„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation 
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Bei Plessner ergibt sich die Differenz von Sagen und Meinen aus der Differenz von Innen und Außen. In allen Versuchen uns auszudrücken, sei es im Sprechen, sei es im Handeln, sind wir auf mehr oder weniger gut geeignete Medien angewiesen, die unserer Intentionalität einen Widerstand entgegensetzen. In diesem Widerstand bricht sich unser Intentionsstrahl und verfehlt so mehr oder weniger sein Ziel. (Vgl. Plessner 1975/1928, S.340) Daraus ergeben sich alle möglichen Konsequenzen hinsichtlich der ‚Authentizität‘ und ‚Spontaneität‘ unserer Lebensäußerungen, die Plessner auf den Begriff der „vermittelten Unmittelbarkeit“ bringt. (Vgl. Plessner 1975/1928, S.321-341u.ö.) Letztlich können wir uns selbst gegenüber niemals sicher sein, wie authentisch wir in unserem Denken, Fühlen und Handeln wirklich sind.

Alle diese Probleme des Sprechens und Handelns ergeben sich also aus der Differenz von Innen und Außen. Von ihr her ergibt sich die Differenz zwischen Sagen und Meinen, zwischen Handeln und Wollen. Von ‚Dichte‘ kann hier nur im Sinne einer Linse die Rede sein, in der sich ein Lichtstrahl bricht. Letztlich ist es aber nur die Dichte des Mediums, in dem wir uns ausdrücken, nicht die Dichte des Seins, die uns voreinander und uns vor uns selbst verbirgt.

Nun finden wir auch bei .Merleau-Ponty und Meyer-Drawe zahlreiche Verweise auf eine Differenz zwischen Sagen und Meinen. Auch bei ihnen wird ständig auf die „Ambiguität“, „Opazität“, „Kontingenz“, „Anonymität“, „Zweideutigkeit“, „Partikularität“ der menschlichen Existenz verwiesen. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.17ff., 20f., 30f., 143, 146, 148f., 153, 230) In dieser Hinsicht ergibt sich tatsächlich eine auffällige Konvergenz zwischen Merleau-Ponty und Plessner. Meyer-Drawe findet für diese Ambivalenzen unserer konkreten Existenz den schönen Ausdruck des „kairologischen Grundzug(es)“ (Meyer-Drawe 1984, S.19) und bringt damit den „Ereignischarakter() der Reflexion“ auf den Punkt, „der in dem Bruch mit der Vertrautheit gelebter Bezüge gründet“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.21). Dieser Bruch erinnert nicht von ungefähr an Plessners Hiatus zwischen Innen und Außen, nur daß er von Meyer-Drawe nicht auf diese Differenz speziell bezogen ist, sondern auf die „Relativität und Partikularität“ der „Strukturen, die unserer Lebenswelt inhärent sind“. (Vgl. ebenda)

Den Begriff des Kairos könnte man auch von Plessner her auf den Moment des Sprechens und Handelns beziehen, in dem wir uns im Versuch, unsere Intentionen auszudrücken und zu verwirklichen, verwandeln, so daß wir nicht mehr dieselben sind. Denn das Moment des sich-selbst-Verfehlens im Ausdruck ist ja bei Plessner selbst die Grundform der Bedeutung, zu der wir finden. Der Kairos beinhaltet ein unerwartetes Gelingen, in dem wir mehr gewinnen, als wir gesucht hatten. Genau dieses Ereignis, das Gelingen im Verfehlen, wäre mit dem Begriff des Kairos sehr schön beschrieben.

Meyer-Drawe spricht nun auf zwei Ebenen von einer Differenz, in der Theorie und in der Kommunikation. Diese Differenz besteht in der Theorie in dem „Dilemma der Nicht-Koinzidenz von Reflexion und reflektierter Realität.“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.15f.), in der „radikale(n) Nicht-Koinzidenz von Vollzug und Reflexion“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.161), in der „Nicht-Koinzidenz der Reflexion mit der Praxis“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.215), in der „Nicht-Koinzidenz von Vollzug und Thematisierung“ in der pädagogischen Reflexion (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.230) usw. Wir haben es also auf der Theorieebene mit einem beständigen Zukurzgreifen, mit einem unvermeidbaren Zuwenig angesichts der Komplexität der Praxis zu tun: „Die faktische Wirklichkeit liegt unserer Reflexion notorisch im Rücken. ... eine Theorie wie die Pädagogik, die für eine bestimmte, historisch-konkrete Praxis verbindlich sein will, muß sich selbst als partiell und tendenziell verstehen, wenn sie kritisch sein will. Kritisch bedeutet hier, daß sie ihre Grenzen mit in ihre Reflexion einbezieht und ihre faktischen Möglichkeiten von kontrafaktischen Ideen unterscheidet.“ (Meyer-Drawe 1984, S.14)

Neben dieser Theorie/Praxis-Differenz als einer Form der Differenz von Sagen und Meinen gibt es noch die der Kommunikation, die Meyer-Drawe sogar ähnlich wie Plessner hinsichtlich des prinzipiellen Verfehlens unserer Intentionen im Sprechen und Handeln als „Prozeß der Überwindung ausbleibender Verständigung“ kennzeichnet. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.153) Auch Meyer-Drawe hält also die Schwierigkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht nur für eine Störung, sondern für wesentlich: „Kommunikation ist zugleich Verweigerung von Kommunikation und Eröffnung.“ (Meyer-Drawe 1984, S.154) – Und: „Es geht nicht um die Fiktion einer ‚ungebrochenen Inter-Subjektivität‘, sondern um die faktische Brüchigkeit konkret-humaner Inter-Subjektivität ... .“ (Meyer-Drawe 1984, S.32)

Auch hier ist die Konvergenz also erstaunlich. Dennoch hält Meyer-Drawe mit Bezug auf Merleau-Ponty fest, daß es eine „ursprüngliche Weise der Bedeutungskonstituierung“ gibt: „‚Der Leib vermag die Existenz zu symbolisieren, weil er selbst sie erst realisiert und selbst ihre aktuelle Wirklichkeit ist‘ ... . Hierin zeigt sich eine ursprüngliche Weise der Bedeutungskonstituierung, die konventionellen Ausdrucksmitteln vorausläuft, die mit diesen nicht zur Deckung zu bringen ist. ... Gestik und Mimik sind so nicht angemessen zu erfassen als nachträgliche Zeichen für ein inneres Empfinden, sie sind in gewisser Weise dieses Empfinden selbst, nämlich Ausdruck ‚der gesamten Existenz, nicht als deren äußere Begleiterscheinung, sondern weil sie in ihm sich realisiert‘ ().“ (Meyer-Drawe 1984, S.152)

Hier zeigt sich noch einmal der prinzipielle Unterschied zu Plessner: Der Leib realisiert die menschliche Existenz, indem er auf ursprüngliche Weise Bedeutung konstituiert. Trotz aller „Ambiguität“, „Opazität“, „Kontingenz“, „Anonymität“, „Zweideutigkeit“, „Partikularität“ der menschlichen Existenz wird Bedeutung nicht über das unsere Intentionen verfehlende Sprechen und Handeln gestiftet, sondern in unseren Gesten (Wortgebärde!) als Ausdruck der gesamten Existenz. Die Gesten sind nicht äußerer Ausdruck unserer inneren Intentionen, sondern selbst ihr Vollzug. So ist es nicht die Widerständigkeit bzw. ‚Dichte‘ der Medien, die uns über den Realitätsgehalt unserer Intentionen belehren und sie scheitern lassen – wie bei Plessner –, sondern es ist die „Dichte (l’epaisseur) und die Undurchdringlichkeit (l’opacité) des faktischen Vollzugs“ (Meyer-Drawe 1984, S.161), also des Vollzugs dieser Gesten, an der die Theorie und die Kommunikation immer wieder scheitern. Dieses Scheitern ist nicht bedeutungsstiftend, wie bei Plessner, sondern es ist nur eine Folge der ursprünglichen Bedeutungskonstitution in unseren Gesten. Auf eine kurze Formel gebracht: An die Stelle der ‚Dichte‘ (Widerständigkeit) von Medien tritt die ‚Dichte‘ (Undurchschaubarkeit) des Seins.

Konvergenz zwischen Plessner und Merleau-Ponty gibt es also nur auf der Ebene der Phänomene. Wo diese Phänomene aber auf eine Ontologie zurückgeführt werden, trennen sich die Beschreibungsebenen. Plessner bleibt an der Grenze zwischen Innen und Außen, also an der phänomenalen Oberfläche, während Meyer-Drawe mit Merleau-Ponty zu ontologisieren beginnt: Authentizität tritt an die Stelle der Ambiguität bzw. ist ursprünglicher als diese. Sie kommt ihr immer schon zuvor, als leibliches Sein.

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