„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 7. Oktober 2015

Frans de Waal, Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote, Stuttgart 2015 (2013)

(Klett-Cotta, 365 S., gebunden, 24,95 €)

1. Methode I
2. Methode II: Transdisziplinarität
3. Monopole
4. Emotion und Kognition
5. Empathie und Altruismus
6. Gut, Böse und die Natur des Menschen
7. Moralität
8. Sex

Schon in seinem Buch „Das Prinzip Empathie“ (2011/2009) hatte sich de Waal dezidiert gegen den praktisch das ganze 20. Jhdt. prägenden Versuch der Behavioristen gewandt, das Verhalten von Menschen und Tieren nach dem Vorbild von physikalischen Naturgesetzen als kausal determiniert zu beschreiben und Phänomene wie die menschliche Willensfreiheit und die Moralität zu verleugnen. (Vgl. meinen Post vom 15.05.2011) Auch in seinem aktuellen Buch macht de Waal seine Abneigung gegen solche Erklärungsmodelle deutlich: „Ich habe Tiere nie als Reiz-Reaktions-Automaten betrachtet. Diese Theorie ist so dürftig, dass ich gar nicht wüsste, wo ich ansetzen sollte, um sie zu zerpflücken.“ (De Waal 2015, S.187)

Zu dieser reduktionistischen Neigung kommt noch ein missionarischer Eifer der betreffenden Wissenschaftler, die sich aufgrund ihrer Erkenntnisse für besonders kompetent darin halten, Fragen des Lebenssinns zu beantworten und die deshalb Religion und auch Philosophie für entbehrlich halten. De Waal macht auch hier seinen Standpunkt klar: „Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, den Sinn des Lebens zu erklären, und es steht ihr schon gar nicht zu, den Menschen vorzuschreiben, wie sie leben sollen. ... Wir Wissenschaftler sind gut darin, herauszufinden, warum die Dinge so sind, wie sie sind, oder wie sie funktionieren, und ich bin davon überzeugt, dass die Biologie viel zu unserem Verständnis von Moralität beitragen kann. Aber das berechtigt uns noch lange nicht dazu, moralische Ratschläge zu erteilen.“ (De Waal 2015, S.32f.)

Die Biologie kann also die Moralität des Menschen nicht bestimmen, aber sie kann dazu beitragen, zu verstehen, wie sie evolutionsbiologisch möglich wurde und wo eventuell die – aus biologischer Sicht – Grenzen der menschlichen Moralität liegen könnten. Die Biologie als Wissenschaft ist vor allem eine „Handlangerin der Moral“ (de Waal 2015, S.37). Über „Richtig und Falsch“ entscheiden die Menschen selbst. (Vgl. de Waal 2015, S.36)

In dieser dienenden Funktion liegt der transdisziplinäre Charakter der Wissenschaft. Sie begleitet und beobachtet das menschliche Handeln, aber sie gibt nicht die Richtung vor. Das ist aber keine Einbahnstraße. Die Wissenschaft ist nicht autonom, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß sie allein über Inhalte und Gegenstände ihrer Forschung selbst bestimmt. De Waal bringt hier wieder den Behaviorismus als Beispiel. Der Behaviorismus hat die biologische Forschung praktisch das ganze 20. Jhdt. hindurch geprägt. Seit den 1980er Jahren kämpft de Waal in seinen Vorlesungen für eine andere, weniger deterministische Sicht auf das Leben. In diesen Vorlesungen zitierte er immer wieder einen Satz von Michael Tenant Ghiselin: „‚Kratze einen ‚Altruisten‘, und sieh zu, wie ein ‚Heuchler‘ blutet.“ (De Waal 2015, S.64), ohne besondere Wirkung bei seiner Zuhörerschaft. Aber seit 2005, so de Waal, reagierten seine Zuhörer „mit hörbarem Entsetzen oder Gelächter darauf“. (Vgl. ebenda)

Seit etwa dieser Zeit hat der Behaviorismus seine Bedeutung in der Öffentlichkeit und in der Biologie verloren. Er „löste sich in Luft auf“. (Vgl. de Waal 2015, S.62) De Waal kann sich diesen plötzlichen Wandel nicht erklären: „Wenn ich die schockierten Reaktionen (auf das Zitat von Ghiselin – DZ) sehe, und wie verbreitet sie inzwischen sind, frage ich mich manchmal, ob sich mein Publikum unter dem Einfluss neuer Forschungsbeweise verändert hat, oder ob es sich vielleicht umgekehrt verhält.“ (De Waal 2015, S.65)

Ich denke, wir haben hier ein schönes Beispiel für die wechselseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Lebenswelt. Wir sollten uns nicht vom scheinbar autonomen, von sich selbst überzeugten Expertentum vieler Wissenschaftler darüber täuschen lassen, daß auch sie in einer Welt aufgewachsen sind und noch immer in ihr leben, die ihre Theorien und damit auch das, was sie angeblich so objektiv erforschen, auf unbewußte Weise beeinflußt. Die Wissenschaft ist, so de Waal, „weit weniger faktengesteuert ..., als landläufig angenommen wird“: „(Ä)hnlich wie die Religion beruht die Wissenschaft auch häufig auf dem, was wir glauben.“ (De Waal 2015, S.135)

Am Gegensatz zwischen dem Behaviorismus und dem Ansatz von de Waal zeigt sich, daß wir es in der Biologie immer auch mit Annahmen über die ‚Natur‘ des Menschen und nicht zuletzt über die ‚Natur‘ der Natur selbst zu tun haben. Sind Lebewesen nur Reiz-Reaktions-Automaten und unterscheidet sich der Mensch von den Tieren nur durch einen dünnen Anstrich, genannt ‚Moralität‘, der bei der kleinsten Herausforderung zerbröckelt, um seiner wahren egoistischen Raubtiernatur freien Lauf zu lassen – de Waal spricht hier von der „Fassadentheorie“ des Menschen? (Vgl. de Waal 2015, S.63) Oder sind Menschen „darauf angelegt ..., zusammenzuleben und füreinander zu sorgen“? (Vgl. ebenda)

Daß der Mensch von Natur aus egoistisch sei und die Natur insgesamt aus lauter Raubtieren besteht, die sich gegenseitig fressen, so daß nur die stärksten und brutalsten überleben und sich fortpflanzen können, beruht auf einem geschichtsmächtigen Mißverständnis der Darwinschen Theorie durch Thomas Henry Huxley (1825-1895).

Thomas Huxley trat als Propagandist der Darwinschen Evolutionstheorie auf. Sein Verständnis von Darwin war aber ähnlich fundiert, wie das eines heutigen Laien von Einsteins Relativitätstheorie. Sogar unter Naturwissenschaftlern gibt es viele, die entschieden für die Relativitätstheorie eintreten, ohne sie tatsächlich zu verstehen. De Waal gibt in schöner Offenheit zu: „Bis heute habe ich die Relativitätstheorie nicht begriffen. Ich bin mathematisch einfach nicht begabt genug, obwohl ich dem Beispiel mit den Zügen, die aufeinander zu fahren, und anderen Vereinfachungen für Dummies durchaus folgen kann.“ (De Waal 2015, S.52)

So also auch Huxley, was Darwin betrifft. Er war der festen Überzeugung, aus Darwins Evolutionstheorie gehe hervor, daß die Natur grausam sei, folglich auch der Mensch: „Er (Huxley – DZ) selbst bezeichnete sich als ‚wissenschaftlichen Calvinisten‘, und sein Denken lässt die düsteren, freudlosen Prinzipien der Doktrin der Erbsünde erkennen. Angesichts der Unvermeidbarkeit von Schmerz und Elend in der Welt, so Huxley, könne man nichts tun, außer das Übel mit zusammengebissenen Zähnen zu ertragen – dies war seine ‚Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-Philosophie‘.() Die Natur sei außerstande, irgendetwas Gutes hervorzubringen.“ (De Waal 2015, S.55)

Tatsächlich war Darwin aber ganz und gar nicht dieser Meinung gewesen, und er glaubte auch nicht, daß aus seinem Beobachtungen so etwas geschlußfolgert werden könnte. Schließlich, so de Waal, „brauchte Darwin dringend jemanden, der ihn gegen seinen öffentlichen Fürsprecher verteidigte“: „Diese Rolle: übernahm der herausragende Naturforscher Peter Kropotkin.“ (De Waal 2015, S.57) – Kropotkin veröffentlichte ein Buch, das schon in seinem Titel der Huxleyschen These vom Kampf aller gegen alle widersprach: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ (1902).

De Waal wendet sich entschieden gegen die Vorstellung, daß so etwas wie ein ‚egoistisches‘ Gen über unser soziales Verhalten entscheiden könnte: „Der Weg von den Genen zum Verhalten verläuft alles andere als geradlinig, und die Psychologie, die Altruismus hervorbringt, verdient ebenso viel Aufmerksamkeit, wie die Gene.“ (De Waal 2015, S.51) – Der angeblich so faktensichere Verweis auf die Gene – ergänzen könnte man noch den von bunten fMRT-Bilderchen unterstützten Verweis auf die neuronalen Schaltkreise in den Neurowissenschaften – beinhaltet einen Fehlschluß: „Als Student habe ich mich mit dem ‚naturalistischen Fehlschluss‘ befasst und gelernt, dass es der Gipfel der Arroganz ist, wenn Wissenschaftler glauben, ihre Arbeit könne den Unterschied zwischen Richtig und Falsch beleuchten.“ (De Waal 2015, S.36)

Was de Waal hier als naturalistischen Fehlschluß bezeichnet, habe ich an anderer Stelle in diesem Blog unter dem Begriff des mereologischen Fehlschlusses diskutiert. (Vgl. meine Posts vom 03.05., 04.05. und vom 07.05.2015) Der Mensch muß immer als Verhaltens-Ganzes im Kontext seiner Umwelt gesehen werden. Gene stellen nur isolierte Abstraktionen dar und können den Menschen und sein Verhalten nicht erklären. Nicht einmal das Verhalten eines Wissenschaftlers läßt sich, wie wir gesehen haben, allein aus seinem disziplinären Kontext heraus erklären. Vieles beruht auf Glauben, wie schon Einstein wußte, und er wollte auf seinen Glauben nicht verzichten.

Dafür, daß wir diese Kontexte nicht verleugnen dürfen, sondern uns ihnen stellen und aus ihnen heraus Verantwortung übernehmen müssen, möchte ich den Begriff der Transdisziplinarität in Anspruch nehmen. Und in diesem Sinne ist auch Frans de Waals aktuelles Buch transdisziplinär.

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