„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 6. Juni 2015

Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993 (1976)

(Einführung: Das Problem des Bewußtseins (S.9-30) – Erstes Buch: Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele (S.33-182) – Zweites Buch: Das Beweismaterial der Geschichte (S.185-381) – Drittes Buch: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt (S.385-546))

5. Bikamerale Kulturen
6. Stimmverlust
7. Hiatus
8. Körperleib

In der Zeit zwischen 2000 und 1000 v.Chr. begannen die Stimmen der Götter allmählich zu verstummen. (Vgl. Jaynes 1993, S.243, 306, 533) Jaynes führt das einerseits auf von einem gewaltigen Vulkansausbruch auf der griechischen Insel Thera und durch große Kriege ausgelöste Völkerwanderungen zurück, die ein solches soziales Chaos anrichteten, daß die Stimmen des bikameralen Menschen nicht damit fertig wurden (vgl. Jaynes 1993, S.257f. uns S.261ff.), und auf die Erfindung der Schrift um 2500 v.Chr. (vgl. Jaynes 1993, S.332). Die Schrift war notwendig geworden, weil die bikamerale Kultur überall dort an ihre Grenze gekommen war, wo die städtischen Zivilisationen wie in Ägypten und in Assyrien zu Großreichen angewachsen waren: „Und in der Tat meine ich, daß sich hier (in Memphis um 2100 v.Chr. – DZ) die Schwachstelle der bikameralen Psyche zeigte, ihre Unzulänglichkeit angesichts wachsender Komplexität, und daß ein solch vollständiger Zusammenbruch politischer Machtstrukturen nur daraus zu erklären ist.“ (Jaynes 1993, S.243)

Es gibt Jaynes zufolge historische, bis in die Zeit um 1000 v.Chr. zurückreichende Schriftquellen, die den Übergang von der bikameralen Kultur zum subjektiven Bewußtsein dokumentieren. Zu diesen Quellen zählt Jaynes die Ilias und die Odyssee und die Schriften des Alten Testamentes. Die von Ereignissen um 1200 v.Chr. berichtende Ilias (vgl. Jaynes 1993, S.100) handelt noch von durch und durch bikameralen Menschen, während Odysseus der erste Held der Menschheitsgeschichte ist, der in einem Epos mit einem subjektiven Bewußtsein ausgestattet wird. Die erste Niederschrift der Ilias erfolgte um 900 v.Chr. (vgl. Jaynes 1993, S.90), die der Odyssee etwa hundert Jahre später (vgl. Jaynes 1993, S.331).

Die „Helden der ‚Ilias‘“, so Jaynes, „überlegen nicht, was als nächstes zu tun sei. Sie haben kein Bewußtsein in dem Sinn, wie wir das von uns sagen, und auf gar keinen Fall verfügen sie über die Gabe der Introspektion. Für uns mit unserer Subjektivität ist es unmöglich nachzuempfinden, wie das ist. ... Stets ist es ein Gott, der die Heere in die Schlacht führt, der in kritischen Momenten zu den einzelnen Kriegern spricht, der Hektor vorschlägt und ihn lehrt, was er tun soll, der die Krieger antreibt oder ihre Niederlage bewirkt, indem er einen lähmenden Bann auf sie legt oder ihr Gesichtsfeld vernebelt. ... Kurzum, die Götter spielen die Rolle des Bewußtseins.“ (Jaynes 1993, S.94f.)

So etwas wie bewußte Täuschung, Hinterlist und Betrug kennen die Helden der Ilias nicht. Mit diesen Fähigkeiten wird erst Odysseus ausgestattet. Die Odyssee, so Jaynes, „ist das Epos des gewundenen Wegs zum Ziel. Ihr Thema ist die ‚Verschlagenheit‘: Sie wird hier entdeckt, erfunden und gefeiert.“ (Jaynes 1993, S.332)

Bemerkenswert an diesen zwei Epen ist Jaynes zufolge insbesondere, daß sie nicht von einem einzelnen Autoren verfaßt wurden, der alle Charaktere und Handlungsverläufe bewußt geplant und ausgeführt hätte. Jaynes glaubt nicht an einen einzelnen Autor namens Homer. (Vgl. Jaynes 1993, S.100) Die Autoren bzw. ‚aoidoi‘, wie Jaynes sie nennt, waren vielmehr noch bikameral geprägt. Umso erstaunlicher sei es, daß sie in der Lage gewesen waren, anhand von Odysseus’ Abenteuern eine ihnen unbekannte Bewußtseinsverfassung vorwegzunehmen: „Ich meine nämlich – und muß mich anstrengen, mir selbst zu glauben –, daß diese ganze Sagengeschichte mit ihrer gründlich durchkomponierten Anlage, in der sich unverkennbar die metaphorische Abbildung des gewaltigen Umschwungs zum Bewußtsein entdecken läßt, weder in ihren Einzelelementen verfaßt noch im Großen geplant und kompiliert wurde von Dichtern, die sich ihres Tuns bewußt gewesen wären. Es ist, als hätte sich die Gott-Komponente dem Bewußtseinszustand genähert, die rechte Hemisphäre früher als die linke. ... Wie kann ein Epos, das in sich selbst vielleicht eine Art Impulsgeber für das Bewußtsein war, von nichtbewußten Menschen verfaßt worden sein?“ (Jaynes 1993, S.337)

Wenn man aber Jaynes’ eigene Ausführungen zur rechten Gehirnhemisphäre heranzieht, so ist diese bikamerale Leistung doch nicht so ungewöhnlich, wie Jaynes an dieser Stelle meint. Schließlich liegt die Stärke der rechten Hemisphäre ja gerade in der Gestaltwahrnehmung und im Erkennen von Sinnzusammenhängen, weshalb sie ja auch lange Zeit so ein guter und verläßlicher Ratgeber des bikameralen Menschen gewesen ist. Da ist es eigentlich sogar naheliegend, daß die damaligen Menschen auf noch unbewußte Weise ahnten, was auf sie zukam und welche Veränderungen in ihrer Lebensführung notwendig werden würden. Wo die Grenzen solcher vagen Intuitionen liegen, ist schwer zu sagen. Aber möglicherweise bildet die Odyssee ja tatsächlich eine Form des Abschieds der göttlichen Stimmen aus dem Lebensalltag des Menschen.

Mit der Einführung der Schrift wurden die göttlichen Stimmen also allmählich überflüssig. Anweisungen und Gesetze konnten nun in schriftlicher Form festgehalten und abgelesen werden, ohne daß die Menschen Stimmen halluzinieren mußten, die ihnen sagten, was sie zu tun hatten. Dabei dürfte in der Übergangsphase das Lesen selbst noch mit dem Halluzinieren einer Stimme einhergegangen sein: „Lesen dürfte also im dritten Jahrtausend v.Chr. eine Sache des Hörens der Keilschrift gewesen sein, das heißt des Halluzinierens gesprochener Rede beim Betrachten ihrer Bild-Symbole, ungleich dem visuellen Lesen von Silben nach unserer Art.“ (Jaynes 1993, S.224)

In einer solchen Übergangsphase wurden auch die Gesetzestexte von Hammurabis (um 1750 v.Chr.) verfaßt. Überliefert ist der Codex Hammurabis auf einer Stele. Dazu gehört ein Relief, das Hammurabis stehend vor seinem Gott Marduk zeigt. (Vgl. Jaynes 1993, S.245) Dieses Relief sagt einiges über das Verhältnis des bikameralen Menschen zu seinen Göttern aus: „Zum Großartigsten dieser Szene gehört die trancegleiche Unerschütterlichkeit, mit der Gott und Intendant (‚Verwalter‘, also Hammurabis – DZ), beide gleichermaßen majestätisch ruhig, die Blicke ineinandersenken ... Noch nichts ist hier zu finden von den Selbstdemütigungen, der bettlerischen Haltung im Angesicht eines Gottes, wie sie nur wenige Jahrhunderte später in Erscheinung treten.“ (Jaynes 1993, S.246)

Was auf dieser Stele als Relief dargestellt wird, ist zugleich im Keim schon durch die ebenfalls auf dieser Stele schriftlich festgehaltenen Gesetze  bedroht: „Um 2100 v.Chr. begann man in Ur damit, die Urteilssprüche, die die Götter durch den Mund ihrer Statthalter kundgaben, schriftlich festzuhalten. Hier liegen die Anfänge der Idee des Rechts. Solche in Schriftform niedergelegten Urteile konnten räumlich gestreut werden und bewahrten Dauer in der Zeit ... Wir begegnen hier erstmals einem Verfahren der sozialen Kontrolle, das, wie wir im nachhinein feststellen können, binnen kurzem die bikamerale Psyche ablösen sollte.“ (Jaynes 1993, S.244f.)

Im ausgehenden vorletzten Jahrtausend v.Chr. beginnt in Assyrien eine Epoche der Gewalt- und Schreckensherrschaft, für die insbesondere der Großkönig Tiglat-Pileser I. (1115-1077 v.Chr.) steht: „Warum diese brutale Härte? Und dies zum erstenmal in der Geschichte der Zivilisation? Die einzige Erklärung liegt darin, daß die vorausgegangene Methode der sozialen Kontrolle vollständig zusammengebrochen sein mußte. Und diese Form der sozialen Kontrolle war die bikamerale Psyche. Eben diese Anwendung von Grausamkeit in dem Bemühen, eine Schreckensherrschaft aufzurichten, markiert nach meinem Dafürhalten den Übertritt zum subjektiven Bewußtsein.“ (Jaynes 1993, S.264)

Mit dem Entstehen des subjektiven Bewußtseins und der Schrift gingen dem Menschen die göttlichen Stimmen und die mit ihnen verbundenen Gewißheiten verloren. Die Schrift hatte nicht mehr dieselbe Gewalt über den Menschen wie die Stimme: „... sobald das Wort Gottes tonlos auf stummen Tontafeln oder schweigsamen Steinblöcken erschien, konnte man sich den göttlichen Befehlen oder den königlichen Anweisungen kraft eigener Anspannung zuwenden oder auch von ihnen abwenden ...“ (Jaynes 1993, S.256)

Mit dieser Abwendungsbewegung des Menschen von seinen Göttern entstand eine seltsame Ambivalenz in seiner psychischen Verfassung, die etwas mit dem zu tun hat, was ich in diesem Blog immer als ‚Seele‘ bezeichne. Ähnlich der sich gleichzeitig zeigen und verbergen wollenden Seele ging nämlich die Abwendung des Menschen von seinen Göttern mit dem Bedürfnis einher, sich diesen Göttern wieder zuzuwenden, weil die Menschen Sehnsucht nach der verlorengegangen Sicherheit hatten, die die Götter ihnen einst gegeben hatten. Zugleich wurde das Schweigen der Götter als eine Abwendung von und als ein sich Verbergen der Götter vor dem abtrünnigen Menschen empfunden. So entstand die Vorstellung von Gut und Böse und von Sünde, die der bikamerale Mensch noch nicht gekannt hatte: „... die Vorstellung von Gut und Böse, die Vorstellung von einem guten Menschen, von der Erlösung von Sünde und göttlicher Vergebung – dergleichen kam erst auf mit dem quälerischen Nachgrübeln über die Ursachen des Verstummens der göttlichen Führer.“ (Jaynes 1993, S.278)

Die Götter verbargen sich also vor dem suchenden Menschen, der sie ‚verraten‘ hatte, und es entstanden Kulte und Religionen, die an die Stelle der alten bikameralen Götter traten. Das Verstummen der Götter ist, so Jaynes, die „Geburtsstunde der modernen Religiosität“: „Noch wir selber vermögen uns in diesem psalmistischen Verlangen nach religiöser Gewißheit wiederzuerkennen, das seit der Zeit des Tukulti-Nimurta bis weit in das erste Jahrtausend v.Chr. die akkadische Literatur durchzieht.“ (Jaynes 1993, S.309)

Ein die fortwährende Unsicherheit des modernen Menschen kompensierendes ‚Relikt‘ der bikameralen Psyche bildet Jaynes zufolge u.a. die „Besessenheit“, die nicht mit der Schizophrenie verwechselt werden darf, sondern einen Bewußtseinszustand meint, in den Wahrsager und Propheten verfallen, wenn sie ihre Voraussagen und Prophezeiungen machen. Sie geht mit Bewußtseinsschwund einher, denn die betreffenden ‚Medien‘ wissen hinterher nicht, was sie gesagt oder getan haben. (Vgl. Jaynes 1993, S.415) Außerdem treten Orakel aller Art an die Stelle der bisherigen göttlichen Stimmen. Insbesondere die Los-Orakel erinnern an die heute noch beliebten Glücksspiele, wobei die Menschen in der Übergangsphase vor dreitausend Jahren und auch noch lange Zeit danach sich von uns heutigen Menschen dadurch unterschieden, daß sie nicht an Zufall glaubten. Das Werfen von Stäbchen oder Knochen, das Lesen aus den Eingeweiden von Tieren mußte in ihrer Vorstellung zwangsläufig zu verläßlichen Voraussagen über die Zukunft führen, weil alles kausal miteinander verknüpft und determiniert war: „Denn da es keinen Zufall gab, mußte das Resultat von den Göttern bewirkt sein, deren Absichten auf diese Weise offenbart wurden.“ (Jaynes 1993, S.293) – Auf diese Weise konnte man also die Götter zum Sprechen zwingen.

Dieser Glaube an umfassende Determination erinnert sehr an den Determinismus der modernen Naturwissenschaften. Auch Lévi-Strauss hatte auf diesen Zusammenhang in seinem Buch über „Das Wilde Denken“ hingewiesen. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2013) Ganz ähnlich zieht Jaynes diese Parallele zwischen dem Bedürfnis des bikameralen Menschen und seiner ‚modernen‘ Nachfolger nach Sicherheit und Autorität und der heutigen Wissenschaft: „Auffällig wird diese Suche (nach den „verlorenen Direktiven“ – DZ) in der assyrischen Omenliteratur mit der ... die Wissenschaft anhebt. Nicht minder augenfällig wird sie ein bloßes halbes Jahrtausend später in der griechischen Kultur, wenn Pythagoras die entschwundenen Invarianten des Lebens in einer Theologie der göttlichen Zahlen und ihrer Relationen dingfest zu machen sucht und damit die Mathematik begründet. Und das geht ohne Wandel in den Motiven über zwei Jahrtausende hin weiter, bis Galilei die Mathematik als die Sprache Gottes bezeichnet und Pascal und Leibniz, das Stichwort aufnehmend, in der ehrfurchtgebietenden Ordnung der Mathematik die Stimme Gottes zu vernehmen meinen.“ (Jaynes 1993, S.530f.)

Wie schon erwähnt, bildet Jaynes zufolge auch das Alte Testament eine schriftliche Quelle, die den Übergang zwischen der bikameralen Kultur und dem modernen subjektiven Bewußtsein dokumentiert: „Die These, auf die wir uns in diesem Kapitel verpflichten wollen, besagt, daß diese herrliche Sammlung von Geschichten und Gedichten, Gelehrsamkeit und Beredsamkeit, Predigt und Poesie im groben Umriß nichts anderes darstellt als die Geschichte vom Verlust der bikameralen Psyche und ihrer Ersetzung durch die Subjektivität im Lauf des ersten Jahrtausends v.Chr.“ (Jaynes 1993, S.358f.)

Neben der in diesem Zusammenhang naheliegenden Geschichte vom Paradies (der bikameralen Epoche) und der Vertreibung aus ihr (vgl. Jaynes 1993, S.364) befaßt sich Jaynes insbesondere mit den Büchern „Amos“ und „Prediger Salomo“, die er auf das achte Jhdt. und auf das zweite Jhdt. v.Chr. datiert. Zu Amos hält Jaynes fest: „Wörter wie ‚Seele, ‚denken‘, ‚glauben‘, ‚verstehen‘ oder auch nur im entferntesten mit diesem verwandte Wörter gibt es im Buch Amos nicht. Amos erwägt niemals etwas in seinem Herzen: Dazu ist er nicht in der Lage, mehr noch: Er wüßte einfach nicht zu sagen, was das überhaupt ist. ... Sein Denken wird anderwärts für ihn erledigt.“ (Jaynes 1993, S.360f.)

Die Verfasser des Buches von Prediger Salomo verfügten hingegen schon über ein modernes subjektives Bewußtsein: „Man braucht ein Analogon ‚Ich‘, das einen Seelenraum überblickt, um so (wie Prediger Salomo – DZ) sehen zu können. Und in den berühmten Versen des 3. Kapitels: ‚Alles hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel geht vorüber nach seiner Zeit ...‘ haben wir exakt die bewußtseinstypische Spatialisierung der Zeit, ihre lineare Projektion in den inneren Raum vor uns.“ (Jaynes 1993, S.361)

In dem erst spät in das Alte Testament eingegliederten, beim Säubern und Reinigen des Tempels in Jerusalem wiederentdeckten 5. Buch Moses findet Jaynes „die quälende Sehnsucht eines subjektiv bewußten Volkes nach der verlorenen Bikameralität“. Und er hält fest: „Nichts anderes ist Religion.“ (Jaynes 1993, S.362)

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