„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 1. August 2017

Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen 2016

1. Zusammenfassung
2. Gestaltwahrnehmung
3. Palimpsest-Städte
4. gebrochene Biographien
5. Breite Gegenwart

Aleida Assmann verwendet in ihrem Buch „Formen des Vergessens“ (2016) verschiedene Metaphern für das Gedächtnis: die Gefäßmetapher, die sie anhand einer Illustration aus dem Barock veranschaulicht. (Vgl. Assmann 2016, S.13) Durch einen engen Flaschenhals gelangen nur wenige Tropfen aus einem Regenschauer in eine Flasche. Das Meiste geht verloren, und die Kapazität der Flasche ist begrenzt. Assmanns Fazit: „Vergessen ist unaufhaltsam und der Normalfall in Kultur und Gesellschaft.“ (Assmann 2016, S.36)

Eine weitere Metapher stammt aus dem Bereich des Recycling: Anstatt die Vergangenheit einfach in Museen und Archiven zu entsorgen oder schlicht wegzuwerfen, sollte sie, schreibt Assmann, „zu einem gut erkennbaren Bestandteil des Neuen“ gemacht werden. (Vgl. Assmann 2016, S.34) Diese Vorgehensweise würde dann auch mit einer anderen, die Geologie, Philologie und die Traumaforschung umfassenden Metapher harmonieren:  dem Palimpsest bzw. der Sedimentation. Aleida Assmann schreibt:
„Der Palimpsest ist eine philologische Metapher, die Parallelen zur geologischen Metapher der Schichtung aufweist. Die Architektur vieler europäischer Städte lässt sich als ein dreidimensionaler Palimpsest geronnener und geschichteter Geschichte und somit als Resultat wiederholter Umformungen, Überschreibungen, Sedimentierungen beschreiben.“ (Assmann 2016, S.119)
Diese Sedimentierungen bestehen aus nur scheinbar vergangenen menschheitlichen wie einzelmenschlichen Entwicklungsabschnitten, in denen unbearbeitet gebliebene, oft traumatische Erlebnisse auf ihre ‚Wiederaufbereitung‘ warten. Assmann spricht von einer „()paradoxen() Vergangenheit“, deren „Aufdringlichkeit“ sogar, wie bei den Genoziden des 20. Jhdts., mit der zeitlichen Entfernung nicht etwa ab-, sondern zunimmt. (Vgl. Assmann 2016, S.211) Wo diesen Traumata die Erinnerungsarbeit verweigert wird, bedrohen sie auf individueller Ebene die psychische Gesundheit und auf gesellschaftlicher Ebene den Rechtsstaat:
„Es hat sich vielfältig erwiesen, dass Ignorieren, Verleugnen und die Auslöschung einer traumatischen Geschichte kein tragfähiges Fundament für einen Rechtsstaat sein kann, denn durch Schweigen und Leugnen lösen sich nicht-bearbeitete Altlasten mit zeitlichem Abstand eben nicht einfach auf.“ (Assmann 2016, S.152)
Eine dritte bzw. vierte Metapher stammt aus dem Stoffwechselbereich. Auch hier geht es um Aufnahme, Verarbeitung und Ausscheidung:
„Wie im Körper eines Organismus die Zellen, so werden in der Gesellschaft Objekte, Ideen und Individuen periodisch ausgetauscht.“ (Assmann 2016, S.30)
Ähnlich wie bei der Gefäßmetapher geht es um eine Verhältnisbestimmung von Innen und Außen, doch an die Stelle der Statik der Gefäßmetapher (Speicherung) tritt eine biologische Dynamik, in der das Moment der Transformation an die Stelle der bloßen Bewahrung tritt. Negation wird hier zum „Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens“. (Vgl. Assmann 2016, S.30) Dadurch unterscheidet sich die Stoffwechselmetapher auch von der Maschinen- bzw. Computermetapher, die Erinnerung nur positiv als Speicherung konnotieren kann. (Vgl. Assmann 2016, S.215)

Der größte Teil von Aleida Assmanns Buch ist nicht dem individuellen, sondern dem kollektiven Gedächtnis und der Erinnerungspolitik gewidmet:
„In Deutschland hat sich eine Erinnerungskultur entwickelt, die mit der Überzeugung verbunden ist, dass die Geschichtslast des Holocaust nicht mehr durch Vergessen entsorgt werden kann. Seitdem hat das Erinnern eine zentrale Bedeutung in unserer Kultur angenommen und wird immer öfter mit einer ethischen Pflicht gleichgesetzt.“ (Assmann 2016, S.11)
Wie besonders diese deutsche Erinnerungskultur immer noch ist, zeigt sich an den verschiedenen Genoziden, die es im 20. Jhdt. gegeben hat, und mit denen sowohl in Deutschland wie auch in anderen Ländern auf sehr unterschiedliche Weise umgegangen wird. Während die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland zur Staatsräson gehört, wurde z.B. die Vernichtungskampagne gegen Hereros und Nama (1904) bis in die 1980er und 1990er Jahre hinein weitgehend verdrängt, und erst allmählich bekennt sich die deutsche Politik zu ihrer historischen Verantwortung. (Vgl. Assmann 2016, S.151ff.) In der Türkei leugnet man bis heute vehement und mit den Mitteln der Strafverfolgung den Völkermord an den Armeniern. (Vgl. Assmann 2016, S.135ff.) In Israel kollidieren die verschiedenen Erinnerungspolitiken der Juden und der Palästinenser, wo die einen die Vertreibung der Palästinenser von ihrem Land durch die Umbenennung von Straßen und öffentlichen Plätzen zu überschreiben versuchen und die anderen die Vernichtung der Juden in der Nazi-Zeit ignorieren. (Vgl. Assmann 2016, S.161ff.)

Aleida Assmann verbindet ihre Erörterungen zu den verschiedenen Genoziden – wobei hier keine Gleichsetzung der Vertreibung der Palästinenser (Nakba) mit dem Holocaust gemeint ist – mit einer kulturellen Perspektive: zu den Genoziden gesellen sich Librizide (Bücherverbrennungen; vgl. Assmann 2016, S.52 und S.111ff.) und Mnemozide (politische Überschreibungen von historischen Ereignissen; vgl. Assmann 2016, S.141ff.). Bei den Libriziden ist für den deutschen Leser besonders bemerkenswert, daß die Bücherverbrennungen des dritten Reichs einen Vorläufer im ersten Weltkrieg hatten, wo deutsche Truppen die Bibliothek von Leuven niederbrannten. (Vgl. Assmann 2016, S.111ff.) In Belgien ist dieses historische Ereignis immer noch präsent; in Deutschland hat man es praktisch vergessen.

Aleida Assmann bietet eine reichhaltige Kasuistik zum nationalen und transnationalen Umgang mit historischen Ereignissen. Neben den Genoziden geht sie auf die Aktenvernichtungen bei politischen Systemwechseln ein (vgl. Assmann 2016, S.53f.), auf Mißbrauchskandale (vgl. Assmann 2016, S.55f.), auf Denkmalsstürze (vgl. Assmann 2016, S.75ff., 88ff.), auf die Einrichtung und Überschreibung von nationalen Feiertagen (vgl. Assmann 2016, S.93ff.) und auf den Zusammenhang von Stadtplanung und Archäologie (vgl. Assmann 2016, S.118ff.).

Gegen Ende ihres Buches kommt Assmann auch noch einmal auf individuelle Biographien im Rahmen gesellschaftlicher und historischer Umbrüche am Beispiel der Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“ zu sprechen.  (Vgl. Assmann 2016, S.176ff.) Man könnte dieses Fallbeispiel als eine Art Randnotiz verstehen, weil es im Vergleich zu den menschheitlichen Fragen einen eher bescheidenen Raum in Assmanns Buch einnimmt. Tatsächlich ist aber die Wirkungsweise des individuellen Gedächtnisses viel wichtiger als es scheint. Assmann greift nämlich auf Begriffe der Gestaltpsychologie zurück, um zu erläutern, warum gerade das Vergessen einen „immanente(n) Bestandteil des Erinnerns“ (Assmann 2016, S.43) bildet. (Vgl. Assmann 2016, S.71) Dazu mehr im folgenden Blogpost.

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