„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 8. Juli 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Variationen zur Lebenswelt
2. Die ‚Guten‘ und die ‚Bösen‘

Al Gore nennt drei grundlegende Faktoren, deren Zusammentreffen dafür verantwortlich ist, daß die Menschheit am Abgrund steht: die Überbevölkerung, unser in „kurzfristigen Zeithorizonten“ befangenes Denken, das Gore zufolge wiederum in „von unseren prähistorischen Vorfahren ererbten Denkgewohnheiten“ begründet ist, und die „Technologien“, die „um ein Vielfaches mächtiger“ sind als alles, was den Menschen bisher zur Verfügung gestanden hatte. (Vgl. Gore 2014, S.375) Damit positioniert sich Al Gore erfreulicherweise auch kritisch zur naiven Technikgläubigkeit, mit der viele angesichts der klimatischen Umbrüche immer noch davon ausgehen, der menschliche Erfindergeist würde schon wieder alles richten. Das betrifft auch das allgemeine Gerede um das Geoengineering: „Es bedeutet, sich von der Illusion zu verabschieden, es könnte irgendein cleveres technologisches Allheilmittel für einen planetaren Notfall geben, der eine mehrgleisige globale Strategie zur Umstellung nicht nur unserer Energiesysteme – insbesondere der Stromerzeugung – auf kohlenstoffarme, hocheffiziente Muster verlangt, sondern auch eine Umstellung der Industrie, der Landwirtschaft, der Forstwirtschaft, der Bautechnik, des Verkehrswesens, des Bergbaus und anderer Sektoren der globalen Ökonomie.“ (Gore 2014, S.377)

Wenn Gore die weltpolitische Situation und die spezielle politische Situation in den USA beschreibt, muß man sich immer wieder in Erinnerung rufen, daß Gore sich selbst als einen überzeugten Optimisten bezeichnet. Tatsächlich beschreibt er die Politik in den düstersten Farben. Die im folgenden Zitat genannten „Musketiere“ sind die Waffenlobby, die Öl- und Kohlelobby und die Abtreibungsgegner, die sich gegenseitig nach dem „Drei-Musketiere-Prinzip“ in ihren politischen Projekten unterstützen:
„Im Laufe der letzten vier Jahrhunderte haben sich die größten CO2-Verursacher als eingetragene Mitglieder der in Kapitel 3 beschriebenen antireformistischen konterrevolutionären Allianz angeschlossen, die in den 1970er-Jahren unter Schirmherrschaft der amerikanischen Handelskammer, der U.S.Chamber of Commerce, ins Leben gerufen wurde. ... Eine der fortdauernden Konsequenzen dieses antireformistischen Bündnisses war der Aufbau eines großen Netzwerkes aus Denkfabriken, Stiftungen, Instituten, juristischen Fakultäten und Aktivistenverbänden, die einen endlosen Strom an zumeist verzerrten ‚Berichten‘ und ‚Studien‘ ausstoßen, Gerichtsverfahren anstrengen, parteiische Gutachter zu Anhörungen vor Kongress- und Behördenausschüssen entsenden und Meinungsbeiträge in Medien lancieren sowie Bücher veröffentlichen, die vor allem einem Zweck dienen – die Philosophie und die Agenda der neuen Konzern-Musketiere zu fördern ...“ (Gore 2014, S.423)
Die Politik ist Gore zufolge zur bloßen Demagogie verkümmert. Die Daten und Zahlen, mit denen die Umweltverschmutzer in der Öffentlichkeit ‚argumentieren‘, sind bewußt verzerrt und gefälscht: „Es genügt völlig, ausreichend Zweifel daran (am vom Menschen verursachten Klimawandel – DZ) zu schüren, damit in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass ‚der Richterspruch noch aussteht‘ – ein strategisches Ziel, das in einem vertraulichen Dokument eines von großen CO2-Emittenten dominierten Unternehmensverbandes explizit formuliert wurde.“ (Gore 2014, S.425) – Die vor der Kopenhagener Klimakonferenz (2009) gestohlenen e-mails von führenden Klimaforschern waren genutzt worden, um mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten den Eindruck zu erzeugen, daß die Klimaforscher die Öffentlichkeit täuschen und belügen, also genau das, was die Gegner der Klimakonferenzen selbst tun. (Vgl. Gore 2014, S.432) Dieses rhetorische Instrument, dem Gegner das zum Vorwurf zu machen, was man selbst tut, kennen wir ja inzwischen sehr gut aus der Ukraine-Krise. Putin hat es darin zu großer Meisterschaft gebracht. Aber das Vorbild stammt aus der us-amerikanischen Politik.

Es ist also kein Wunder, wenn Al Gore in der Politik analog zum Freund-Feind-Schema zwischen den ‚Guten‘ und den ‚Bösen‘ sortiert und damit selbst unreflektiert das politische Schema der Klimagegner übernimmt: „Der Kampf ist längst noch nicht entschieden. Die Vereinigten Staaten sind sein Epizentrum, einfach deshalb, weil die USA als einzige Nation noch in der Lage sind, die Weltgemeinschaft zur Rettung unserer Zukunft zusammenzurufen. Wie Edmund Burke sagte: ‚Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen.‘() Genau darum geht es jetzt: Werden die Guten nichts unternehmen? Oder werden sie auf die tödliche Gefahr reagieren, der die Menschheit heute ins Auge blickt?“ (Gore 2014, S.434)

Plötzlich werden die USA zum ‚Guten‘ schlechthin stilisiert, trotz der derzeitigen moralischen Verderbtheit ihrer Politik. Und innerhalb der USA sind wiederum diejenigen, die „die Lösung der Klimakrise zum zentralen Organisationsprinzip der globalen Zivilisation machen“ (vgl. Gore 2014, S.379), die ‚Guten‘, während diejenigen, die dafür sorgen, daß „die feindseligen Bedingungen, die wir schaffen, sich weiter rapide verschlechtern und die unseren Planeten erstickende Hülle aus Treibhausgasen immer dichter werden lassen und die Zivilisation, wie wir sie kennen, zerstören“, die ‚Bösen‘ sind (vgl. ebenda).

Al Gore verwechselt hier etwas. Und das hat wiederum etwas mit seiner naiven Anthropologie zur Natur des Menschen zu tun. Was er verwechselt ist die Differenz zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ und zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘. Wir müssen uns vor allem in der Politik von der naiven Vorstellung verabschieden, daß die ‚Guten‘ immer das Richtige tun. Möglicherweise tun die ‚Bösen‘ ja tatsächlich immer das Falsche. Aber es gibt keine von den ‚Bösen‘ zu unterscheidenden ‚Guten‘. Beide Parteiungen durchzieht dasselbe ‚Böse‘, nämlich unser aller Teilhabe an einem Wirtschaftssystem, das der Zukunft des Menschen keine Chance gibt. Das Richtige hat mit der Parteiung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ nichts zu tun. Während die Frage nach dem Richtigen zur Kooperation einlädt, mündet die Frage nach den ‚Guten‘ irgendwann im Bürgerkrieg. Wir müssen uns klarmachen, daß jeder einzelne Mensch einen Anachronismus in sich austrägt, der aus dem Widerstreit der biologischen und der kulturellen Entwicklungslinie herrührt.

Das Richtige ist nicht im engeren Sinne moralisch. Um es mit einem Wort von Dietrich Bonhoeffer zu sagen: es ist „transmoralisch“. Das Richtige ist an den Moment einer Entscheidung gebunden; es ist keine Eigenschaft der individuellen Natur eines Menschen. Erich Kästner hat das in eine geniale Formel gebracht: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!

Es ist in diesem Zusammenhang wirklich nicht nebensächlich, wenn ich immer wieder auf die Natur des Menschen zurückkomme. In seinem Schlußkapitel nimmt Gore noch einmal dazu Stellung. Er versucht, zwischen einer „inneren Natur des Menschen“ und einer äußeren Natur zu differenzieren. (Vgl. Gore 2014, S.480) Die innere Natur des Menschen soll Gore zufolge unveränderlich sein, während die äußere Natur lediglich aus den „Aspekten“ besteht, mit denen wir unserer inneren Natur „gewohnheitsmäßig Ausdruck verleihen“. (Vgl. ebenda) Nur diese äußeren Aspekte sind veränderlich.

Damit verleiht Gore der menschlichen Natur etwas wesentlich Expressives. Aber er verfehlt damit das Prinzip der Expressivität, wie sie der Plessnerschen Exzentrizität entspricht. Bei Plessner ist die Expressivität so eng mit der ‚Natur‘ des Menschen verknüpft, daß sich diese allererst über ihre Expressivität verwirklicht. Nur indem wir etwas sagen bzw. etwas tun, erweisen wir uns als die Menschen, die wir jeweils sind. Dabei ist all unser Sprechen und Handeln von einer Doppelaspektivität gekennzeichnet, denn unsere ‚Natur‘, die Plessnersche ‚Seele‘, geht in dem, was wir sagen und tun, nicht auf. Veränderlichkeit und Unveränderlichkeit sind beides gleichursprüngliche Momente unserer menschlichen Natur.

Indem Gore im Unterschied zu Plessner aber dem Ausdruck der menschlichen Natur eine prinzipielle Veränderlichkeit attestiert, der er die prinzipielle Unveränderlichkeit der inneren Natur gegenüberstellt, entkoppelt er beides voneinander. Beides hat im Grunde nichts mehr miteinander zu tun. Dennoch unterscheidet er auch zwischen ‚Guten‘ und ‚Bösen‘ und führt damit deren ‚Äußerungen‘ bzw. ‚Taten‘ auf eine innere Natur zurück, die ja seinen eigenen Worten zufolge unveränderlich ist. Die ‚Guten‘ sind also substantiell ‚gut‘, und die ‚Bösen‘ sind substantiell ‚böse‘. Damit widerspricht er sich selbst. Mal ist das, was wir sagen und tun, beliebig, mal entspringt es einer inneren Natur. Aber das, was wir tun, ist nicht gut oder böse, sondern richtig oder falsch; mehr nicht.

Ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Politik, die nicht zwischen Freund und Feind unterscheidet, besteht darin, die individuelle Urteilskraft, den individuellen Verstand zu stärken. Und die einzige Basis dieses individuellen Verstandes ist der Körperleib. Al Gore hat das tatsächlich verstanden, wenn er von der „Weisheit der Menge“ spricht. (Vgl. Gore 2014, S.143; vgl. auch meinen Post vom 25.06.2014) In dem Kapitel zum „Abgrund“ kommt Gore in einem Nebensatz auf die „eigenen Sinne“ derjenigen zu sprechen, die für die Folgen der „Klimaerwärmung“ nicht blind sind. (Vgl. Gore 2014, S.424) Es gibt tatsächlich eine Rangfolge hinsichtlich dessen, was wir glauben dürfen und was wir bezweifeln müssen. Die von der Politik, den Medien und der Wissenschaft gelieferten Daten und Zahlen dürfen und müssen wir immer bezweifeln. Niemals aber dürfen wir bezweifeln, was wir mit unseren eigenen Augen sehen. Buddhisten bezeichnen diese spezifische Sensibilität des individuellen Verstandes als Achtsamkeit.

Mit den je „eigenen Sinnen“ wird der individuelle Verstand und das individuelle Gewissen zur unverzichtbaren Grundlage einer kollektiven Meinungsbildung und kollektiver Entscheidungsprozesse, also zur Grundlage dessen, was Gore die „Weisheit der Menge“ nennt. Hier setzt Al Gore auf das Internet, weil er die anderen Medien, insbesondere eben in den USA und da wiederum insbesondere das Fernsehen als vom Geld mißbrauchte Instrumente der Demagogie erlebt. (Vgl. Gore 2014, S.490) Das Internet aber soll, trotz aller seiner potentiellen Gefahren, einer weltweiten, ethisch definierten „Mittelschicht“ (Gore 2014, S.486) als „allgemein zugängliches Forum“ dienen (vgl. Gore 2014, S.489), vergleichbar der Agora im antiken Griechenland oder dem Forum in Rom:
„Die Vernetzung aller Menschen rund um den Erdball durch das Internet hat zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir uns unter- und miteinander offen und klar über die Herausforderungen austauschen können, denen wir gegenüberstehen – und über die Lösungen, die heute schon verfügbar sind. ... Zum Glück findet sich im Internet eine große Fülle an Beispielen für ein sich herausbildendes globales Gewissen – ein Gewissen, das schon in vielen Fällen mit großem Druck auf die Behebung von Ungerechtigkeiten und moralischen Missständen gedrängt hat, angefangen von Kinderarbeit und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen über willkürliche Verhaftungen und Sexsklaverei bis hin zur Verfolgung wehrloser Minderheiten und der Zerstörung der Umwelt.“ (Gore 2014, S.475f.)
Das „globale Gewissen“, von dem Gore hier spricht, entspricht der „Weisheit der Menge“ (Gore 2014, S.143) bzw. dem „Weltgehirn()“ (Gore 2014, S.489). Eine ähnliche Argumentation, bezogen auf ein historisch situiertes, global orientiertes ‚Gewissen‘, kennen wir im Rahmen dieses Blogs schon von Hans Joas (2011). (Vgl. meine Posts vom 12.05. bis 16.05.2012) Aber ein solches kollektives Bewußtsein, als Summe eines versammelten, gemeinsamen Denkens, ist nur dann mehr als das individuelle Denken, wenn die Integrität der individuellen Urteilskraft nicht angetastet wird.

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