„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 21. November 2011

Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

Wo sich zunächst eine weitere Konvergenz zwischen Plessner und Merleau-Ponty anzudeuten scheint, ist hier eine erste fundamentale Differenz festzumachen. Zwar macht Merleau-Ponty ähnlich wie Plessner das menschliche Ausdrucksvermögen – Merleau-Ponty selbst spricht vom „Vermögen der Bedeutungsschöpfung und Bedeutungskommunikation“ (Merleau-Ponty 1966, S.224) – an Strukturen der leiblichen Weltzugewandtheit fest, aber anstatt diese Strukturen als Doppelaspektivität von Innen und Außen und damit als exzentrische Positionalität zu bestimmen, führt er sie auf eine ursprüngliche Schicht des Sprechens zurück, in der der Sinn der Worte im Akt der Benennung mit dem Sinn von erstmalig wahrgenommenen Dingen verschmilzt: „Dann fänden wir, daß Worte, Vokale, Phoneme soviel Weisen sind, gleichsam die Welt zu besingen, bestimmt, die Dinge selbst zu vertreten, nicht, wie naive Theorien der Onomatopö(i)e glaubten, aufgrund von objektiven Ähnlichkeiten, sondern als Extrakte ihrer emotionalen Essenz, als deren ‚Ausdruck‘ im natürlichen Sinne.“ (Merleau-Ponty 1966, S.221f.)

Mit „Extrakte ihrer emotionalen Essenz“ verweist Merleau-Ponty auf den Gebärdencharakter der Worte, die hinabreichen in die Tiefen der individuellen Haltung, also sedimentierter Erfahrungen und Erlebnisse und deren geistiger Verarbeitung als unbewußt gewordene Modifikationen physiologischer Prozesse. In diesem Sinne ‚zeigen‘ sich die Dinge nicht nur, sondern ‚sprechen‘ sie auch.

In diesem Zusammenhang beschreibt Merleau-Ponty die Sprache auch als ein „Ausdruckssystem“ (Merleau-Ponty 1966, S.222). In Kombination mit dem Begriff der „Sprachgebärde“ (Merleau-Ponty 1966, S.221), womit eine Ausdruckshaltung gemeint ist, die wir der Welt gegenüber einnehmen, verweist der Begriff des Ausdruckssystems auf ein System von „verfügbaren Bedeutungen“, die eine Art Kulturbesitz darstellen, aufgrund dessen die „sprechenden Subjekte eine gemeinsame Welt (besitzen)“. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.221) Die verschiedenen Sprachen sind also in dem Sinne Ausdruckssysteme, als sie „je andere Weisen des menschlichen Leibes“ bilden, die Welt (gleichwie ein Fest) zu begehen und zu erleben.“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.222) Als Weisen der leiblichen Weltzugewandtheit bilden Sprachen zugleich auch selbst Welten: „Auch wenn wir mehrere Sprachen sprechen, bleibt immer nur eine(,) die, in der wir leben. Um eine Sprache sich vollständig anzueignen, müßte man die Welt übernehmen, die in ihr Ausdruck findet; doch nie vermögen wir zweierlei Welten zugleich anzugehören().“ (Merleau-Ponty 1966, S.222)

Obwohl also die Sprache eine so bedeutsame Funktion im menschlichen Selbst- und Weltverhältnis hat, bildet sie dennoch auch als Ausdruckssystem nur eine Konvention. Es sind zwar vorangegangene Bedeutungsintentionen in sie eingegangen, so daß sprechende Subjekte über sie verfügen können, aber zugleich macht sie vergessen, daß sie nicht die Quelle dieser Bedeutungsintentionen ist: „Der Kontingenz in Ausdruck und Kommunikation ... sind wir nicht mehr bewußt. Gleichwohl ist klar, daß die unser alltägliches Leben beherrschende konstituierte Sprache den entscheidenden Schritt des Ausdrucks als schon vollzogen voraussetzt.“ (Merleau-Ponty 1966, S.218)

Als Konvention bildet die Sprache deshalb nur ein System „sekundären“, lediglich „empirischen“ Sprechens. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.211) Das eigentliche, ursprüngliche Sprechen findet auf der Ebene der Sprachgebärde bzw. der Sprachgeste statt: „Sprache und Worte tragen ... in sich eine erste Bedeutungsschicht, die ihnen unmittelbar anhängt, den Gedanken aber nicht so als begriffliche Aussage, sondern als Stil, als affektiven Wert, als existentielle Gebärde mitteilt.“ (Merleau-Ponty 1966, S.216) – Diese Sprachgebärde entspricht jener Sprech- und Verstehenshaltung, wie ich sie in meinem Post zu Raoul Schrott und Arthur Jacobs (vom 21.07.11) schon beschrieben habe. Sie reicht hinab in die physiologischen Zustände und zu den körperlichen Organen unserer Sprachlichkeit, mit denen sich unsere psychischen und geistigen Aktivitäten im Einklang befinden müssen, um sinnvolle Worte und Sätze artikulieren zu können. In diesem Sinn ist auch das mündliche, gesprochene Wort selbst noch Gebärde: „... und es trägt seinen Sinn in sich wie die Geste den ihren. Eben das ist es, was Kommunikation möglich macht.“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.217)

Diese Schicht des ursprünglichen Sprechens, der ersten, Benennungen ermöglichenden Begegnung mit den Gegenständen z.B. in der Kindheit beinhaltet jenes Vermögen der Bedeutungsschöpfung, aus dem sich dann das sekundäre System schon gefundener, verfügbarer Ausdrucksformen herausbildet: „... durch ein und dasselbe Vermögen erschließt sich der Leib hier einem neuen Verhalten und gibt in eins Zeugen dieses Verhalten zu verstehen.“ (Merleau-Ponty 1966, S.229)

Der Bedeutungsvollzug selbst, also das ursprüngliche Sprechen im Unterschied zum sekundären Sprechen, verschmilzt dabei mit dem je gefundenen Ausdruck, so daß die Worte auf den Sinn nicht nur verweisen, als wären sie künstliche Zeichen, die man beliebig mit verschiedenen Bedeutungen versehen kann: „So ist für den Sprechenden das Wort nicht bloße Übersetzung schon fertiger Gedanken, sondern das, was den Gedanken erst wahrhaft vollbringt().“ (Merleau-Ponty 1966, S.211)

Dieses Verschmelzen von Ausdruck und Sinn macht Merleau-Ponty am Beispiel der Musik und des Schauspiels deutlich. So sind in der Musik die Töne, in Analogie zum gesprochenen Wort in der Sprache, auch nicht äußerliche Zeichen. Ohne die Töne gäbe es vielmehr die Musik gar nicht. Erst in der gespielten Musik, im Hören der Töne, ist die Musik real. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.217, 223) Und wenn eine Schauspielerin Phädra spielt, so ist da nicht zusätzlich eine reale Person hinter der Maske, sondern sie ist – im Akt des schauspielerischen Vollzugs – Phädra selbst. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.217)

Hier wird deutlich, wie Merleau Ponty in der Verbindung von Sinn und Sinnstiftung im Vollzug des Sprechens zugleich auch Subjekt und Medium ununterscheidbar miteinander verschmilzt. Plessner hingegen stellt die sprechende Person individuell an die Grenze zwischen Innen und Außen und sozial an die Grenze zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, wobei die Maskierung ihre Funktion gerade darin hat, die Person vor dem entblößenden Zugriff der Außenwelt zu schützen und ihr einen Freiraum des spielerischen Umgangs mit Rollenerwartungen und Identitätszumutungen zu eröffnen.

Merleau-Ponty übergeht die Differenz zwischen Person und Maske. Auch der Hinweis auf die Gebärde des Zorns, die den Zorn des Zornigen nicht etwa zum Ausdruck bringt, im Sinne einer Differenz zwischen Innen und Außen, sondern die der Zorn selbst ist, deutet die Richtung an: „... übrigens fasse ich Zorn und Drohung nicht als hinter den Gesten verborgene psychische Fakten, ich sehe vielmehr den Zorn der Gebärde an: sie läßt nicht lediglich denken an Zorn, sie ist der Zorn.“ (Merleau-Ponty 1966, S.219) – Ähnlich, wie es im Zorn also kein Subjekt gibt, das sich einer zornigen Gebärde bedient, sondern nur den Zorn als Gebärde, gibt es letztlich auch kein persönliches Subjekt in der Sprache, sondern nur ein unpersönliches, ursprüngliches Sprechen. Wenn Merleau-Ponty dennoch immer wieder vom „inkarnierten Subjekt“ spricht (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.219f., 228f.), meint er letztlich nichts anderes damit, als den ursprünglichen Vollzug des Sprechens selbst.

Dennoch kann der Zorn vorgetäuscht werden. Sonst gäbe es keine Schauspielerei! Wäre jeder vorgetäuschte Zorn zugleich echter Zorn, wie sollte man dann noch Schauspielerei und realen Lebensvollzug unterscheiden? Als eine denkbare Grundlage eines solchen vorgetäuschten Zorns käme die Innen/Außen-Differenz in Betracht, die eine andersartige innere Gestimmtheit ermöglicht; oder eine Art kontrollierter Zorn, so daß ich zwar beim Vortäuschen tatsächlich auch Zorn empfinde, diesem Zorn gegenüber aber eine ‚innere‘ Distanz aufrechterhalte, so daß ich nicht mit ihm verschmelze. Das entspräche dem, was ich schon in früheren Posts als zweite Naivität beschrieben habe. Auch hier hätten wir immer noch eine Innen/Außen-Differenz, aber eine, die sich mehr an der Oberfläche hält, also mehr eine Grenzbestimmung als eine Raumbestimmung darstellt.

Auch wenn das phänomenologische Denken immer von Oberflächen ausgeht, ‚hinter‘ denen nichts verborgen ist, kann man doch daran festhalten, daß diese Oberflächen eine Grenzbestimmung beinhalten. Als eine solche Grenzbestimmung eröffnet die Oberfläche erst die Differenz zwischen Innen und Außen, so wie die Haut als Grenzbestimmung des Leibes. Deshalb ist nichts ‚unterhalb‘ dieser Haut, was im eigentlichen Sinne mehr Körper wäre als die Haut selbst, weder die Leber, noch das Herz oder das Gehirn. Um dem Menschen zu begegnen, müssen wir seine Haut berühren und nicht sein Gehirn bloßlegen.

So sehr also Merleau-Pontys Anliegen, an der Oberfläche zu bleiben, phänomenologisch gerechtfertigt ist, so wenig akzeptabel ist das Leugnen innerlicher Zustände, wie etwa Intimität und Scham, die Merleau-Ponty nur auf die Sexualität zu beziehen weiß. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.199f.) Indem Merleau-Ponty das ursprüngliche Sprechen als inkarniertes Subjekt zur Grundlage der Bedeutungsschöpfung macht, denkt er das menschliche Selbst- und Weltverhältnis vom Gelingen einer Verschmelzung her, während Plessner das menschliche Selbst- und Weltverhältnis von dessem Mißlingen her denkt. Letztlich glaubt Merleau-Ponty an die Unmittelbarkeit, an Authentizität, während Plessner auf die zweite Naivität hofft, in der wir von uns und unseren Bedürfnissen wissen und in der wir sie zugleich kontrollieren.

Ohne also Plessner jetzt einfach als Nihilisten bezeichnen zu wollen, kann man doch festhalten, daß er von Kierkegaard und Nietzsche gelernt hat. Merleau-Pontys Menschenbild bleibt dagegen in der ersten Schicht der Naivität befangen. Sein Mensch ist gleichermaßen „dezentriert“ (Merleau-Ponty 1966, S.229) und ahnungslos. Nicht von ungefähr tritt bei Merleau-Ponty der Begriff der Bedeutung an die Stelle des Bewußtseins. Sein Mensch denkt nicht; dafür ist er um so bedeutungsvoller: „So widersetzt sich die Erfahrung des eigenen Leibes der Bewegung der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit aber uns nur den Gedanken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der Idee, nicht in Wirklichkeit gibt.“ (Merleau-Ponty 1966, S.234)

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