„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 15. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)
1. Statische Muster und lebendige Netzwerke
2. Politik als Kybernetik
3. Der Körperleib und die Zeit an sich
4. Zurück zu einer Metaphysik der zwei Welten?
5. Transgredienz und Emergenz: Konzepte vom Ganzen und seinen Teilen
6. Multitudes und Öffentlichkeit
7. Biologie und Information

Thacker wirft Kant vor, daß er im Unterschied zu Bergson die Zeit verräumlicht, indem er sie als „‚Gefäß‘-Zeit“ (Thacker 2009, S.42) konzipiert. Ich bin damit nicht ganz einverstanden. Vielmehr habe ich den Eindruck, daß sich Kants Zeitbegriff gar nicht so sehr von dem Zeitbegriff von Bergson unterscheidet. Denn wenn Kant festhält, daß es nur eine „einige“, also eine ganze und ungeteilte Zeit geben kann, von der alle unsere verschiedenen Einteilungen der Zeit in verschieden lange Perioden nur „Einschränkungen“ darstellen, und daß diese Zeit deshalb – anders als der Raum mit seinen drei Dimensionen – nur „eine Dimension“ hat (vgl. Thacker 2009, S.41), dann erinnert mich das doch sehr an jene Vorstellung von „Zeit an sich“ (Thacker 2009, S.43), wie sie Thacker Bergson zuschreibt.

Dennoch wendet Kant durchaus räumliche Metaphern auf den Zeitbegriff an, so daß er der Zeit tatsächlich etwas Empirisches anheftet. Doch halte ich diesen metaphorischen Bezug auf die Zeit, als Gefäß-Zeit, nicht für das eigentliche Problem. Es geht Kant vor allem darum, zu zeigen, daß wir nichts wahrnehmen können, ohne unseren Anschauungen eine räumliche und zeitliche Struktur zu geben. Und hier liegt nun der eigentliche Unterschied zu Bergson: Zeit ist nämlich selbstverständlich, wie der Raum, als apriorische Voraussetzung jeder möglichen Anschauung an die Wahrnehmung gebunden! Das macht sie aber noch nicht zu etwas Empirischem, wie Kant ausdrücklich festhält. Es macht nur einfach keinen Sinn, Wahrnehmung ‚außerhalb‘ der Zeit zu denken, so wenig wie es Sinn macht, Zeit ohne Wahrnehmung zu denken: also leeren Raum und leere Zeit.

Denn Zeit mag zwar selbst nichts Empirisches sein – schon deshalb, weil Zeit und Raum die Voraussetzung alles Empirischen bilden –, so ‚existiert‘ sie doch nicht ‚an sich‘, unabhängig von aller Materie, wie es Bergson nahelegt (Zitat im Zitat): „‚Es gibt Veränderungen, aber es gibt unterhalb der Veränderung keine Dinge, die sich verändern: die Veränderung hat keinen Träger nötig. Es gibt Bewegungen, aber es gibt keinen unveränderlichen trägen Gegenstand, der sich bewegt: die Bewegung schließt also nicht etwas ein, was sich bewegt.‘“ (Thacker 2009, S.42)

Das Bergsonsche Konzept von Zeit ignoriert den Körperleib als fundamentale Bewußtseinskategorie. Von unserem eigenen Körper her bevölkern wir die Welt mit Dingen, und wir bewerten alles, was wir wahrnehmen, vor dem Hintergrund ihrer möglichen Dinglichkeit, – auch wenn wir es mit Flüssigkeiten und Gasen zu tun haben oder eben mit Schwärmen. Veränderungen haben für uns deshalb auch nur dann eine Bedeutung, wenn sie an Dingen (oder an unserem Körperleib) vor sich gehen, so daß wir sie wahrnehmen können. Sobald wir versuchen, Veränderung an sich zu denken, müssen wir die wahrnehmbare Welt verlassen und uns eine zweite Welt denken, die nicht mehr empirisch wäre, sondern intelligibel. Nur in so einer Welt wären ‚Dinge‘ vorstellbar, die keine Dinge sind. Und sie befände sich außerhalb von Raum und Zeit.

Zeit und Raum können sich aber nicht ‚außerhalb‘ von Raum und Zeit befinden, weil sie Voraussetzungen dieser unserer empirischen, wahrnehmbaren Welt bilden. Es gibt keine zweite Welt! Es gibt nur diese eine!

Eine Veränderung, die ohne zugrundeliegendem Träger ‚geschieht‘, ist körperlos und kann von unserem Bewußtsein nicht ‚gedacht‘ werden. Also kann sie auch kein Gegenstand unseres Bewußtseins sein. Kann sie aber kein Gegenstand unseres Bewußtseins sein, hat sie auch keine Bedeutung für uns. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Gespenst! Wenn Bergson aber an so eine immaterielle, transempirische Veränderung denkt, dann ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß Wahrnehmung für ihn keine fundamentale Kategorie ist: „Im Gegensatz zu Kant akzeptiert Bergson Wahrnehmung (Raum und Zeit) nicht als apriorisches Vermögen.“ (Thacker 2009, S.43)

An dieser Stelle aber wird deutlich, inwiefern sich menschliche Intentionalität von der Schwarmintelligenz kategorial unterscheidet: menschliche Intentionalität wurzelt in der Erfahrung des Körperleibs und ineins mit dieser in der Raumzeit unserer Wahrnehmung.

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