„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 13. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)

Das von Eva Horn und Lucas Marco Gisi herausgegebene Buch „Schwärme – Kollektive ohne Zentrum“ (2009) hat mich schon beim Lesen der bemerkenswerten Einleitung von Eva Horn überrascht: Hier wird tatsächlich noch kategorial zwischen den verschiedenen Phänomenbereichen unterschieden, wie es im aktuellen Mainstream der empirieverliebten, methodisch verarmten deutschen Fakultäten nur noch selten geschieht. Ich möchte deshalb meine Posts zu Horns und Gisis Herausgeberbuch mit einigen Bemerkungen zur Methodendiskussion in Horns Einleitung beginnen.

Vor allem auf zwei methodische Aspekte möchte ich näher eingehen: auf das Problem der „Darstellbarkeit“ (vgl. Horn 2009, S.14f.) und auf das Problem der „Übertragung“ (vgl. Horn 2009, S.20-26).  Die Frage nach der „Darstellbarkeit des Schwarms“ (Horn 2009, S.14) – wie übrigens auch die nach der „Übertragung“ – ist ein Problem des Wissenkönnens, der „Epistemologie des Schwarms“ (Horn 2009, S.13f.). Es besteht ganz einfach darin, daß Schwärme in gewisser Weise etwas Gestaltloses sind: „Körper() ohne Oberfläche“ (Horn 2009, S.14). Auf den ersten Blick erscheint diese Frage nach der Darstellbarkeit von Schwärmen als eher harmlos und eigentlich längst gelöst, denn die Algorithmen der Computersimulationen, mit denen chaotische Dynamiken wie Klimaveränderungen oder biologische Evolutionsprozesse simuliert werden, liefern ja wohl beeindruckende ‚Darstellungen‘ des scheinbar „Ungestalten“? (Vgl. Horn 2009, S.14)

Aber die Frage nach der „Darstellbarkeit von Schwärmen“ reicht viel tiefer, als die erwähnten Algorithmen, die ja ebenfalls die Berechenbarkeit des Unberechenbaren eher vortäuschen als einlösen und dabei vergessen machen, daß sie Schwarmverhalten niemals vorhersagen (kontrollieren), sondern nur beschreiben können. Das Problem, das Eva Horn hier anspricht, besteht aber vor allem darin, daß Schwärme sich der phänomenalen Struktur unserer ‚empirischen‘ Wahrnehmung fundamental entziehen. Wir haben es weder mit Dingen noch mit Beziehungen bzw. Prozessen zwischen ‚Dingen‘ zu tun. Natürlich stellen Schwärme Prozesse zwischen Individuen dar, – nur daß diese Individuen sich im Schwarm verwandeln, wie Heuschrecken, die ihre ganze Morphologie verändern, wenn sie zu schwärmen beginnen. Wenn die ‚Dinge‘ im Schwarm aber nicht mehr das sind, was sie außerhalb des Schwarms sind, dann heißt das, daß die „ontologische Frage“ nach dem „‚Sein‘ des Schwarms“ nicht nur einfach neu gestellt, sondern allererst einmal beantwortet werden muß. (Vgl. Horn 2009, S.14f.)

Horn hält dazu knapp und nüchtern fest, daß die „gegenwärtige(n) Beschäftigungen mit Schwärmen“ sich mit dieser Frage nicht befassen und sie deshalb „nicht selten auch die Differenzen zwischen dem Schwarm-Modell und anderen Formen von Kollektiven ohne Zentrum (verwischen)“. (Vgl. Horn 2009, S.15)

Mit diesem Problem des „Verwischens“ von Differenzen hängt nun das zweite Problem zusammen, auf das ich hier eingehen will: das Problem der Übertragung. Eva Horn spricht in bezug auf Schwärme nicht von ‚Phänomenen‘, so wie man z.B. von ‚Dingen‘ spricht. Da Schwärme nicht als ‚Dinge‘ in Erscheinung treten, was eine gewisse anatomische Selbständigkeit und Abgegrenztheit gegenüber der Umwelt bedeuten würde, sondern sich aus Kontexten heraus-‚kristallisieren‘, wie Eis sich aus einem gefrierenden See herauskristallisiert – eine gespenstergleiche, körperlose Erscheinungsform –, spricht Eva Horn von verschiedenen „Medien“, in denen und zu denen sich Schwärme ‚verhalten‘. Horn zählt insgesamt drei Medien auf, die in Frage kommen: Wetware (Biologie), Hardware (Computer) und Software (Programme, Bewußtsein) (vgl. Horn 2009, S.10): „In dem Maße, wie sich der Schwarm als Modell von einem ‚Medium‘ (dem biologischen Leben, der sogenannten ‚Wetware‘) zum anderen (z.B. Software) übertragen lässt, sind drei verschiedene Ebenen in der Rede über den Schwarm zu unterscheiden, deren Gesamtheit eigentlich erst die Epistemologie des Schwarms ausmacht.“ (S.13f.)

Bei den „drei verschiedenen Ebenen“ handelt es sich also um die Biologie, die Informationstechnologie und den Menschen. Beide ‚Phänomen‘-Bereiche bzw. ‚Medien‘ müssen in ihrer Differenz im Blick behalten werden, wenn man epistemisch angemessen über Schwärme reden will, – umso mehr als deren Dynamik sich auf allen diesen Ebenen so sehr gleicht und deshalb dazu verführt, diese Ebenen in bezug auf die Schwarmdynamik einfach gleichzusetzen.

Das Problem der „Übertragung“ – nämlich der Beschreibung chaotisch dynamischen Schwarmverhaltens ungeachtet der medialen Differenz in seinem Auftreten – ist deshalb auch ein Problem der Abstraktion: „Voraussetzung einer solchen Übertragbarkeit ist die Abstrahierung des Kollektivs auf ein Modell der Aggregation, unabhängig von der Natur seiner Akteure (Menschen, Tiere, Programme, Kampfeinheiten), von der Form dieses Zusammenkommens (ist es Gruppenbildung, ist es ein kollektives Bewegungsmuster, ist es eine Form von verteilter Kooperation?) und unabhängig von Medium, in dem dieser Prozess stattfindet (Wetware? Hardware? Software?).“ (Horn 2009, S.10f.) – Der informationstechnologische ‚Erfolg‘ dieser Übertragung besteht vor allem in der suggestiven Wirkung der Computersimulationen, mit denen die ‚Algorithmen‘ von Fisch- und Vogelschwärmen in Form von ‚Boids‘ auf dem Monitor sichtbar gemacht werden: „Diese Abstraktion zum Modell ist die epistemische Grundlage der Überzeugungen, die die Konjunktur und die (scheinbare) Evidenz des Schwarms ausmachen.“

Eva Horn beschreibt nun zwei verschiedene Achsen der Übertragung: zwischen Leben und Information (vgl. Horn 2009, S.20ff.) und zwischen Tier und Mensch (vgl. Horn 2009, S.22-26): „Diese Übertragung findet über zwei Achsen statt: einer anthropologischen in Form einer Übertragung zwischen Mensch und Tier; und einer technologischen in Form einer Übertragung von lebendigen Systemen auf technische oder informatische.“ (Horn 2009, S.15) – Die anthropologische Übertragung zwischen Mensch und Tier hat schon eine längere Tradition, da solche Vergleiche schon immer zur Selbstverständigung des Menschen über sich und seine Natur beitrugen: „In diesem Blick sind die einzelnen Arten Charaktere, Verkörperungen bestimmter Eigenschaften und Eigenarten, die einander im Kanon einer Tugend- und Klugheitslehre gegenübergestellt werden können.“ (Horn 2009, S.22) – Hier werden die Tiere im Dienste der menschlichen Selbstvergewisserung anthropomorphisiert.

Bei der im Kern kybernetischen Beschreibung von Schwarmverhalten werden nun die Tiere nicht mehr anthropomorphisiert, sondern mit Maschinen verglichen, und über den Umweg über diesen Vergleich von Tier und Maschine wird die Maschine auch zum Modell des Menschen: „Der Biologe von Frisch ... versucht, den anthropologischen Kurzschluss zu meiden, wenn er das Kommunikationsverhalten der Bienen als kybernetische Selbststeuerung entschlüsselt. Was er damit entwirft, ist allerdings ein Begriff des ‚Lernens‘ und der Steuerung, der nicht mehr den Menschen, sondern die Maschine zum Paradigma solcher Selbststeuerung macht.“ (Horn 2009, S.25) – Am Ende dieser von mir hier sehr verkürzten Darstellung der Übertragungswege zwischen Biologie, Mensch und Maschine steht eine informationstechnologische Formel, in der das „Leben nie etwas anderes war als Information“. (Vgl. Horn 2009, S.20)

Mir stellen sich nach Lektüre von Horns Einleitung zwei Rückfragen an die Komplexitätsforschung: die Frage zur verbleibenden epistemologischen Bedeutung des ‚Dings‘ und die Frage nach der Bedeutung einer kritischen Metaphorologie, wie sie Schrott und Jacobs mit ihrem Buch „Gehirn und Gedicht“ vorgelegt haben. Die Frage nach der epistemologischen Bedeutung des Dings beinhaltet die Plessnersche Frage nach dem ‚Körperleib‘. Darauf werde ich in den folgenden Posts zu Eugene Thacker noch eingehen.

Die Frage nach der Bedeutung einer kritischen Metaphorologie beinhaltet eine Schärfung des Blicks für den Unterschied zwischen einer metaphorischen Übertragung im eigentlichen Sinne, also zwischen Tier und Mensch und zwischen Leben und Information, und einer bloßen Hintereinanderreihung von Netzwerkstrukturen. Mit dem Letzteren meine ich eine Art Hintereinanderschaltung oder auch Parallelschaltung, in der sich z.B. eine Virusepidemie ausbreitet, indem sie sich der institutionellen und technologischen Infrastruktur des Menschen ‚bedient‘. (Vgl. Thacker 2009, S.30, 46, 65) Obwohl sich nämlich das biologische Netzwerk des SARS-Virus des menschlichen Netzwerkes von Institutionen (Schulen, Flughäfen etc.) und Transportwegen (Flugzeuge, Eisenbahnen etc.) ‚bedient‘, ergibt sich daraus noch keine mediale Entdifferenzierung im Sinne eines neuen Schwarmphänomens, das sich aus Viren, Gebäuden und Transporttechnologien zusammensetzt.

Die verschiedenen ‚Netzwerke‘ greifen also zwar ineinander und unterstützen die Ausbreitung eines spezifischen Schwarmphänomens wie dem SARS-Virus, aber aus ihnen ergibt sich kein neues Ganzes, wie bei einer Metapher im Sinne von Schrott. In gewisser Weise ist hier das Wort ‚Übertragung‘, als Übertragung des SARS-Virus auf Menschen via institutioneller und infrastruktureller Drehscheiben, nur im ‚übertragenen‘ Sinne verwendbar. Um so problematischer ist eben deshalb die von Horn beschriebene Übertragung informationstheoretischer Begriffe auf die Biologie und auf den Menschen. Dem sollte eine kritische Metaphorologie Einhalt gebieten.

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