„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 5. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (2)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Blumenberg deutet an einer Stelle an, daß es so etwas wie eine „mindere Form" der Wesensanschauung gibt – ähnlich wie Plessner von einer Art primitiver „Witterung" für „Wesenheit" spricht, und bei beiden ist es das Typische. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.14, und Plessner 1980, S.86) Blumenberg bezeichnet das Typische als „mindere Form von Idealisierung". Das Rätselhafte, das sich in diesen Steigerungsformen bis hin zum ‚Ideal‘ und zur ‚Wesenheit‘ verbirgt und für das nach einer Bezeichnung gesucht wird, ist das Verhältnis von Teil und Ganzem, letztlich das Gestalthafte. An anderer Stelle spricht Blumenberg von „Grenzbegriffen": „von der Substanz, die selbst gegenüber keiner anderen Substanz mehr Akzidens ist, von der Ursache, die ihrerseits gegenüber keiner anderen Ursache Wirkung ist, und von dem Ganzen, das seinerseits gegenüber keinem anderen Ganzen Teil ist." (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.35).

Diese Grenzbegriffe verweisen auf rätselhafte Zusammenhänge, die sich logisch nicht auflösen lassen, wo wir aber dennoch nicht anders können, als uns mit ihnen zu befassen. Genau dieses nicht-anders-Können ist aber Kants eigentliches Unterscheidungskriterium zwischen Verstand und Vernunft, die dann letztlich zu einer dualistischen Auffassung von der Welt führt. Der Verstand braucht, ja, darf sich – um seiner geistigen Gesundheit willen – nicht mit diesen Fragen beschäftigen. Die Vernunft wiederum kann nicht anders, als sich mit ihnen zu befassen – und dabei unweigerlich in schlechte Metaphysik abzugleiten. Und jede Metaphysik, die die Welt und ihre Wirklichkeit verdoppelt, in eine empirische und in eine intellektuelle, ist schlecht.

Genau darum komme ich immer wieder auf den Gestaltbegriff zurück. Hier bewege ich mich auf dem Boden der Wahrnehmung, – also auf sicherem Grund. Und auch Blumenberg zweifelt von hier her an der Tauglichkeit des Wesensbegriffs; mit Blick auf Husserls Phänomenologie in die Vergangenheitsform fallend hält er fest: „Es gab den auf seine Essenz reduzierbaren Gegenstand gar nicht; jeder Gegenstand war eingebettet in einen Horizont von Relationen, von Verweisungen, Bezüglichkeiten, Erwartungen, typischen Vorgriffen, der nicht eliminierbar war, ohne in die Binnenstruktur des Gegenstandes selbst verarmend einzugreifen." (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.117) – Von der den Wahrnehmungsanalysen entnommenen Horizontstruktur her, die jeden Gegenstand von den äußeren bis in die inneren Verweisungszusammenhänge hinein kennzeichnet, bezweifelt Blumenberg, daß sich die Gegenstände auf ein ihnen zugrundeliegendes oder innewohnendes Wesen zurückführen lassen.

Dennoch nehmen wir individuelle Gestalten wahr! Es gibt also so etwas wie einen „Identitätspol": „Gegenstände sind nicht Konglomerate von Bewußtseinsinhalten, sondern ursprüngliche Identifizierbarkeit, ihre Zuordnung zu je einem Identitätspol." (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.193) – Das ist das Rätsel, um das es geht und für das Philosophen Begriffe wie ‚Wesen‘ oder ‚Idee‘ verwenden, womit sie unweigerlich bei Platon landen und nicht zuletzt die Welt verdoppeln: in eine intellektuelle und in eine empirische.

Was aber nun für die Gegenstände, also für Bewußtseinsinhalte gilt, muß nicht notwendigerweise auch für die Art und Weise gelten, wie das Bewußtsein funktioniert, für seine ‚Leistungen‘, wie es Husserl nennt. Wir haben es schon bei Wiesings „Mich der Wahrnehmung" gesehen: Die Art und Weise, in der die Wahrnehmung uns ihre Gegenstände gibt, konstituiert Wirklichkeit. Das hat durchaus etwas Wesenhaftes, etwas Ideelles an sich, ohne deshalb gleich in eine metaphysische Welt abzugleiten. Die Art und Weise, wie wir Gegenstände wahrnehmen, gibt ihnen ‚Gestalt‘, fügt sie zu einem individuellen Ganzen zusammen, und von diesem Ganzen, dieser Gestalt her verstehen wir, wie die Teile funktionieren. Das ‚Wesen‘ steckt also in der Gestalt, im Ganzen eines Phänomens, ohne daß wir deshalb die Welt verdoppeln und die Grenzen des Verstandes überschreiten müßten.

So wendet sich Husserl dann auch in seiner Spätphilosophie der Lebenswelt als einem Grenzbegriff zu, bei dem es ihm nicht mehr um eine inhaltliche, sondern um eine formale Wesensbestimmung geht: „Wenn Husserl die große Aufgabe einer reinen Wesenslehre von der Lebenswelt sich gestellt sah, so ging es dabei nicht um einen durch Idealität ausgezeichneten Gegenstand, sondern um die Gewinnung einer Grenzvorstellung, die der Konstruktion eines geschichtslosen Anfanges der Geschichte, einer atheoretischen ‚Vorgeschichte‘, gerecht werden sollte und damit die Möglichkeit der ‚Wiederholung‘ eines radikalen Anfanges im Denken zu legitimieren hatte ..." (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.200). Beim ‚Wesen‘ der Lebenswelt haben wir es also nur noch mit einer formalen Notwendigkeit zu tun!

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