„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 23. September 2015

Serjoscha P. Ostermeyer/Stina-Katharina Krüger (Hg.), Aufgabenorientierte Wissenschaft. Formen transdisziplinärer Versammlung, Münster/New York 2015

(Waxmann, 280 S., br., 34,90 €)

Sandra Maria Geschke: Beheimatung als Hybriditätserfahrung: Gedanken zu Prozessen urbaner Raumbindungsstärkung, S.141-150


In diesem Blog habe ich schon einmal ein Buch von Sandra Maria Geschke besprochen. (Vgl. meine Posts vom 02.11. bis zum 09.11.2013) Im Zusammenhang des Tagungsbandes fällt die thematische Nähe ihres Beitrags „Beheimatung als Hybriditätserfahrung“ (2015) zu Jan Masscheleins Beitrag „Expeirmentum Scholae“ am Ende des Tagungsbandes auf. Bei beiden geht es um Raumeröffnung bzw. um Weltbegegnung, die zugleich der Selbstfindung des Menschen dient. (Vgl. Geschke 2015, S.141 und Masschelein 2015, S.274)

Bei Geschke bildet der Mensch noch ein Wahrnehmungs- und ein Handlungssubjekt. Der urbane ‚Raum‘ bildet nicht in erster Linie ein ‚Medium‘, eine Infrastruktur, die untergründig die Bewegungen der Menschen kanalisiert, sondern es geht um ein „Verhältnis zwischen Mensch und Raum“, das den Menschen über das aktive Raumschaffen eine Beheimatung ermöglicht: es geht um die Schaffung von „Bewegungsspielräumen“. (Vgl. Geschke 2015, S.147 und S.148)

Geschke macht den Begriff der Heimat an der Möglichkeit des Menschen fest, sich selbst als Handlungssubjekt zu erleben: „Nur wenn Menschen die Gelegenheit bekommen, Welt zu schaffen, verknüpfen sie ihren eigenen Werdungsprozess mit dem entsprechenden Ort ihres Tuns, was eine emotionale und identifikatorische Verwurzelung zur Folge hat und die Welt zum Ausweis der eigenen Existenz werden lässt.“ (Geschke 2015, S.147)

Hier wird der Begriff der Welt emphatisch mit dem Existenzbegriff verknüpft. Das muß nicht zwangsläufig auf die Gleichsetzung von Beheimatung und Authentizität hinauslaufen. Bei Kierkegaard ist die Existenzerfahrung vielmehr zugleich mit tiefster Verzweiflung darüber verbunden, nicht zu wissen, wer man ist. Und bei Plessner gehört unausweichlich der Begriff der Doppelaspektivität zur Selbsterfahrung des Menschen. Geschke verwendet ebenfalls den auf alles andere als auf Authentizität hinauslaufenden Begriff der „Hybriditätserfahrung“. Sie spricht von der „Hybridwerdung einer Person“, die mit „Teilen ihrer spezifischen Umwelt“ verschmilzt. (Vgl. Geschke 2015, S.146) Aber der Existenzbegriff eröffnet dennoch eine nicht-mediale Seinsweise des Menschen an der Grenze zwischen Innen und Außen, im Plessnerschen Sinne, denn Geschke verweist auf eine „zweifach gerichtete() Affizierungsweise()“ der Weltbegegnung (vgl. Geschke 2015, S.146): die äußeren Dinge bzw. die Phänomene begegnen uns immer auf eine zugleich das innere Erleben erneuernde und modifizierende Weise. Es sind nicht nur wir, die die Dinge anschauen, sondern wir fühlen uns zugleich von ihnen angeschaut. (Vgl. ebenda) Das Äußere ist innen, und das Innere ist außen, und der Mensch befindet sich auf der Grenze dazwischen. – Das ist Plessner at its best.

Dieses Affiziert-Werden von den ‚Dingen‘ – im ursprünglichen Sinne eines Welt und Menschen um sich versammelnden Dings (Thing) – bringt Geschke noch einmal mit dem Hinweis darauf auf den Punkt, daß die Menschen nie einfach nur wahrnehmen, indem sie die Dinge um sich herum gleichsam „registrieren“. (Vgl. Geschke 2015, S.144) Vielmehr stellt jede einzelne Wahrnehmung als solche schon eine „virtuelle Handlung“ (ebenda) dar, weil die ‚Dinge‘ um uns herum immer auch einen Appellcharakter beinhalten, auf den wir mit unserer Aufmerksamkeit und mit unserer Bewegung unmittelbar körperlich reagieren: „Ständig sind wir raumschaffend unterwegs. Wir können gar nicht anders. Warum? Nun, weil wir leibliche Wesen sind und permanent durch die unterschiedlichsten Eindrücke aus unserer Umgebung mit Ansprachen konfrontiert werden.“ (Geschke 2015, S.142)

Das „Verhältnis zwischen Mensch und Raum“ ist also im Husserlschen Sinne kinästhetisch strukturiert. Wir nehmen wahr, indem wir uns im Raum zwischen den Dingen bewegen. Diese kinästhetische Struktur kann näher bestimmt werden als das von Hintergründen und Vordergründen (Husserls „Horizonte“): „Wir sehen also fokussiert auf Objekte.“ (Geschke 2015, S.144)

‚Fokussiert‘ meint, daß unsere Wahrnehmung immer einzelne ‚Objekte‘ – entsprechend ihrem ‚Anspruch‘ an uns – aus dem Wahrnehmungshintergrund herauslöst und in den Vordergrund stellt. Entsprechend ist der Begriff der Objektivität nicht im naturwissenschaftlich-empirischen Sinne zu verstehen, sondern phänomenal: „Wir sind dadurch, dass uns die Umwelt objektiv in Erscheinung tritt, von ihren Ansprachen affiziert.“ (Geschke 2015, S.144) – Wir haben es hier also mit einer tiefen Einsicht in die phänomenologische Struktur des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu tun, in der nicht einfach nur rein logisch kein Subjekt ohne Objekt und kein Objekt ohne Subjekt denkbar ist, sondern bei der es um eine Weltbegegnung, eine Begegnung von Subjekten mit ihren Phänomenen geht, wie Geschke Brian Massumi zitiert: „(E)in Subjekt muss etwas haben, dessen Subjekt es ist.“ (Geschke 2015, S.144)

Diese gleichermaßen phänomenale wie existenzielle Verortung des Menschen in der Welt zeigt, daß das äußere Arrangieren von Dingen immer zugleich mit einem inneren Arrangement von Erfahrungen und Erinnerungen einhergeht. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 01.04.2015) Geschke spricht von der „narrativen(n) Oberfläche“ eines Ortes, von seiner „Textur“. (Vgl. Geschke 2015, S.147) Narrativ ist die urbane Raumerfahrung weniger im Sinne ihrer starren, Güter und Personen für fremdbestimmte Zwecke steuernden Infrastruktur, als vielmehr aufgrund der Lücken, der „Leerstellen“, die „alternative() oder ergänzende() Narrationen“ ermöglichen, eben jenen „Bewegungsspielraum“, von dem schon die Rede gewesen ist. (Vgl. Geschke 2015, S.148)

Narrativität ist genau auf diese subjektive Zutat der Wahrnehmungssubjekte angewiesen, die die Lücken im Erzählstrom bzw. in der urbanen Selbstdarstellung unterschiedlichster Interessen nutzen, um in die ‚Erzählung‘ einzusteigen und sich einen je eigenen Reim darauf zu machen. (Vgl. meine Posts vom 20.03. und vom 22.03.2011) In der sprachlichen Vermittlung unterstützt die individuell allgemeine Funktionsweise der Wörter dieses Hineinmontieren von eigenem Sinn. Denn gleichgültig wie wortreich Protagonisten in einer Erzählung mit Eigenschaften ausgestattet werden: jeder Leser bzw. Zuhörer macht sich letztlich sein eigenes ‚Bild‘ von ihnen. Ein Wort ist keine Photographie.

An dieser Stelle kommt Geschkes Phänomenologie der urbanen Raumschaffung und Beheimatung des Menschen allerdings an ihre Grenze. Letztlich versucht sie nämlich doch, für Raumplaner und Politiker ein brauchbares Konzept der stadtplanerischen und politischen – nicht gerade ‚Steuerung‘, aber doch: Ermöglichung von Narrativität im „öffentlichen Raum“ auszuformulieren. (Vgl. Geschke 2015, S.148) Ich kann die Berechtigung eines solchen Konzepts aber weniger im Positiven, also im Vorwegnehmen von individuellen Sinnfindungen und Handlungsentscheidungen sehen, als vielmehr im planerischen Vermeiden von Negativem, nämlich der mutwilligen Zerstörung gewachsener urbaner Strukturen.

Für meine Ohren klingt es jedenfalls etwas schräg, wenn genau jene „Leerstellen“, die die Menschen in ihrer urbanen „Affizierungslandschaft“ entdecken, also je individuell und unvorhersehbar, „gezielt“, also durch stadtplanerisches Vorgehen, in die städtische Infrastruktur „eingebaut werden“ sollen. „Leerstellen“ lassen sich weder „(e)rrichten“ noch „produktiv multiplizieren“. (Vgl. Geschke 2015, S.148) Das ist letztlich doch nur gutgemeinte Wortakrobatik. Bewegungsspielräume und damit Beheimatung schaffen sich die Menschen durch eigenes Handeln oder gar nicht. Man denke nur an die Gentrifizierung: kaum sind Stadtteile städtebaulich und kulturell aufgewertet, steigen die Mieten. Wohnen kann dort dann nur noch, wer es sich leisten kann.

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