„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. Mai 2017

Hans-Werner Sinn, Was uns Marx heute noch zu sagen hat, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.73-90

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Hans-Werner Sinn gilt nach einem FAZ-Ranking als „Deutschlands einflussreichster Ökonom 2015“. (Vgl. Greffrath (Hg.) 2017, S.239) Sein Beitrag „Was uns Marx heute noch zu sagen hat“ (2017) fällt aus der Reihe der übrigen Beiträge heraus. Nach meinem Eindruck scheint er eher ein klassischer Wirtschaftswissenschaftler zu sein, der den Kapitalismus für eine ‚segensreiche‘ Einrichtung hält. So spricht er z.B. von den „segensreichen Wirkungen“ der „Märkte“ (vgl. Sinn 2017, S.74), und an anderer Stelle sorgt er sich darum, daß die „ultralockere Geldpolitik“ der EZB zur „Verkrustung des Kapitalismus“ führen könne, weil sie die betroffenen europäischen Länder vor „schöpferischen Zerstörungen“ im Sinne Joseph Schumpeters (1883-1950), die „die Preise der Immobilien, Kapitalgüter und Aktien wieder auf das Normalmaß“ zurückführen, bewahre (vgl. Sinn 2017, S.87).

Bezeichnend ist, daß Sinn an dieser Stelle von „Zombie-Kunden“ und „Zombie-Banken“ spricht, die künstlich „am Leben gehalten“ werden und „die Plätze besetzt (halten), die nun eigentlich junge Unternehmer mit neuen Produkten einnehmen müssten“. (Vgl. Sinn 2017, S.88) – Für meine Ohren klingt das nach einem eiskalten Zynismus, der gleichgültig über zerstörte Existenzen hinweggeht. Sinn selbst bezeichnet sich als „ordoliberal“, was mit Bezug auf den scholastischen Ordo-Gedanken auf eine Art metaphysische Überhöhung des Wirtschaftsliberalismusses hinauslaufen dürfte. Bei so einer Einstellung hat man wahrscheinlich grundsätzlich weniger Skrupel.

Von Marxens „Arbeitswerttheorie“, also von seiner Erklärung des Mehrwerts, hält Sinn nicht viel. Er hält sie für eine seiner „größten wissenschaftlichen Fehlleistungen“. (Vgl. Sinn 2017, S.76) Der Wert einer Ware ergibt sich seiner Ansicht nach vor allem aus ihrer Knappheit und aus der „gegenseitigen Konkurrenz der Nachfrage“. (Vgl. ebenda) Das leuchtet mir durchaus ein. Ich hatte sowieso immer schon meine Schwierigkeiten mit Marxens Trennung zwischen notwendiger, der Reproduktion des Arbeiters dienender Arbeit und überschüssiger, dem Mehrwert dienender Arbeit. Die eigentliche Leistung von Marx sieht Hans-Werner Sinn in der Makroökonomie:„Er war einer der ersten Makroökonomen der Geschichte und hat diese Teildisziplin wesentlich begründet.“ (Sinn 2017, S.78)

Hier hätte ich mir allerdings von Seiten des Autors einige Erläuterungen zur Globalisierung und der damit verbundenen Zerstörung der planetarischen Lebensgrundlagen gewünscht, die man keineswegs unter Schumpeters „schöpferische Zerstörung“ subsumieren kann. Darauf geht Sinn aber nur am Rande ein. Eine grundsätzliche Wachstumskritik fehlt. Zwar erkennt er an, daß die „tatsächlichen Schranken der Produktion ... in der Endlichkeit der natürlichen Bodenschätze und der Aufnahmefähigkeit des Bodens und der Atmosphäre für die Abfälle der Industrieproduktion“ liegen (vgl. Sinn 2017, S.81); aber weitere Ausführungen zu dieser Problematik fehlen.

Stattdessen spricht Sinn der Politik das Recht ab, über die Ökonomie bestimmen zu wollen:
„Es gibt kein Primat der Politik über die Gesetze der Ökonomie. Vielmehr bestimmen die ökonomischen Gesetze den Rahmen, innerhalb dessen sich die Politik bewegen kann. Systeme, die sich nicht an den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens und der objektiven Knappheit der Ressourcen orientieren, sondern aufgrund bloßer Wunschvorstellungen von Ideologen, Theologen oder Ethikern eingerichtet werden, gehen unter ...“ (Sinn 2017, S.73f.)
Hier zieht Sinn ganz entschieden eine Linie zu Marx: die Ökonomie bildet das Sein, und die Politik bildet das Bewußtsein. Und es ist das Sein, das das Bewußtsein bestimmt, und nicht das Bewußtsein das Sein. An dieser Stelle versäumt Sinn eine Diskussion des Verhältnisses von Geistes- und Naturwissenschaften. Er erzeugt den Eindruck, bei der Ökonomie handele es sich um eine Art Naturwissenschaft, zu der er auch die „Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens“ zählen. Dabei läßt er offen, ob er auch den Kapitalismus für so ein Naturgesetz hält: ob es also keine Alternative zu einer kapitalistischen Ökonomie geben kann.

Wenn Karl Marx vom ‚Sein‘ spricht, sind damit die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse gemeint, also tatsächlich die Ökonomie. Dabei haben wir es aber eben nicht einfach mit Naturprozessen zu tun, sondern eben mit einem gesellschaftlichen Verhältnis und deshalb eben auch mit gesellschaftlichem Bewußtsein. Da muß einfach die Politik das Primat haben: was sonst? Von einem Primat der Politik ist überall dort zu sprechen, wo wir es mit gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben. Und auch die Ökonomie hat es mit einem subjektiv-gesellschaftlichen Bewußtsein zu tun, z.B. in Form von „Präferenzen“, von denen Sinn mit Verweis auf den Wert eines Gemäldes von Rembrandt sagt, daß sie in die Preisbildung eingehen und den Wert einer Ware mitbestimmen. (Vgl. Sinn 2017, S.77)

Es ist also nicht so einfach mit den „Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens und der objektiven Knappheit der Ressourcen“. Ein „Primat der ökonomischen Verhältnisse“ (Sinn 2017, S.74) läßt sich so nicht begründen.

Interessant wird es aber nochmal am Ende von Sinns Beitrag, wo der Autor auf die Nullzins-Politik der EZB eingeht. Er weist darauf hin, daß es vor allem das Bargeld ist, das die EZB davon abhält, zu Negativ-Zinsen überzugehen. Solange die Banken das Geld lieber horten, als es auszugeben, kann es keine Negativ-Zinsen geben:
„Es gibt einzelne Banken, die hinter vorgehaltener Hand bekunden, dass sie 500-Euro-Geldscheine im Umfang von weit über zehn Milliarden Euro in riesigen Lagerstätten aufbewahren.“ (Sinn 2017, S.84)
Jetzt sollen die 500-Euro-Scheine abgeschafft werden, mit der Begründung, die Kleinkriminalität zu bekämpfen. Tatsächlich soll aber das Horten des Geldes durch 200-Euro-Scheine schwerer und teurer gemacht werden. Sinn nennt das ironisch „unechte Kommunikation“:
„Dass die Kommunikationsabteilung der EZB demgegenüber mitteilt, es gehe um die Bekämpfung der Kleinkriminalität, steht dieser Interpretation nicht entgegen, denn häufig benutzt die EZB eine unechte Kommunikation, um sich eine Erläuterung ihrer komplizierten Denkmuster in der Welt der oberflächlichen und kurzatmigen Internet- und Fernsehmedien zu ersparen.“ (Sinn 2017, S.83f.)
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