„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 1. August 2014

Klaus Mainzer, Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data, München 2014

(Verlag C.H. Beck, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, geb. 24,95 €, S.352)

1. Methode und These I
2. Methode und These II
3. Sätze und Formeln
4. Zelluläre Automaten und der Strukturalismus
5. Superpositionen, Metaphern und Intuitionen
6. Semantik
7. Anthropologie

Wenn man einmal verstanden hat, daß Zahlen und Algorithmen die Basis von Maschinensprachen bilden, dann wundert es einen doch, wenn immer wieder in diesem Zusammenhang die Wörter ‚Syntax‘ und sogar ‚Semantik‘ auftauchen. So heißt es z.B. bei Klaus Mainzer mit Bezug auf Big Data: „Um die Komplexität der Daten zu bewältigen, muss das Netz lernen, selbstständig Bedeutungen zu erkennen und zu verstehen. Das leisten bereits semantische Netze, die mit erweiterbaren Hintergrundinformationen (Ontologien, Begriffen, Relationen, Fakten) und logischen Schlussregeln ausgestattet sind, um selbstständig unvollständiges Wissen zu ergänzen und Schlüsse zu ziehen.“ (Mainzer 2014, S.227)

In diesem Zitat treten alle wesentlichen Schlüsselwörter auf, die auch das menschliche Bewußtsein auszeichnen: vom selbständigen Erkennen von ‚Bedeutungen‘, die sich als Figur bzw. Gestalt vor ‚Hintergründen‘ abheben, bis hin zur Fähigkeit, mit Hilfe dieser Hintergrundinformationen und von Schlußfolgerungen unvollständige Informationen zu ergänzen. Wären Algorithmen bzw. formale Sprachen tatsächlich dazu in der Lage, dann bliebe in der Tat kein Kriterium mehr, um maschinelles Rechnen und menschliches Denken voneinander zu unterscheiden. Auch Mainzer scheint davon auszugehen, wenn er festhält: „Hier zeigt sich wieder, dass Semantik und Verstehen von Bedeutungen nicht vom menschlichen Bewusstsein abhängen.“ (Mainzer 2014, S.227) – Und in Kittlerscher Manier fügt er hinzu: „Literaturwissenschaftler, die immer noch glauben, dass Computer ‚nur‘ syntaktisch Symbole verändern, haben den Ernst der Stunde und ihres Fachs noch nicht begriffen.“ (Mainzer 2014, S.241)

Wäre das der Stand der Dinge, dann wäre die „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“, wie Mainzer Kittler, ohne seinen Namen zu nennen, zitiert (vgl. Mainzer 2014, S.32), nur noch eine Fußnote der Geschichte, über die man sich nicht mehr weiter aufzuregen braucht. An ihre Stelle sind längst „Digital Humanities“ (ebenda) getreten, und eine Firma wie „Narrative Science“ bietet Software an, die in der Lage ist, „Artikel in Zeitschriften automatisch zu erstellen“. (Vgl. Mainzer 2014, S.241) – Ich gebe hiermit in aller Form mein Ehrenwort, daß alle die ca. 540 Posts, die ich bislang in diesem Blog geschrieben habe, tatsächlich von mir sind und nicht von einem robot stammen.

Aber so weit sind wir doch noch nicht. Wenn man genauer hinsieht, handelt es sich bei der sogenannten Semantik um eine 1:1-Zuordnung von Funktionen, etwa des ASCII-Codes zu den Tasten eines Keyboards: „Eine Bedeutung erhält der Term einer formalen Sprache dadurch, dass er einem Term in einer anderen Sprache zugeordnet wird. So steht z.B. eine bestimmte Folge von 0 und 1 im ASCII-Code eines Computers für ein Symbol, das auf dem Keyboard des Computers abgebildet ist.“ (Mainzer 2014, S.154)

Wir haben es also mitnichten mit einem in Bedeutungen transformierten Weltverhältnis zu tun. Die verschiedenen Schichten, die die Funktionen eines Computers von der Hardware bis zum Textverarbeitungsprogramm bzw. zur Suchmaschine eines Internetbrowsers bilden, verschränken sich deshalb auch nicht zu einer ‚Superposition‘, wie beim menschlichen Gehirn, sondern sie bilden lediglich funktionale Hierarchien; weshalb der von Mainzer vorgenommene Vergleich mit dem menschlichen Gehirn eher unangemessen ist: „Entsprechend werden im Computer verschiedene Schichten von formalen Computersprachen unterschieden, um durch die gegenseitige Abbildung ihrer formalen Ausdrücke Bedeutungen und digitale Prozesse zu erzeugen.“ (Mainzer 2014, S.155)

Wir haben es also eher mit einer „Semiotechnik“ zu tun, wie es Kittler nennt (vgl. „Die Wahrheit der technischen Welt“ (2013/1979), S.28), als mit einer Semantik. Ich habe schon vor einiger Zeit zwischen Expression, Artikulation, Bedeutung, Referenz, Sinn und Signal unterschieden. (Vgl. meine Posts vom 07.07.2011 und vom 15.06.2012) Was Mainzer ‚Bedeutung‘ nennt, entspräche noch am ehesten dem, was ich Signal nenne. Alle anderen Begriffe basieren im Wesentlichen auf einer Differenz und nicht auf einer Identifizierung. Bedeutung entsteht z.B. aus der Differenz von Meinen und Sagen, eine Differenz, die aus der Plessnerschen Doppelaspektivität  (innen/außen) hervorgeht und auf der Brechung des Intentionsstrahls beruht. Die Medien unseres Handelns (Bedingungen der Außenwelt, Werkzeuge, Körperlichkeit) und die Kommunikationsmedien (Mimik, Gestik, mündliche und schriftliche Sprache) setzen unserem Wollen enge Grenze. Indem wir an diesen Grenzen scheitern, werden wir uns allererst unserer selbst und unserer sozialen Bedürftigkeit, des anderen Menschen, bewußt.

Semantik bildet also keine formale Schicht in einer Maschinensprachenhierarchie. Sie hat etwas mit dem Welt- und Selbstverhältnis des Menschen zu tun. Dazu bedarf es aber einer Anthropologie, auf die ich im nächsten und letzten Post zu sprechen komme.

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