„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 6. März 2012

Globalisierung und Lebenswelt

Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Berlin 2011

1.    Was beschreibt eine „diagnostische“ Theorie?
2.    Der innerste körperliche Kern der Lebenswelt
3.    Innen- und Außenhorizonte schieben sich ineinander
4.    Kommunikation ohne ‚Grenzen‘
5.    Neue (Alltags-)Medien

Um die Verwandlung der Familie in eine Weltfamilie und die damit einhergehenden Veränderungen der Lebenswelt zu beschreiben, möchte ich anhand einer Graphik drei verschiedene Perspektiven auf die Familie aufzeigen: eine traditionell moderne, die ich am Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft beschreiben möchte, und zwei post-moderne Perspektiven, von denen die eine ein asymmetrisches Verhältnis der Lebenswelten beinhaltet und die andere ein symmetrisches Verhältnis der Lebenswelten.

‚Traditionell-modern‘ soll heißen, daß wir es hier mit einem Familienkonzept zu tun haben, das spezifisch westlich geprägt ist und in dem das Schicksal der Individuen im Zentrum steht. Es gibt andere Familienkonzepte, die das Schicksal der Familien ins Zentrum stellen. Man könnte es auch so formulieren, daß es in der westlichen, europäischen Aufklärung immer um das Wohl von Einzelindividuen geht, während wir es in vielen nicht-westlichen Kulturen mit Familienindividuen zu tun haben: „Migration ist in vielen Fällen kein Individualunternehmen, sie ist vielmehr ein Familienprojekt ... . Ähnlich bei der Heirat: Hier ist die Ehe nicht die Verbindung zweier Individuen, sondern zweier Familiengruppen ...“ (Vgl. B./B.-G., S.122) – Über den Begriff der Ehre werden die Familienmitglieder zu einem Gesamtindividuum zusammengebunden: „Wer die Gebote der Familienloyalität nicht einhält, dessen Ruf und dessen Ehre sind bedroht.“ (B./B.-G., S.123)

Um das ‚traditionell-moderne‘ Familienkonzept zu beschreiben, greife ich auf Plessners Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zurück. (Vgl. meine Posts vom 14.11.2010 bis zum 17.11.2010) Plessner stellt diese Differenz noch in den nationalen Rahmen. Wir haben es also mit einer Gesellschaft zu tun, die dieselbe Sprache spricht und in der die Individuen denselben Konventionen unterworfen sind. Diese Konventionen ermöglichen es den Individuen, Rollen zu spielen, ohne sich mit diesen Rollen identifizieren zu müssen. Innere Haltung und äußeres Verhalten müssen also nicht übereinstimmen. Diese Differenz bildet Plessner zufolge eine innere Freiheit, die es den Individuen ermöglicht, sich auszuprobieren und sich zu entwickeln.

Hier ist es vielleicht für die weitere Diskussion notwendig, zusätzliche Differenzierungen anzufügen: zwischen Sitte und Lebenswelt und zwischen Gesinnung und Haltung. Sitte ist, worüber man redet, ohne sich notwendigerweise in seinem Handeln danach zu richten. Sitte ist Gesellschaft. Lebenswelt ist hingegen, worüber man nicht redet, aber wovon wir in unserem Handeln bestimmt werden. Die Lebenswelt ist das Unbewußte bzw. das Unter-Bewußte im Sinne eines Untergründigen, Hintergründigen, nicht selten auch Abgründigen. Dennoch bildet sie das gesellschaftliche Fundament unseres Bewußtseins.

Daran anschließend kann man wiederum sagen, daß die Gesinnung etwas ist, worüber man redet, worauf man aber unter widrigen Umständen auch gut verzichten kann. Dann tut man pragmatisch das, was notwendig ist. Haltung hingegen ist, worüber man nicht redet, woran man aber auch unter widrigen Umständen festhält. Die Haltung ist das Ergebnis eines Bildungsprozesses und unterliegt deshalb unserer bewußten Kontrolle. Für sie sind wir verantwortlich.

Die Gemeinschaft ist nun bei Plessner in allem der Gegensatz zur Gesellschaft. Das Grundprinzip der Gemeinschaft ist die Familie bzw. das ‚Blut‘.  Das ‚Blut‘ bildet aber eigentlich nur eine Metapher für die Intimität, mit der die Mitglieder der Gemeinschaft einander zugewandt sind. Die Individuen sind qua Geburt und nicht aufgrund ihrer Individualität Teil einer Familie bzw. Gemeinschaft. Auch die ‚Geburt‘ bildet eher eine Metapher. An ihre Stelle kann auch ein Initiationsritus treten oder schlicht die Bereitschaft, sich der Gemeinschaft ganz, mit ‚Haut und Haar‘, hinzugeben.

Um uns also als Individuen verwirklichen zu können, müssen wir die Gemeinschaft bzw. die Familie verlassen und in die Gesellschaft eintreten. In Plessners Modell sind vor allem die Individuen mobil. Sie sind Grenzgänger und wechseln an der Grenze zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft hin und her. Innerhalb des nationalen Rahmens sind es also vor allem die Individuen, die ‚emigrieren‘, die die Familien verlassen, um sich den Ansprüchen der Gesellschaft zu stellen, und die wiederum in die Familie zurückkehren, um sich den Ansprüchen der Familie zu stellen, wobei die jeweiligen Ansprüche, die gesellschaftlichen wie die familiären, völlig verschiedenartig sind. Sie lassen sich nicht miteinander ‚verrechnen‘ oder ausgleichen.

Nicht nur die Gemeinschaft, auch die Gesellschaft stellt nämlich umfassende Ansprüche an die Individuen. Die Gesellschaft ist eben nicht einfach nur eine Spielwiese der individuellen Selbstverwirklichung, wie Plessner es in „Die Grenzen der Gemeinschaft“ darstellt; vor allem nicht die Gesellschaft als kapitalistische Wirtschaftsform, in der die Individuen die aus der Unvereinbarkeit familiärer und gesellschaftlicher Ansprüche hervorgehenden Konflikte in ihrer Person austragen müssen. Zwar hat sich der Frühkapitalismus in vielerlei Hinsicht zähmen und ‚humanisieren‘ lassen, aber von jenen Zeiten, in denen ein Gewerkschaftsslogan mit: „Am Samstag gehört mein Papa mir!“ erfolgreich für die 40-Stunden-Woche hatte werben können, sind wir inzwischen schon wieder weit entfernt.

Letztlich erweist sich nämlich die Gesellschaft nicht nur für das Individuum als nützlich, wenn es darum geht, es vor den seelischen Belastungen durch die Familie zu bewahren, sondern auch das Individuum erweist sich als nützlich, weil es befreit von familiären Bindungen für den kapitalistischen Verwertungsprozeß disponibel wird. Der Bildungsprozeß des Individuums erweist sich für die Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen des globalen Kapitals als funktional. Diese Funktionalisierung der individuellen Bildung als Arbeitskraft umfaßt zunehmend auch beide Geschlechter, nicht nur den Mann, auch die Frau. Hier wiederum erweist sich die Emanzipation der Frau für das globale Kapital als funktional.

Das alles geht zu Lasten der Familie, weil die immer mehr auch gesetzlich verankerte Gleichberechtigung der Geschlechter in der real-existierenden Paarbeziehung, trotz bemühter Gutwilligkeit des männlichen Teils, bislang nicht wirklich umgesetzt wird und die Frauen nach wie vor die Hauptlast der Kindererziehung tragen. B./B.-G. sprechen hier mit Maria Retrich vom „patriarchalen Webfehler“ in der aufgeklärten Paarbeziehung. (B./B.-G., S.146) Wollen also die berufstätigen Frauen nicht auf die individuellen Vorteile einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe verzichten, müssen sie sich Unterstützung außerhalb der Paarbeziehung suchen. Hier kommen wir nun zur nächsten Graphik, mit der ich versuche, eine neue Struktur multipler Lebenswelten darzustellen.

Die nach wie vor bestehende Asymmetrie zwischen Mann und Frau setzt sich im globalen Rahmen fort. Zur individuellen Asymmetrie kommt eine lebensweltliche Asymmetrie hinzu, die ich in der Graphik vor allem aus der Perspektive der Haushaltshilfen und HeiratsmigrantInnen darstelle. Gab es nämlich im traditionell-modernen, nationalstaatlichen Gesellschaftskonzept noch eine Deckung zwischen dem nationalen Rahmen und der Lebenswelt sowie der Sitte, besteht der globale Rahmen nun aus vielen Lebenswelten, die sich in der Familie über die Hausarbeits- und Heiratsmigration begegnen und dort einen innerfamiliären Horizont eröffnen, der kein Binnenhorizont mehr ist: das Außen dringt ins Innere der Familie ein. Hatten wir also im nationalen Rahmen der traditionell-modernen Familie nur eine Grenze zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, so zieht sich nun eine zweite Grenze durch die Familiengemeinschaft selbst und trennt innerhalb der Familie zwischen denen, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören.

Im Falle der Hausarbeitsmigrantinnen (vgl. B./B.-G., S.141-167), bei denen es sich immer um Frauen handelt, ergibt sich daraus eine seltsame Situation: sie wechseln von der eigenen Familie in ihrem Herkunftsland in die andere Familie in ihrem Ankunftsland und sollen dort nun innerhalb der Familie die Aufgaben übernehmen, zu denen die biologischen Eltern sich nicht mehr in der Lage sehen. Bis in die Kinderbetreuung hinein wachsen sie also in eine Mutterrolle hinein, mit der sie sich aber nicht identifizieren dürfen, weil die biologische Mutter ihren Anspruch an die Kinder nicht aufgibt. Die neue Familie in ihrem Ankunftsland bleibt ihnen also fremd, so wie auch sie selbst ihren neuen Arbeitgebern fremd bleiben, während die Kinder ihre Nähe suchen, weil ihnen wiederum ihre berufstätigen Eltern zunehmend fremd werden.

In ihrer eigenen biologischen Familie überlassen die Hausarbeitsmigrantinnen meist ihre eigenen leiblichen Kinder, für die sie sich überhaupt erst in ein fremdes Land und in eine fremde Familie begeben haben, entweder Verwandten (Großmütter, Tanten) oder Nachbarinnen, die nun ihrerseits ihren Kindern näherstehen, ihnen vertrauter sind, als die ferne leibliche Mutter, die sich um die fremden Kinder einer fremden Familie kümmert. In der Person der Hausarbeitsmigrantinnen werden also wieder die Konflikte einer globalen Wirtschaftsordnung ausgetragen, die es nicht zuläßt, daß die potentiellen Arbeitskräfte anderen Bindungen unterworfen sind als denen einer totalen, nunmehr globalen Disponibilität für den Arbeitsmarkt. Zugleich wird die Ungleichheit der Reichtumsverteilung auf die familiäre Fürsorge übertragen: die Kette stellvertretender familiärer Fürsorge setzt sich immer weiter nach unten hin fort, bis am untersten Ende für die ärmsten Pflegebedürftigen niemand mehr da ist. Die Hausarbeitsmigration führt also zu einem globalen „care drain“. (Vgl. B./B.-G., S.165)

Die Hausarbeitsmigrantinnen wechseln also von ihrer eigenen Familie in die ‚Arbeitsfamilie‘ und bei gelegentlichen Heimatbesuchen wieder zurück in die Heimatfamilie. Beide Familien sind so von einer innerfamiliären Grenze durchzogen, die die Hausarbeitsmigrantinnen zugleich mit der nationalen Grenze in beide Richtungen überschreiten. Sie lernen nun, die eigene Lebenswelt von außen und die Lebenswelt ihrer Arbeitsfamilie von innen zu sehen, ohne weder in der einen noch in der anderen dazuzugehören. Dem Statusgewinn, den sie als Geldverdienerinnen in ihrer Herkunftsfamilie erhalten, steht der Verzicht auf die Anerkennung ihrer Mutterschaft in der Arbeitsfamilie gegenüber, die zugleich von deren mütterlichen Fürsorge für die eigenen Kinder profitiert. Herkunftsfamilie und Arbeitsfamilie bleiben verschiedenen Welten zugehörig und kommen nicht miteinander in Berührung.

Andersartige Asymmetrien ergeben sich bei HeiratsmigrantInnen (Vgl. B./B.-G., S.106-140), bei denen es sich um Männer wie Frauen handeln kann, je nach dem welcher Partner dem anderen in dessen Heimat nachfolgt. Hier spielen die jeweiligen Herkunftsfamilien eine wesentlich größere Rolle, wobei völlig verschiedenartige Familienkonzepte und, mit ihnen, Lebenswelten aufeinander stoßen können: Familienkonzepte, in denen das Individuum eine relativ große Autonomie genießt, und Familienkonzepte, in denen die Familien selbst als Individuen auftreten können. Oft genug sind es gerade traditionelle Familien, die ihre Töchter in den Westen verheiraten, um über sie Zugang zur westlichen Welt zu finden. Oder junge Männer aus den Armutsregionen, nicht selten dabei wiederum unterstützt von ihren Herkunftsfamilien, versuchen über eine Heirat in die westliche Welt zu gelangen, so daß entsprechende Paarbeziehungen in der sogenannten ‚Ersten Welt‘ unter einem Generalverdacht stehen und von Nachbarn, Freunden und der staatlichen Bürokratie mißtrauisch beäugt werden. (Vgl. B./B.-G., S.129)

Dabei sind Täter- und Opferrollen in der Paarbeziehung nicht eindeutig verteilt. (Vgl. B./B.-G., S.125-138) Die persönliche und die kulturelle „Logik des Begehrens“ (vgl. B./B.-G., S.136f.) verstrickt beide Seiten dieser transkulturellen Paarbeziehungen in ein vielschichtiges Motivgeflecht, deren Asymmetrien letztlich aber vor allem in der Grenze zwischen arm und reich begründet sind. Das schließt sicher nicht aus, daß sich die betreffenden Paare ihre eigene Symmetrie erarbeiten können, in der nicht nur der eine Partner die lebensweltliche Perspektive des anderen einfach übernimmt und so seine eigene Herkunft vergißt.

Aus dem bisher Geschriebenen geht hervor, daß sich symmetrische Beziehungen zwischen den Lebenswelten am ehesten in Paarbeziehungen finden lassen, wo sich Partner aus verschiedenen Nationen und Kulturen der ‚Ersten Welt‘ finden, – wo also die Armutsgrenze keine Rolle spielt. Diese symmetrischen Beziehungen sind allerdings auch hier nicht ohne weiteres herstellbar, da sich immer ein Partner – zumindestens für eine gewisse Zeit – gegen seine Herkunftswelt und für die seines Partners entscheiden muß. Sobald er seinem Partner in dessen Welt folgt, wird er in gewisser Weise von seinen Kenntnissen und seinen Beziehungen abhängig.

Wie wenig sich aber die lebensweltlichen Bindungen, die er scheinbar hinter sich läßt, wirklich abschütteln lassen, zeigt das Phänomen der „biographischen Rückwende“. (Vgl. B./B.-G., S.55, 60, 62) In multikulturellen Paarbeziehungen passiert es immer wieder, daß ein Partner, der sich bislang an die ‚Kultur‘ seines Partners angepaßt hatte, plötzlich zurückfällt in vergessen geglaubte Angewohnheiten und Riten seiner Herkunftswelt: „Da fängt einer der Partner an, etwas wichtig zu nehmen, was ihm zuvor unwichtig war. Und der andere wundert sich, Immer wieder kommt es bei gemischten Paaren zu solchen ‚Überraschungsmomenten‘ ..., die ‚rätselhaft‘ sind, zum ‚Schock‘ werden können ... .“ (B./B.-G., S.57)

Oft sind es familiäre Anlässe, insbesondere bestimmte „familiär bedingte() Statuspassagen“ (B./B.-G., S.59), die solche biographischen Rückwenden auslösen, wenn sich z.B. Kinder einstellen, für die dann die üblichen Familienfeste arrangiert werden, vom Kindergeburtstag bis zu den verschiedenen religiösen, oft mit dem Wechsel von Jahreszeiten verbundenen Festlichkeiten. Plötzlich reicht es beispielsweise dem nicht-christlichen Partner nicht mehr, Weihnachten mit der Familie des anderen Partners mitzufeiern, sondern er möchte, daß seine Kinder auch etwas von seiner eigenen kulturellen Herkunft vermittelt bekommen.

Generell kann man sagen, daß eine symmetrische interkulturelle Paarbeziehung vor allem dadurch gekennzeichnet ist, daß beide Herkunftswelten für beide Partner wechselseitig durchlässig sind. Das also beide Partner jeweils über die Grenze zur Herkunftswelt des anderen Partners wechseln können und auch wollen. Das ist sicherlich ein eher äußerliches Kennzeichen. Ein weiteres Kennzeichen symmetrischer interkultureller Paarbeziehungen ist dagegen eher auf die innere Einstellung und interkulturelle ‚Kompetenz‘ der Partner bezogen, nämlich ihre Fähigkeit, nicht nur das Fremde der Herkunftswelt des Partners, sondern auch die eigene Lebenswelt von der Perspektive des Partners aus als fremd wahrzunehmen.

So kann die Grenze, die sich mitten durch die Paarbeziehung zieht, zur „Bühne für alltägliche Überraschungen“ werden, wie es B./B.-G. paradox formulieren. (Vgl. B./B.-G., S.247) Eine Lebenswelt, die uns jederzeit überraschen kann, wäre allerdings so ziemlich das Gegenteil von dem, was die Lebenswelt eigentlich ist. Sie wäre dann kein Medium mehr, kein tragender Hintergrund, vor dem sich unser individuelles Bewußtsein abhebt und zu sich selbst findet. Da den interkulturellen Paaren so eine Lebenswelt nicht mehr zur Verfügung steht, müssen sie sich diese Lebenswelt neu erfinden, wenn sie denn als Paar überhaupt lebens- und beziehungsfähig bleiben wollen. Darauf wollen wir im nächsten Post zu sprechen kommen.

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