„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 16. Juni 2017

Skulptura Münster 2017

1. ‚Noch nicht‘
2. Weitere Suchbewegungen
3. Wem gehört der Common Ground?

Am Freitag machte ich mich wieder auf den Weg nach Münster. Mittags sollte eine Pressekonferenz stattfinden, und ich ging davon aus, daß der Presse auch etwas zum Photographieren geboten würde und daß deshalb die Skulpturen inzwischen alle aufgestellt sein müßten. Inzwischen hatte ich auch gelesen, daß die von mir vermißte Skulptur von Michael Smith am Tattoo-Geschäft am Hansaring im Tattoo-Geschäft selbst bestand. Ich hatte es nur nicht als Skulptur erkannt.

Auch die Skulptur von Cosima von Bonin und Tom Burr hinter dem LWL, die ich am Mittwoch vermißt hatte, war schon dagewesen: sie hatte im Tieflader mit der leeren Kiste bestanden, so daß das am Boden befestigte Schild hinter dem Tieflader also völlig korrekt dort angebracht worden war, wo es hingehörte.

Immerhin können einem diese Schilder also bei der Suche nach den Skulpturen weiterhelfen. Außerdem befinden sich bei einigen Skulpturen für die Dauer der Ausstellung eigens dafür angestellte Studenten, die einem alles erklären, was, wie ich finde, durchaus nötig ist. Zwar behaupten die Ausstellungsverantwortlichen, daß man keinen Kunstverstand brauche, um die Skulptura zu besuchen; aber ich kann das nur so deuten, daß es dort, wo es nichts zu verstehen gibt, auch keinen Verstand braucht.

Das Kunstinteresse des Publikums scheint sich sowieso darin zu erfüllen, alles zu photographieren, was sich mit Hilfe von Studenten und Schildern als Skulptur auszuweisen vermag.

Ich machte mich also am frühen Vormittag ein weiteres Mal auf den Weg nach Münster und schaute zunächst am Kinderspielplatz beim Fernmeldeturm vorbei. Dort war am Eingang des Spielplatzes diesmal tatsächlich ein Schild angebracht und wies auf ein „12 Volt“ genanntes Projekt von Aram Bartholl hin. Ich suchte wieder den ganzen Spielplatz ab, fand aber nichts. Also fuhr ich weiter zur Andreas-Hofer-Straße, weil mein Vater mir am Abend zuvor von einer Lichtertafel und einer Klanginstallation an der ehemaligen Oberfinanzdirektion erzählt hatte. Ich hatte bei meinen Besuch am Tag vorher bei Annette und Heinz eine Sendung des Münsterlandfensters zu dieser Klanginstallation gesehen und wollte mir das ansehen. Ich fand aber nichts, weder die Installation noch die ehemalige OFD. Beides war nicht da: die eine noch nicht, die andere nicht mehr.

Dann fuhr ich ins Stadtzentrum und entdeckte am Servatiiplatz „Nietzsches Rock“ von Justin Matherly. Mit ‚Rock‘ ist nicht etwa ein altmodischer Herrenmantel gemeint, sondern ein Felsen bzw. ein Berggipfel in Sils Maria. Ich frage mich, ob Nietzsche, wenn er von seinem ‚Rock‘ gehört oder gelesen hätte, nicht vielleicht doch eher an seinen Mantel gedacht hätte. Der ‚Rock‘ befindet sich nur wenige Meter vom Einheitsdenkmal auf derselben Wiese entfernt: zwei aneinandergekettete Betonstücke. Felsen und Beton: da gibt es schon mal eine Gemeinsamkeit. Ob „Nietzsches Rock“ vielleicht auf diesen Aspekt der deutschen Geschichte hinweisen soll?

Ich kaufte mir in der Buchhandlung im ehemaligen Landesmuseum einen der gerade frisch gelieferten Kataloge für sehr preiswerte 15,--. Als ich nach einem Faltblatt mit den Standorten fragte, sollte ich dafür 3,-- zahlen. Nicht sehr günstig, und ich verzichtete auf das Faltblatt. Hätte ich ein Smartphone oder ein entsprechendes Handy gehabt, hätte ich mir die „Skulptur-Projekte App“ runterladen können. Aber da ich mich dieser Technologie verweigere, mußte ich weiterhin mit der schlechten Photokopie der WN-Seite klarkommen. Auch im Katalog befindet sich kein Lageplan. Übrigens bedürfen auch einige ‚Skulpturen‘ der Ergänzung durch ein Smartphone, ohne das einem der volle Kunstgenuß vom Künstler verweigert wird. Ich habe mich dieser Ausgrenzung gefügt und gar nicht erst nach ihnen gesucht.

Jedenfalls erfuhr ich über den Katalog, daß „Nietzsches Rock“ auf Gehhilfen gebaut ist, die unterhalb der Skulptur, die nicht direkt auf dem Rasen aufliegt, zu sehen sind. Der ganze Felsen erwecke so den Eindruck, als schwebe er. Von dem Einheitsdenkmal unweit der Skulptur ist keine Rede. Allerdings erwähnt der Katalog, daß der Felsen in Sils Maria Nietzsche zu dem Satz von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ inspiriert habe. Man könnte also, schlußfolgerte ich, „Nietzsches Rock“ auch als Warnung vor der beständig drohenden Wiederkehr von totalitären Gesellschaftssystemen verstehen.

Ich war so sehr von mir und meinen inhaltsschweren Gedankengängen beeindruckt, daß ich beschloß, für diesen Tag genug gesehen und nachgedacht zu haben. Ich radelte zu Annette und Heinz, traf dort aber niemanden an. Also aß ich erstmal in der Warendorfer Straße ein Eis und fuhr dann zur Andreas-Hofer-Straße. Ich hatte dank des Katalogs jetzt eine genaue Adresse und wollte nochmal nach der Skulptur sehen, von der mein Vater mir berichtet hatte. An der betreffenden Stelle befiand sich dann aber keine Lichtertafel, geschweige denn eine Klanginstallation. Stattdessen stand da ein Gerüst mit einer Aussichtsplattform, die ich beim ersten Mal Vorbeifahren nicht beachtet hatte. Ich ging die Treppe rauf und blickte auf eine riesige Baustelle mit Baggern und Kränen: das Gelände der abgerissenen Oberfinanzdirektion. Als ich wieder runterging, stand da ein Rentner mit einem Smartphone und photographierte ein Detail der Treppe: das Geländer. Als er mich sah, sagte er:

„Da haben die Bauarbeiter doch wirklich gute Arbeit geleistet.“
„Mag sein!“, sage ich. „Aber wo ist die Skulptur?“
Der Mann zuckt mit den Schultern und zeigt dann auf die Baustelle: „Das ist die Skulptur.“
Dann lacht er freundlich und geht seiner Wege.
„Immerhin!“, dachte ich. „Das Geländer der Treppe zur Aussichtsplattform war ihm wohl ein Photo wert gewesen.“

Ich machte einen dritten und letzten Versuch, die Skulptur beim Fernmeldeturm zu finden. Als ich mein Fahrrad abgestellt hatte und im zunehmenden Nieselregen den Spielplatz betrat, forderte mich jemand am hinteren Rand des Platzes freundlich auf, näher heranzukommen. Ich ging zu den Büschen, hinter denen ich den unsichtbaren Sprecher vermutete, und tatsächlich stand dort ein Student mit Regenschirm und zeigte mir den kleinen versteckten Pfad, auf dem ich zu ihm herunter kommen konnte.

Als ich bei ihm ankam, sah ich einen Grill, auf dem sich ein Wärmeenergieumwandler befand. Von diesem Wärmenergieumwandler führte ein Kabel zu den Büschen, von den Büschen zu einer Stange und von der Stange zu dem Fernmeldeturm, an dem auf halber Höhe ein Router angebracht war. Der Student erklärte mir alles detailliert und wies darauf hin, daß der Router einen Zugang zu einer Website ermögliche, auf der erklärt werde, wie man offline geht.

Wir kamen miteinander ins Gespräch. Ich erzählte ihm von meinen bisherigen Bemühungen, Skulpturen zu entdecken und zu besichtigen. Außerdem versuchte ich, ein, zwei Kriterien aus dem Ärmel zu schütteln, anhand deren man ein Kunstwerk erkennen kann: „Kunst“, postuliere ich, „muß etwas mit Können und mit Erkennen zu tun haben!“
Der junge Mann, Student und Künstler aus Düsseldorf, nickt und meint: „Meine Mutter denkt auch so über Kunst!“
Ob ich denn wisse, fragt mich der Student, was eine Performance sei.
Da wurde mir deutlich, daß er mich zur älteren Generation zählte. Dabei hatte ich mich, in Erinnerung an meine eigene Studentenzeit, gleich mit ihm solidarisch gefühlt, als er sagte, er verdiene sich hier auf der Skulptura etwas dazu, indem er täglich fünf Stunden bei dem Grill ausharre.

Ich bin also so eine Art Rentner auf Skulpturensuche. Zwar noch nicht direkt Rentner, aber immerhin auf dem Weg dorthin.

Als mein Vater mir am nächsten Tag die WN auf den Frühstückstisch legte, fand ich darin eine ausgiebige Berichterstattung zur Skulptura. Unter anderem las ich dort einen Satz von Johann Nestroy: „Kunst ist, wenn man’s nicht kann. Denn wenn man’s kann, ist es keine Kunst.“

Und ansonsten kann man ja auch die Schilder lesen oder einen Studenten fragen.

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