„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 28. Oktober 2015

Axel Meyer, Adams Apfel und Evas Erbe. Wie die Gene unser Leben bestimmen und warum Frauen anders sind als Männer, München 2015

(C.Bertelsmann, 416 S., gebunden, 19,99 €)

2. Methode I: Genauigkeit
3. Methode II: Polemik
4. Methode III: Korrelation
5. Geschlecht (Sex)
6. Intelligenz
7. Sinn des Lebens
8. Genom und Gehirn

Im Grunde besteht die Evolutionsbiologie in Erbsenzählerei, auch wenn sich die statistischen Methoden seit Gregor Mendel (1822-1884) aufgrund genauerer Einblicke in die molekulare Struktur der Chromosomen und Gene verfeinert und verkompliziert haben. So einfach wie bei Mendel, wo ein einzelnes phänotypisches Merkmal der Erbsen – gelb, grün, glatte oder schrumpelige Oberfläche – genau einem einzelnen genotypischen Merkmal, nämlich einem Gen entsprach (vgl. Meyer 2015, S.40f.), ist es für die heutigen Genetiker nicht. Sogar die Augenfarbe und die Körpergröße des Menschen werden nicht durch ein einzelnes Gen, sondern durch das Zusammenwirken verschiedener Gene bewirkt.

Genetiker bezeichnen dieses Zusammenwirken verschiedener Gene als Polygenität: „Man nennt dies polygenetische Vererbung (Polygenität). Dies ist beispielsweise bei Intelligenz oder Körpergröße der Fall, aber auch bei vielen komplexen Krankheiten, etwa psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie.“ (Meyer 2015, S.55) – Wenn dann noch individuelles Verhalten (Epigenetik; vgl. Meyer 2015, S.229) und Umwelteinflüsse (vgl. Meyer 2015, S.57) ihren Beitrag bei der Herausbildung eines phänotypischen Merkmals leisten, bedeutet das, „dass, anders als bei der simplen Mendel’schen Genetik, genauere statistische Prognosen für das Individuum nicht mehr so ohne Weiteres möglich sind“. (Vgl. Meyer 2015, S.57)

Dennoch bildet für Evolutionsbiologen wie Axel Meyer der Begriff der Erblichkeit so etwas wie einen disziplinkonstituierenden Grundbegriff. Meyer sieht eine der Hauptaufgaben der Evolutionsbiologie darin, den Grad der Erblichkeit einzelner phänotypischer Merkmale, also ihren Genotyp zu bestimmen, wie er in einer merkwürdig selbstwidersprüchlichen Textstelle festhält. Nachdem er nämlich nochmal auf seine ideologische Unvoreingenommenheit hingewiesen hat – „politisch-ideologisch ist es mir vollkommen egal, wie viel Prozent eines Verhaltens oder eines echten oder vermeintlichen Geschlechtsunterschieds nun kulturell oder genetisch begründet werden können“ –, erklärt er im folgenden Satz, daß es ihm tatsächlich, ob nun ideologisch oder nicht, genau darum geht: „Es geht mir darum, anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zu erläutern, welche Macht die Gene einerseits haben und wo diese andererseits endet und die Kultur ins Spiel kommt.“ (Meyer 2015, S.16)

Der Begriff der Erblichkeit, der die Evolutionsbiologie konstituiert, ergibt sich also nicht einfach und problemlos aus dem Beobachten und Aufzählen phänotypischer Merkmale. Er ist vielmehr im hohen Maße mathematisch konstruiert. Die verschiedenen Variablen der Formel, aus der die Erblichkeit errechnet wird, bilden die Gene, die Umwelt und die Interaktion zwischen Genen und Umwelt: „Es gilt also zu erkennen, dass alle Merkmale und Charakteristiken eines Organismus abhängig sind sowohl von der Erblichkeit als auch von der Umwelt, in der seine Genetik sich entfaltet und gemessen wird. Ein Gen kann nicht ohne eine Umwelt ‚angeschaltet‘ werden, und eine Umwelt kann sich nur im Rahmen der genetischen Aufmachung eines Organismus manifestieren.“ (Meyer 2015, S.58)

Einen wesentlichen Bestandteil der Erblichkeit bildet dabei die Variation eines Merkmals innerhalb einer Population, etwa die Verschiedenheit der Augenfarben und ihre jeweilige Häufigkeit: „Erblichkeit ist ein Maß, anhand dessen quantitativ bestimmt werden soll, wie groß der Anteil der Variation eines Merkmals in einer Population ist, der durch genetische Faktoren bedingt ist.“ (Meyer 2015, S.60)

Der Prozentsatz der Erblichkeit ist also direkt mit der Variation eines Merkmals verbunden: je geringer die Häufigkeit eines Merkmals, um so geringer der Prozentsatz, und je größer die Häufigkeit eines Merkmals, um so höher der Prozentsatz. Mathematisch gesehen hat das aber einen paradoxen Effekt: wenn ein Merkmal in einer Population überhaupt nicht variiert – wie etwa die schwarze Haarfarbe der Inuit (ausnahmslos alle Inuit haben schwarze Haare) –, liegt die Erblichkeit nicht etwa bei 100, sondern bei Null, weil nämlich auch die Variation bei Null liegt: „Wenn etwa alle Individuen einer Population im Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal identisch und diesbezüglich keine genetischen Variationen vorhanden wären, dann wäre auch die Erblichkeit null, und dies, obwohl alle Menschen diese Eigenschaft hätten.“ (Meyer 2015, S.72) – Einen schöneren Beleg dafür, daß wir es bei der Erblichkeit nicht mit einer realistischen Beschreibung der Wirklichkeit zu tun haben, sondern mit einem mathematischen Konstrukt, kann es eigentlich nicht geben.

Dennoch erklärt Axel Meyer die Beherrschung der statistischen Werkzeuge der Evolutionsbiologie zu einer conditio sine qua non, um an einer Diskussion z.B. über die Erblichkeit der Intelligenz teilnehmen zu dürfen: „... wenn jemand nicht wissen will, was Normalverteilung, Varianz oder der Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität ist, dann soll er sich bitte aus der Diskussion um die erbliche Basis von Intelligenz heraushalten.“ (Meyer 2015, S.254)

Damit werden evolutionsbiologische Experten wie er sakrosankt, also immun gegen Kritik von außen: entweder man beherrscht die statistischen Instrumente oder man hat zu schweigen.

Daß die Sache bei der Intelligenz aber doch etwas komplizierter ist, als sie Meyer an dieser Stelle darstellt – nicht nur wegen ihrer statistisch durchaus meßbaren Polygenität (dafür gibt es ja mathematische Formeln) –, darauf weist Meyer selbst immer wieder hin. Denn bei der Intelligenz haben wir es immerhin, anders als bei der Augenfarbe oder der Körpergröße, mit einer „geistige(n) Fähigkeit“ zu tun, und diese ist nur „schwer quantifizierbar()“: „Intelligenzunterschiede sind daher auch offensichtlich nicht so leicht zu messen wie etwa Körpergröße.“ (Meyer 2015, S.257)

Um so etwas wie Intelligenz zu messen, reicht aufmerksames Beobachten und fleißiges Zählen nicht aus, selbst mit den ausgereiften statistischen Methoden und modernen Technologien von heute. Zuallererst bedarf es einer Definition, was Intelligenz eigentlich sein soll: „Intelligenzforschung ist kein einfaches Feld. Denn zuallererst muss hinreichend genau definiert werden, was exakt gemessen werden soll, damit das Ergebnis auch objektiv, ohne Bias – statistische Verzerrung –, nachvollziehbar und reproduzierbar ist.“ (Meyer 2015, S.257)

An dieser Stelle sollte man doch meinen, daß selbst jemand, der nach Meyers Kriterium keine Ahnung von Normalverteilung, Varianz und Korrelation hat, dafür aber umso intensiver viel über Bewußtsein, Vernunft, Aufmerksamkeit und andere geistige Phänomene nachgedacht, gelesen und mit anderen Menschen gleichen Interesses darüber diskutiert hat – kurz: ein Geisteswissenschaftler –, in der Intelligenzforschung sehr gefragt sein müßte. Aber weit gefehlt: Meyer zufolge verbreiten diese Geisteswissenschaftler nur „Humbug“: „Naturwissenschaftler können sich nur wundern darüber, was in den letzten Jahrzehnten in einigen Bereichen der Geisteswissenschaften passiert ist. Es ist offensichtlicher Humbug, der da zum Teil verzapft wurde und wird.“ (Meyer 2015, S.359)

Als Beispiele für diesen ‚Humbug‘ zählt Meyer Philosophen wie Foucault, Baudrillard, Derrida und Lacan auf, deren Texte er als „so undurchdringlich und absichtsvoll unverständlich“ beschreibt, „dass jeder darin lesen kann, was er mag“. (Meyer 2015, S.358)

Tatsächlich kann ich Axel Meyers Verzweiflung angesichts dieser Texte sehr gut nachvollziehen. Auch ich habe tage- und nächtelang über diesen Büchern gehockt und mir die Stirn zerfurcht und den Bleistift gespitzt, bis zum Schluß kaum ein Zentimeterchen davon übrig blieb, ohne bestenfalls vielleicht gerade mal die Hälfte davon zu verstehen. Aber Meyers Unverständnis für diese philosophischen Denkprozesse ist der Darstellungsform einer Disziplin geschuldet, die an diese Darstellungsform ganz ähnlich gebunden ist, wie die Evolutionsbiologie an ihre statistische Korrelation. Sicher haben die Texte von Foucault, Baudrillard, Derrida und Lacan etwas Willkürliches und möglicherweise unnötig Konstruiertes an sich; sie haben einen ‚Jargon‘. Aber genauso konstruiert ist auch die ‚Erblichkeit‘ der Intelligenz, umso mehr als sie polygenetisch bedingt ist und durch individuelles Verhalten sowie durch kulturelle Beeinflussung modifiziert wird und es sich außerdem dabei um eine geistige Fähigkeit handelt, die sich der quantifizierenden Beobachtung entzieht.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen