„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 3. Juni 2017

Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart, München 2017

(Carl Hanser Verlag, fester Einband, 304 S., 24,-- €)

1. Zusammenfassung
2. Desiderat einer Anthropologie
3. Kompromittierte Aufklärung

Am Ende seines Buches bezeichnet Philipp Blom alle, die sich nur noch „darum sorgen zu behalten, was sie haben“, pauschal als Aufklärungskritiker. (Vgl. Blom 2017, S.254) Das ist in zweierlei Hinsicht ärgerlich: zum einen deshalb, weil Blom selbst nicht mit Kritik an den Aufklärern spart. So bezeichnet er z.B. Voltaire (1694-1778) als ersten „Neoliberalen“ (vgl. Blom 2017, S.243), weil er einerseits für sich selbst und die vermögende Bürgerschicht universelle Menschenrechte in Anspruch nahm, aber gleichzeitig keine Probleme damit hatte, Sklaven und Leibeigene für sich arbeiten zu lassen:
„Herrschaft über Kolonialvölker und über die Armen in den eigenen Ländern wurde zuerst christlich, dann aufklärerisch begründet, aber sowohl von Christen wie auch von Aufklärern nur selten radikal angegriffen. ... ein Dilemma für die Gesellschaften des Westens ... Ihr moralischer Anspruch gründet sich auf die Idee von Demokratie und universellen Menschenrechten und ist der Aufklärung verpflichtet, ihr wirtschaftlicher Erfolg und ihr Wohlstand aber gründen sich auf ein anderes Erbe des 17. Jahrhunderts: Wachstum, das auf Ausbeutung beruht, auf einer Ausbeutung, die sich niemals mit den Ansprüchen der Aufklärung vereinbaren lässt.“ (Blom 2017, S.237f.)
Das „Dilemma“, von dem Blom hier spricht, hat der heutige Neoliberalismus übrigens längst gelöst; und die Lösung heißt: Bildung! – Seit den 1990er Jahren und im Einklang mit Bologna-Reform und PISA-Forschung besteht unsere einzelstaatlich geförderte europäische Bildung darin, daß jeder Mensch Unternehmer und Ausbeuter in eigener Person ist, indem er seine Potenziale in persönlicher Verantwortung zu Markte trägt. Dieser genial-zynische Kniff, die Ausgebeuteten zu Unternehmern umzudeklarieren, erinnert an Rousseaus Bürger, der Souverän und Untertan in einer Person ist. Was aber bei Rousseau noch Aufklärung war, ist für die nachwachsenden Generationen nur noch ein Prekariat.

Blom selbst betreibt also eine sehr berechtigte Aufklärungskritik. Aber sie geht leider nicht weit genug. Es geht längst nicht nur um die Verquickung der Aufklärung mit Wirtschaftswachstum und Ausbeutung. Blom kratzt nur an der Oberfläche des Problems, wenn er auf die Ambivalenz eines Fortschrittsdenkens verweist, das Fortschritt mit industrieller Entwicklung gleichsetzt. (Vgl. Blom 2017, S.231f., 237f. und S.245) So bezieht sich Blom nur auf den Descartes  (1596-1650), der das Denken aus den Fesseln religiöser und lebensweltlicher Vorurteile befreit und es ganz auf die Basis der eigenen Denkgewißheit stellt. (Vgl. Blom 2017, S.136ff.) Daß sich Descartes damit ein anderes Problem einhandelte – nämlich den Zweifel an den eigenen Sinneswahrnehmungen und an der äußeren Realität –, so daß er zu dem zweifelhaften Mittel eines ontologischen Gottesbeweises greifen mußte, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. (Vgl. Blom 2017, S.139f.) Auf die eigentliche Crux der Descartesschen Position kommt Blom nämlich gar nicht zu sprechen: Indem Descartes die denkende Substanz von der ausgedehnten Substanz, also von allen Körpern, auch dem eigenen, radikal trennte, bahnte er einer Technologie den Weg, die bis heute das Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt dominiert.

Für Descartes war der menschliche Körper eine Maschine, und er bezeichnete sogar den lebendigen Körper als ‚Leichnam‘, weil er sich die denkende Substanz als völlig getrennt vom lebendigen Körper und seinen Gefühlen und Instinkten vorstellte. Bis in die Gegenwart hinein bildet diese Vorstellung den Kern des wissenschaftlichen Naturalismusses. Diese Einstellung zum menschlichen Körper gehört meiner Ansicht nach genauso zum dunkelsten Erbe der Aufklärung wie die von Blom beschriebene Verquickung der Aufklärer mit dem Sklavenhandel.

Wie wenig selbstwidersprüchlich diese ‚wissenschaftliche‘ Grundeinstellung den betreffenden Denkern gewesen zu sein scheint, zeigt sich sogar an den Kritikern von Descartes, wie z.B. an  Pierre Gassendi (1592-1655), der gegen Descartes an der Sinneswahrnehmung als einziger Quelle von Erkenntnisgewißheit festhielt: „Wenn aber alles Wissen aus den Sinnen kommt, was ist dann mit dem Wissen um Dinge, die sich unseren Sinnen nicht offenbaren? Es ist unmöglich, urteilt Gassendi. Nichts kann gewusst werden, ohne sinnlich erfahrbar zu sein.“ (Blom 2017, S.151)

Aber derselbe Gassendi, der darauf pocht, daß es kein Wissen ohne Sinnesgewißheit geben könne, sieht gleichzeitig überhaupt kein Problem darin, daß die Welt „aus Atomen (besteht), aus winzigen, materiellen Teilchen, die sich auf unendlich viele verschiedene Weisen miteinander verbinden und aufeinander reagieren“. (Vgl. Blom 2017, S.152) Weder Gassendi noch Blom kommen auf den Gedanken, daß es hier für die behauptete Erkenntnisgewißheit ein Begründungsproblem gibt; denn die Atome entziehen sich nicht weniger unserer technologisch unbewaffneten Sinnesgewißheit, wie der Glaube an Gott. Die auf Atome bezogenen Gewißheiten beruhen auf einer Technologiegläubigkeit, der jeder Zweifel an der Realitätshaltigkeit von Technologien verloren gegangen ist. Tatsächlich aber beruhen unsere Technologien nicht auf Gewißheiten, sondern auf Theorien, deren empirische Basis unsicher ist. Wir spalten Atomkerne zur Energiegewinnung, als ginge es darum Nüsse zu knacken, obwohl wir bis heute nicht genau wissen, wie Atome zusammengesetzt sind, und obwohl es keine wissenschaftlich gültige Definition von Genen gibt, gibt es schon die Gentechnik. Die Gültigkeit der diesbezüglichen Theorien besteht ausschließlich darin, daß sie funktionieren.

Die andere Hinsicht, weswegen ich Bloms Kritik an den Aufklärungskritikern als ärgerlich empfinde, betrifft den Gegenstand von Bloms Kritik: daß sie sich nämlich „darum sorgen zu behalten, was sie haben“. (Vgl. Blom 2017, S.254) Was bitte ist so verwerflich daran, sich um sein Wohlbefinden zu sorgen? Genau diese Sorge sollte eigentlich Gegenstand jeder Philosophie sein, und sie stand am Anfang des antiken Denkens. Nehmen wir noch einmal die Bauern und Leibeigenen am Beginn der Kleinen Eiszeit: Als ihnen die Landadligen ihre Lebensgrundlage wegnahmen, die Almenden einzäunten, um sich in Kapitalisten und die Bauern in Vagabunden und Proletarier zu verwandeln, hatten diese da nicht jedes Recht, zu rebellieren (vgl. Blom 2017, S.93f.), um zurückzuerhalten, was sie einmal gehabt hatten? Was hätten sie wohl einem Karl Marx oder auch einem Neoliberalen wie Voltaire geantwortet, wenn diese Philosophen ihnen vorgeworfen hätten, daß sie reaktionär seien, weil sie nicht bereit seien, sich den neuen Verhältnissen anzupassen?

Dynamik ist nicht per se etwas Positives, wie Blom zu glauben scheint, wenn er den Aufklärungskritikern vorwirft, sie seien nicht flexibel genug, weil sie nur das festhalten wollen, was sie haben. Dabei weist er selbst an anderer Stelle auf die Ambivalenzen unkontrolliert dynamischer Entwicklungen hin:
„Dynamische Gesellschaften bringen sozialen und technologischen Wandel, Migration, neue Moralvorstellungen und einen Abschied von ewigen Wahrheiten zugunsten von Experimenten, Hypothesen und endlosen Diskussionen. Die Freiheit des liberalen Traums beinhaltet die Forderung, sich selbst zu konstruieren. Dieser Traum erfasst ganze Gesellschaften und schleift sie mit sich oder treibt sie vor sich her, nichts wird morgen mehr so sein, wie es noch gestern war.“ (Blom 2017, S.252)
Irgendwie scheint sich Blom nicht entscheiden zu können: ist Fortschritt nun per se gut oder vielleicht auch irgendwie schlecht?

Der technologische Fortschritt ist längst zu einem blinden Mechanismus geworden, dem wir nicht weniger ausgeliefert sind, als wir es in früheren Zeiten den Naturgewalten gegenüber gewesen waren. Ständig verlangt er von uns, daß wir loslassen sollen, was wir haben, damit wir uns dem anpassen können, was er uns in immer größerer Geschwindigkeit aufdrängt. Aber vielleicht sollten wir wieder mehr auf unseren eigenen Rhythmus Rücksicht nehmen, wie er sich in Jahrhunderttausenden entwickelt hat, einem Rhythmus, der Generationen umfaßt, und nicht Tage, Wochen oder Monate, in denen schon wieder aufs Neue umgekrempelt wird, was uns gerade eben erst gültig geworden ist; denn nichts Altes darf als gut gelten, weil es eben alt ist, und alles Neue, gleichgültig wie absurd es auch daher kommt, ist gut, weil es neu ist.

Blom beklagt sich über die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerung, sich auf die große Transformation einzulassen, die der nicht mehr nur bevorstehende, sondern aktuelle Klimawandel erzwingt:
„Der Transformationsdruck auf unsere Gesellschaften wird durch Klimawandel und Automatisierung erhöht, aber eine wirklich transformative Politik wird weder angeboten noch von den Wählern gefordert.“ (Blom 2017, S.257)
Für die mangelnde Transformationsbereitschaft darf sich Blom bei den Aufklärern bedanken. Sie haben den immer wieder nachwachsenden ‚Unmündigen‘ jahrhundertelang erklärt, daß sie sich ändern müssen, weil es notwendig sei, und immer wieder erwiesen sich nicht wenige dieser Änderungen als gegen deren ureigensten Interessen gerichtet. Angesichts der sich beschleunigenden Änderungszumutungen ist es kein Wunder, daß diese ‚Unmündigen‘ zu rebellieren beginnen: sie haben es satt und wollen sich nicht mehr ändern müssen.

Wenn wir uns der Frage nach der Natur des Menschen nicht stellen wollen und uns weiterhin weigern, von dieser Natur her nach dem menschlichen Sinn der bevorstehenden Umwälzungen zu fragen, wird sich das auch nicht ändern. Aber die Welt wird sich ändern, so viel ist gewiß. Der Planet wird zu einem neuen Gleichgewicht finden, und ob wir dabei sein werden und auf ihm eine Zukunft haben werden oder nicht, ist ihm egal.

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