„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 8. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (5)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Husserl macht den von ihm beklagten Sinn- und Anschauungsverlust der Technik am Begriff der Methode fest: „Technisierung ist Verwandlung ursprünglich lebendiger Sinnbildung zur Methode, die sich weitergeben läßt, ohne ihren Urstiftungssinn mitzuführen, die ihre Sinnesentwicklung abgestreift hat und im Genügen an der bloßen Funktion nicht mehr erkennen lassen will.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.206) – Die wesentliche Funktion der Methode besteht also in der Möglichkeit, durch einsichtige Erfahrung gewonnene Erkenntnisse an andere weiterzugeben, ohne daß diese anderen noch einmal den umwegigen Entdeckungszusammenhang durchlaufen müssen. Husserl versteht also unter der Methode eine Abkürzung, die Zeit spart. Spätere Forscher- und Ingenieursgenerationen können auf diese Weise auf den Erkenntnissen ihrer Vorgänger aufbauen und weiterforschen bzw. weitere technische Entwicklungen einleiten.

Im Unterschied zu Husserl, der hier von einem Sinn- und Anschauungsverlust spricht – in postmodernen Diskursen ist auch von Erfahrungsverlusten die Rede –, will Blumenberg, der der Technisierung insgesamt positiver gegenübersteht als Husserl, hier aber nur von einem bewußten „Beweisverzicht“ reden, der in der wissenschaftlichen Arbeit unvermeidlich ist: „Der Sinnverlust, von dem Husserl gesprochen hat, ist in Wahrheit ein in der Konsequenz des theoretischen Anspruchs selbst auferlegter Sinnverzicht.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.216) – Als Beispiel nennt Blumenberg die euklidische Geometrie: „Hätte sie (die euklidische Geometrie – DZ) die Bearbeitung ihrer Theoreme und Probleme hinausgeschoben, bis alle Axiome und Postulate bewiesen gewesen wären, dann gäbe es vielleicht heute noch keine Geometrie – der Beweisverzicht, der Aufschub der strengsten Forderungen, als Bedingung der Möglichkeit des Erkenntnisfortschritts.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.217)

Die mit der Methode einhergehende Formalisierung wurde schon im vorangegangenen Post beschrieben. An dieser Stelle möchte ich nun vor allem auf den Charakter der Abkürzung eingehen, den Husserl zufolge die Methode bzw. der Schematismus der wissenschaftlichen „Formelwelten“ ermöglicht. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.206) Der Mensch versucht auf diese Weise den Umweg der Erfahrung zu überspringen: „In der Technisierung, wie Husserl sie versteht, entzieht sich der Mensch der Redlichkeit des einsichtigen, auf originärer Anschauung bestehenden Vollzuges seiner Praxis in jenem weitesten Sinne, der auch die Theorie einschließt. Er will sozusagen ‚im Sprunge‘ vorankommen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.208f.)

Mich interessiert hier insbesondere die von Blumenberg nicht explizit ausgeführte, aber implizit naheliegende Differenzierung zwischen ‚Information‘ und ‚Gegenstand‘. Bei dieser Differenzierung geht es mir nicht um eine mathematische Definition des Informationsbegriffs, etwa daß eine Nachricht um so informativer ist, je unerwarteter sie ist oder ähnliches. Mir geht es vielmehr um den Aufschluß, den uns die Differenzierung zwischen ‚Information‘ und ‚Gegenstand‘ über das Bewußtsein als Intentionalität ermöglicht, und darüber, warum z.B. Maschinen zwar mit Informationen arbeiten können, aber keine Gegenstände bewußt haben können.

An zwei Stellen spricht Blumenberg in bezeichnender Weise von ‚Informationen‘ und nicht von ‚Gegenständen‘. Er spricht einmal von der „Umwelt“, „in der man sich verhält, ohne sich umsehen zu müssen, weil sie ständig die bestimmtesten Informationen für die Regelung des Verhaltens gibt.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.66) – Informationen sind also präzise definierte Anweisungen, die keinen Interpretationsspielraum zulassen, also Formeln, die ein bestimmtes Verhalten regeln, wie etwa bei Maschinen. Ich habe diese von Blumenberg angesprochenen ‚Umwelten‘ im letzten Post auch auf die virtuellen Welten bezogen.

An anderer Stelle spricht Blumenberg vom „Informationszufluß, der keinerlei Einstellung über die des Zuschauers hinaus verlangt“ und der „äquivalent dem Wirklichkeitsverhältnis einer Welt (ist), in der man von allem schon weiß, was es mit ihm auf sich hat und wie man sich zu ihm zu verhalten hat.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.58) – Hier faßt Blumenberg Informationen als von unserem Erleben völlig getrennte ‚Nachrichten‘, die uns über Medien, mit denen wir uns ‚auskennen‘, vermittelt werden, wie z.B. eine Fernsehsendung. Blumenberg spricht hier auch von Gegenständen der sekundären Aufbereitung, der flüchtigen Kenntnisnahme, des puren Zuschauerverhaltens. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.58)

Die Information wäre also „der Inbegriff von Erfahrungen, die andere gemacht haben“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.59). – An anderer Stelle läßt Blumenberg genau diese Funktion von ‚Symbolen‘ einnehmen: „Die ‚Entlastung‘ durch Symbole stabilisiert sich gerade dadurch, daß ihre Verweisungen auf ‚das Wirkliche selbst‘ nicht wahrgenommen werden und nicht verfolgt zu werden brauchen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.173)

Blumenberg hat hier keine einheitliche Begrifflichkeit, der Sache nach läuft es aber auf dasselbe hinaus, und das steckt auch schon im Husserlschen Begriff der Methode: Informationen sind die Erfahrungen anderer, die wir uns zunutze machen, ohne den Erfahrungszusammenhang, den ‚Urstiftungssinn‘ kennen zu müssen, dem die ursprüngliche Einsicht, die zur Information wurde, entstammt. Auf einen kurzen Satz gebracht: für Informationen braucht es kein Bewußtsein! Das hört sich vielleicht etwas schräg an, aber der Beweis liegt uns allen tagtäglich offen vor Augen: wir sind von automatischen Informationsverarbeitungssystemen in Hardware und Software umgeben (um nicht zu sagen umzingelt), die uns ihre Dienste auf Knopfdruck zur Verfügung stellen!

Warum aber brauchen wir für ‚Gegenstände‘ Bewußtsein? Ebenfalls ganz kurz auf den Punkt gebracht: weil Gegenstände zu haben, Bewußtsein bedeutet! Wobei das ‚Haben‘ des Gegenstandes selbst eher ein Bestreben des Bewußtseins ist, ihn haben zu wollen, eben seine Intentionalität. Bewußtsein als Intentionalität bedeutet, „daß alles Bewußtsein seine Gegenstände nicht nur ‚hat‘, sondern daß es immer in der Intention auf die je mögliche volle Gegebenheit seiner Gegenstände steht.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.193) – Das Bewußtsein gibt sich nicht mit einem Ersatz zufrieden, wie z.B. mit Informationen, und auch nicht mit einem nur teilweisen Besitz seines Gegenstandes. Als Intentionalität will es seinen Gegenstand ganz, in seiner ganzen Fülle.

Die Vollständigkeit der Gegenstände ist in der Bildungstheorie schon immer ein wichtiges Prinzip der Bildung gewesen. Wilhelm von Humboldt verweist in seinen Schulplänen (3/1982, S.168-195) auf die enge Verbindung zwischen einer vollständigen Bildung und dem „Gemüth“ des Menschen, wobei er mit Vollständigkeit nicht die Menge des Stoffs meint, mit der ein Schüler im Verlauf seines Schulbesuchs in Berührung kommt, sondern daß er sich mit den Gegenständen auch gründlich, also bis zu ihren Gründen, ihren Anfängen befaßt: „Denn im Gemüth und in der Wissenschaft (die nur sein von allen Seiten vollständig gedachtes Object ist) steht jeder einzelne Punkt mit allen vorigen und künftigen in Contact, ist kein Anfang und kein Ende, ist alles Mittel und Zweck zugleich, und also jeder Schritt weiter Gewinn, auch wenn unmittelbar dahinter eherne Mauern gezogen würden.“ („Schulpläne“, S.190) – Man sieht, daß Humboldt noch ganz im Geist der Aufklärung die Wissenschaft nicht als eine spezielle Disziplin begreift, sondern eng mit dem ‚Gemüt‘ bzw. mit dem Bewußtsein des Menschen verknüpft. Die „ehernen Mauern“, von denen hier die Rede ist, beziehen sich auf den Übergang von der Schule ins Berufsleben, also auf den plötzlichen Abbruch der Schulbildung, der zu Humboldts Zeiten jederzeit aufgrund der Geldknappheit weniger begüterter Eltern zu Ende sein konnte.

Das Bewußtsein als Intentionalität stellt also als phänomenologisches Grundprinzip zugleich ein Grundprinzip der klassischen Humanitätsidee dar. Der phänomenologische Begriff des Gegenstandes bildet deshalb einerseits eine unendliche Aufgabe. Dafür steht der Begriff der Horizontstruktur mit ihren inneren und äußeren Verweisungszusammenhängen; d.h. daß der Gegenstand nach ‚außen‘ in seinen Bezügen zu anderen Gegenständen und nach ‚innen‘ in seiner eigenen inneren Struktur als Ganzes von Teilen keine endgültige Grenze aufweist, jenseits deren es nichts Neues mehr über ihn zu wissen gibt. Andererseits aber werden alle diese ausufernden, unendlichen Horizonte doch durch die Gestalt (Husserl spricht vom ‚Wesen‘) des Gegenstandes zusammengehalten. Blumenberg findet für diese fundamentale Eigenschaft des Gegenstands das schöne Bild des „Identitätspols“: „Gegenstände sind nicht Konglomerate von Bewußtseinsinhalten, sondern ursprüngliche Identifizierbarkeit, ihre Zuordnung zu je einem Identitätspol.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.193) – Man denkt hierbei unweigerlich an einen Magneten, der die verstreuten Eisenspäne (Aspekte, Horizonte) versammelt und ordnet.

Ohne also explizit den Unterschied zwischen ‚Information‘ und ‚Gegenstand‘ zu thematisieren, liefert Blumenberg uns doch einige Anhaltspunkte, in diese Richtung weiterzudenken und dabei mögliche Unterscheidungskriterien für reale und virtuelle Welten zu finden.

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