„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 27. September 2014

Oskar Negt, Philosophie des aufrechten Gangs. Streitschrift für eine neue Schule, Göttingen 2014

Steidl Verlag, 18,00 €, 127 S.

1. Generationenverhältnis
2. Zeitstrukturen
3. Pädagogische Begriffe
4. Mit Kindern experimentieren
5. Macht und Verantwortung
6. PISA contra Bologna?
7. Anthropologie
8. Bildung und Lernen

Oskar Negt wendet sich gegen ein Bildungssystem, das den Erziehungserfolg an den ‚Produkten‘, also mithilfe von Tests meßbar machen will. Schulischer Unterricht wird so zu einem industriellen Produktionsprozeß. (Vgl. Negt 2014, S.122) Aber die „lebendige() Arbeitskraft“ der Schüler, also ihr Lern- und Bildungspotential, ist anders als in der industriellen Warenproduktion nicht „eindeutig und quantitativ in den Produkten messbar“. „Von allen extrafunktionalen Fähigkeiten“, so Negt, „die im Allgemeinen positiv bewertet werden – wie Flexibilität, Kritikfähigkeit, Initiative, soziales Verhalten, Disziplin – bleibt am Ende nur die Disziplin übrig, wenn Lernen ausschließlich im Sinne messbarer Leistung verstanden wird.“ (Vgl. Negt 2014, S.66)

Für ein solches standardisiertes Bildungssystem steht Negt zufolge der Bologna-Prozeß: „Der sogenannte Bologna-Prozess mit seinen betriebswirtschaftlich verkürzten Lernkonzepten ist das Urpseudos einer im gestohlenen Mantel der Reform daherkommenden Politik der Rationalisierung der Bildungs- und Lernsysteme auf dem Niveau kurzfristiger Aneignungstechniken, die den komplexen Anforderungen der modernen Welt immer weniger gewachsen sind.“ (Negt 2014, S.10)

Im italienischen Bologna hatten sich 1999 29 europäische Staaten auf eine Vereinheitlichung der europäischen Universitäten geeinigt. In Deutschland hat man das zum Anlaß genommen, den Lehrplan der Universitäten zu verschlanken und zu verschulen, Personalkosten einzusparen, die Studienzeiten zu kürzen, staatliche Mittel zu kürzen und die Forschung vollends vom wirtschaftlichen Sponsoring abhängig zu machen. Das nannte man dann ‚Reform‘. Negt verweist mit Recht auf die mißbräuchliche Verwendung dieses Begriffs.

Was mich allerdings irritiert, ist, daß Negt den ‚Teufel‘ mit dem ‚Beelzebub‘ austreiben will, sprich: ‚Bologna‘ mit ‚PISA‘. Beide Städtenamen, von denen einer allerdings nur ein Akronym bildet, stehen für Bildungsreformen: Bologna für die Universität und PISA für die Schule. Ganz anders als Bologna bewertet Negt aber PISA als durchweg positiv. Er hebt insbesondere drei Momente hervor, für die seiner Ansicht nach PISA steht: die Hervorhebung der Bedeutung der Lesekompetenz, des selbstregulierten Lernens und des sozialen Lernens. (Vgl. Negt 2014, S.85ff.) Als Beleg für seine positive Einschätzung von PISA zitiert Negt einen längeren Textabschnitt aus der ersten PISA-Studie, den ich hier noch einmal vollständig wiedergeben möchte, weil er für die prinzipielle Unschärfe pädagogischer Begriffe steht:
„Erfolgreiche Selbstregulierung des Lernens besteht unter anderem darin, auf der Basis der Aufgabenanforderungen und des eigenen Erkenntnisstandes einzuschätzen, welche Mittel (Strategien) für das Erreichen der Ziele angemessen sind. Die Anleitung zur bewussten und reflexiven Steuerung des eigenen Lernens kann auch zur Ausbildung eines positiven Selbstkonzepts und damit einer produktiven Beziehung zu sich selbst als Lernendem beitragen. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass eine Förderung einzelner Komponenten selbstregulierten Lernens durchaus vielversprechend ist. Diese sollte neben dem Strategiewissen die Prozesse der Zielsetzung und Sicherung der Zielerreichung sowie die situative Angemessenheit der von Schülern eingesetzten Strategien berücksichtigen.“ (Zitiert nach Negt 2014, S.87)
Den pädagogischen Zielsetzungen, die in diesem Text festgehalten werden, wird in dieser Form kaum jemand ernsthaft widersprechen können. Es ist leicht, sich positiv darauf zu beziehen, um, wie Negt, die eigene reformpädagogische Praxis damit zu rechtfertigen. Was bedeutet aber ‚Erfolg‘, wenn von „(e)rfolgreiche(r) Selbstregulierung“ die Rede ist? Inwiefern ist es überhaupt angemessen, von „Mittel(n)“ zu reden – wobei noch in Klammern hinzugefügt wird „Strategien“ –, wenn es darum geht Lern- und Bildungsziele zu erreichen? Kann man „selbstreguliertes Lernen“ überhaupt in „Komponenten“ zerlegen, wie es der Text suggeriert?

‚Erfolg‘ steht gegen ‚Scheitern‘. ‚Erfolg‘ steht für Meßbarkeit. ‚Erfolg‘ steht für Anschlußfähigkeit an gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedürfnisse. Inwiefern steht ‚Erfolg‘ aber auch für individuelles Lernen, für das das Scheiternkönnen möglicherweise wesenmäßig dazugehört?

Tatsächlich geht es in dem von Negt zitierten Abschnitt nirgendwo um Pädagogik! Es geht in der PISA-Studie insgesamt ganz im Gegenteil um genau das, was Negt am Bolognaprozeß so bitter kritisiert!

Mit der PISA-Studie hielten Begriffe wie „Bildungsstandards“ und „Kompetenzmodell“ Einzug in das deutsche Bildungssystem. Der Kompetenzbegriff trat an die Stelle des klassischen Bildungsbegriffs. Seitdem ist ‚Bildung‘ in Deutschland nicht mehr das, was Humboldt einmal damit gemeint hatte. Dennoch wird fleißig weiter von Humboldt geredet. Ein weiteres Beispiel für die Unschärfe pädagogischer Begriffe: Humboldt war der Erste, der vom Lernen des Lernens gesprochen hatte. Gemeint war damit ein Lernen, das das eigentliche Lernen ermöglichen sollte, also das spezifische, an den Gegenstand gebundene, individuelle Lernen. Ein dieses eigentliche Lernen vorbereitendes Lernen bestand Humboldt zufolge im Aneignen von Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen.

Diese Fokussierung auf den Gegenstand wurde mit der PISA-Studie aufgehoben. Statt das Lernen am Gegenstand zu ermöglichen, sollte nur noch anwendungsbezogen und lösungsorientiert gelernt werden. Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen wurden zum eigentlichen Lerninhalt, und das Lernen am Gegenstand wurde zur Nebensache. Genau diese Gegenstandslosigkeit wurde also jetzt mit der Formel vom Lernen des Lernens auf Dauer gestellt.

Von nun an ging es also nicht einmal mehr um Produktorientierung – darin steckt ja immerhin noch ein Gegenstand –, sondern nur noch um den ‚Output‘. Der Kompetenzbegriff steht für die Meßbarkeit dieses Outputs und für die Zerlegbarkeit des Bildungsbegriffs in auf Altersstufen beziehbare und in Lernphasen unterteilbare Komponenten und ‚Module‘.

Wie ambivalent Negt in diesem Zusammenhang argumentiert, zeigt sich auch an seinem Engagement für die Gesamtschule, die er in einen engen Zusammenhang mit seiner Glocksee-Schule stellt. Obwohl er sich gegen eine marktwirtschaftliche Verengung des selbstregulierten Lernens wendet (vgl. Negt 2014, S.80f.), begründet er die pädagogische Leistungsfähigkeit des Gesamtschulkonzepts ausgerechnet damit, daß sie den auf „Marktgesetze totalitär fixierte(n) Kapitalismus“ durch eine pädagogische Praxis unterstützt, die die marktwirtschaftlich ‚freigesetzten‘, orientierungslos gewordenen Menschen reintegriert: „So eröffnet ein erweiterter Leistungsbegriff, in dem kognitives, soziales und emotionales Lernen im Prinzip gleichrangig angenommen werden, unter heutigen Bedingungen die einzig realistische Chance, dass die Schule ihre öffentliche Aufgabe als eine zentrale Sozialisationsinstanz erfüllt.“ (Negt 2014, S.98f.)

So stellt Negt also die Schule in den Dienst genau jener Kräfte, die er am Beispiel des Bolognaprozesses so heftig kritisiert. Was bleibt da noch von dem „Empört Euch!“ von Stéphane Hessel, den Negt auf der ersten Seite seines Buches zitiert, übrig?

Man fragt sich natürlich, wieso Negt dieser PISA-Studie so positiv gegenübersteht. Das hat wohl etwas mit seinem Lernbegriff zu tun, auf den ich in meinem letzten Post nochmal gesondert eingehen will. Hier sei nur so viel vorweggenommen, daß Negt nicht nur von individuellen, sondern auch von kollektiven Lernprozessen spricht, von Lernprozessen auf europäischer Ebene und „zwischen den einzelnen Ländern“. (Vgl. Negt 2014, S.90; vgl. auch S.9) Da PISA für einen umfassenden, internationalen Vergleich nationaler Bildungssysteme steht, glaubt Negt, hier einen Ansatz zu einem solchen kollektiven Lernen erkennen zu können. Lernen ist aber immer individuell. Kollektives Lernen, darin stimme ich Günter Dux zu, fällt mit der Geburt jedes Menschen auf einen kulturellen Nullpunkt zurück. (Vgl. meinen Post vom 10.09.2012)

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen