nicht einfach die Mitarbeiter ausbeuten und die geleistete Arbeit mit dem pädagogischen Idealismus verrechnen kann. Aber genau das war der Fall. ... Es lohnte sich also nicht, an der Odenwaldschule als Lehrerin oder als Lehrer anzufangen, es sei denn, man fand nichts Anderes oder teilte die Ideen der Schule ...“ (Oelkers 2011, S.160f.)
Schon Hermann Lietz (1868-1919) „bezahlte seine Lehrkräfte unter Tarif, wobei es lange dauerte, bis in seinen Landerziehungsheimen überhaupt eine Besoldungsstruktur festgelegt war“. (Vgl. Oelkers 2011, S.168) Abgesehen von dieser Form der ökonomischen Ausbeutung waren die Landerziehungsheime außerdem Schauplatz ständiger Machtkämpfe zwischen den Gründern und ihren Mitarbeitern, wozu auch die internen Familienstrukturen beitrugen, in denen „Oberhäupter“, zunächst hauptsächlich ‚Familienväter‘ und erst später auch Familienmütter, nach eigenem Gutdünken ihre eigenen Enklaven innerhalb der Enklave, die das Internat bildete, leiteten. Gustav Wyneken (1875-1964) hatte die ‚Familien‘, kleine interne Gemeinschaften aus Schülern und einem Lehrer, 1901 im von Hermann Lietz 1898 gegründeten Landerziehungsheim Ilsenburg eingeführt. (Vgl. Oelkers 2011, S.91)

Zuvor war das Landerziehungsheim von einem Präfektensystem geprägt gewesen, in dem ältere Schüler im Auftrag des Internatsleiters ihre Mitschüler kontrollierten und bespitzelten:
„Die Präfekten waren Gehilfen der Herrschaft, die zugleich Spitzeldienste leisteten, also vertrauliche Informationen an den Schuleiter weitergaben. Mit diesem Wissen, das bei Gelegenheit eingesetzt wurde, konnte die Herrschaft gefestigt werden. Lietz hatte vor allem in den Anfangsjahren unter den älteren Schülern offene Gegner, die auf diese Weise unter Druck gesetzt und gefügig gemacht werden konnten.“ (Oelkers 2011, S.90)
Die von Wyneken eingesetzte Familienstruktur setzte dieser Herrschaft nicht etwa ein Ende, sondern bildete „in den Landerziehungsheimen eine zweite Herrschaftsebene unterhalb der Schulleitung“. (Oelkers 2011, S.90) Die Folge war, daß alle aus den Lietzschen Landerziehungsheimen hervorgegangenen Nachfolgeeinrichtungen, die die Familienstrukturen übernahmen, von ständigen Machtkämpfen zwischen den Internatsleitern und ihren Mitarbeitern gekennzeichnet waren. Paul Geheeb (1820-1961) entschloß sich deshalb 1930, in der Odenwaldschule die Familienstruktur aufzulösen und stattdessen ein Wartesystem – man denke dabei an Wörter wie ‚Hauswart‘ oder ‚Torwart‘ – einzuführen:
„Die ‚Familie‘ war eine Herrschaftsform, die Paul Geheeb als Schulleiter nicht direkt beeinflussen konnte. Er ordnete daher im Frühjahr 1930 an, die Familienorganisation aufzulösen und durch ein ‚Wartesystem‘ zu ersetzen. ... Geheeb bestimmte selbst, wer von den Schülerinnen und Schülern die Rolle der Warte übernehmen sollte und er regierte direkt mit einer ständigen ‚Wartekonferenz‘ ...“ (Oelkers 2011, S.183)
Im Grunde führte Geheeb mit seinem „Wartesystem“ das ursprüngliche Präfekten- und Spitzelsystem wieder ein, das es zu Beginn in Ilsenburg gegeben hatte. Das Wartesystem bestand bis 1934. Danach wurden wieder die Familien eingeführt, weil die Nationalsozialisten nach Geheebs Auswanderung in die Schweiz „glaubten, mit der alten Form der Familien leichter regieren zu können“. (Vgl. Oelkers 2011, S.184)

Halten wir an dieser Stelle also fest: nach außen abgeschlossene Einrichtungen wie Internate bergen die Gefahr, interne Strukturen herauszubilden, die Mißbrauch auf drei verschiedenen Ebenen ermöglichen: zwischen Schülern, zwischen Erwachsenen und Schülern und zwischen den Erwachsenen selbst. Eine pädagogische Einrichtung, die sich dieser Problematik nicht stellt, sondern Konzepte einer „neuen Erziehung“ vertritt, die von vornherein Nachfragen bezüglich der organisationsspezifischen Mißbrauchsgelegenheiten kategorisch ausschließen, ist bestenfalls ‚naiv‘; aber es ist wahrscheinlicher, daß die Motive dieser spezifischen Blindheit für die eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen von Internaten woanders liegen. In den folgenden Blogposts wird zu zeigen sein, daß wir es mit fragwürdigen Motiven zu tun haben, die vor allem in den Gründer- und Lehrerpersönlichkeiten zu suchen sind. Nicht vergessen werden darf dabei auch der Blick auf eine gesellschaftliche Öffentlichkeit, die sich für den tatsächlichen Mißbrauch nicht interessiert.

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