Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd.2, Darmstadt 1983, S.478ff.
1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung
In den folgenden Blogposts befasse ich mich mit dem vierten Kapitel aus Simmels „Philosophie des Geldes“, in dem es um die individuelle Freiheit geht, die nach Simmels Auffassung erst durch das Geld möglich und in der heutigen Form der Geldwirtschaft, dem Kapitalismus, zur Vollendung gebracht wird. Freiheit ist ein zentraler Begriff der Moralphilosophie von Immanuel Kant, und Simmels Freiheitsbegriff setzt sich ganz spezifisch von ihr ab. Mit Geld hat Kants Moralbegriff nicht das geringste zu tun, und die Freiheit der Moralsubjekte besteht in der Befolgung von Pflichten. Grundlage des Kantischen Moralbegriffs ist der subjektive Wille des einzelnen Menschen, und dieser wiederum ist im moralischen Sinne nur dann gut bzw. ‚frei‛, wenn er der obersten Pflicht genügt, wie sie Kant im kategorischen Imperativ ausformuliert hat.
In der dritten von insgesamt vier kosmologischen Ideen setzt Kant die Freiheit der Naturkausalität entgegen. Simmel diskutiert zwar erst im vierten Kapitel das Problem der Freiheit, aber trotzdem haben seine Überlegungen im ersten Kapitel zur Wertbestimmung von einerseits begehrten Objekten und andererseits menschlichem Handeln moralphilosophische Implikationen. Hinzu kommt, daß Simmel diese Wertbestimmungen, aus denen er die heutige Geldwirtschaft als ihre höchste Entwicklungsstufe ableitet, am Muster der kosmologischen Ideen orientiert, wie sie Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ ausformuliert. (Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd.2, Darmstadt 1983, S.478ff.) Die dritte kosmologische Idee enthält schon den Kern der Moralphilosophie, die Kant in seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ und in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ entwickelt. (In: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd.4, Darmstadt 1983, S.11ff. und S.107ff.)
Die moralphilosophischen Implikationen betreffen neben dem interindividuellen Verhältnis zwischen den Menschen, aber auch zwischen den Menschen und den Objekten, vor allem das intraindividuelle Verhältnis des Menschen zu sich selbst, also zwischen verschiedenen inneren Zuständen im einzelnen Menschen: „(A)lles sittliche Verdienst bedeutet, daß um der sittlich wünschenswerten Tat willen erst entgegengerichtete Triebe und Wünsche niedergekämpft und geopfert werden müßten. Wenn sie ohne jede Überwindung geschieht, als der selbstverständliche Erfolg ungehemmter Impulse, so wird ihr, so objektiv erwünscht ihr Inhalt sei, dennoch nicht in demselben Sinn ein subjektiv sittlicher Wert zugesprochen.“ (Simmel 2009, S.75)
Das entspricht dem Ansatz von Immanuel Kant, der stets betonte, wie sehr die Qualität des moralischen Handelns im Maß der Selbstüberwindung begründet ist, mit der wir uns selbst zur Einhaltung des kategorischen Imperativs nötigen müssen. Kant überhöht diese Nötigung zu einem moralischen Prinzip. Wenn wir nur aus Neigung so handeln, wie es dem kategorischen Imperativ entspricht, dann handeln wir nicht aus freiem Willen, sondern bleiben abhängig von unseren Launen und zufälligen Impulsen.
Simmel übernimmt scheinbar diese Position, denn sie paßt an dieser Stelle in sein Konzept. Er vermengt eine seiner zentralen Wertbestimmungen, nämlich die Widerständigkeit der äußeren Welt, die allererst den begehrten Objekten ihren Wert verleiht, mit der Widerständigkeit der inneren Bewußtseinswelt, in der sich unsere Gefühle in Form von ,Trieben‛ und ,Wünschen‛ den moralischen Anforderungen an unser Handeln widersetzen. Indem wir also unseren inneren Widerstand überwinden müssen, verleihen wir unserem moralischen Handeln einen ‚Wert‛. Ein Handeln, das auf keine inneren Widerstände stößt, hat also auch keinen moralischen Wert. Das Ergebnis ist wiedereinmal, daß der Wille sich gegen sich selbst richten muß, um einen Wert zu haben. Und damit befindet sich Simmel nicht nur in schlechter christlicher, sondern auch in ebenso schlechter Kantischer Tradition.
Für Kant wäre es widersinnig gewesen, dem einzelnen Menschen für den „selbstverständlichen Erfolg“ seiner „ungehemmten“, aber als solchen schon gutartigen „Impulse“ zu gratulieren. Seine Moralphilosophie führt die christliche Tradition fort, in der nur ein Wille zählt: der Wille Gottes. Denn auch bei ihm zählt nur ein Wille, dem wir unsere Neigungen und Gefühle unterwerfen, als hätten wir es bei ihnen nicht ebenfalls mit einem Willen zu tun, aber eben mit einem, dessen Charakter keineswegs mit moralischer Zwangsläufigkeit auf gut oder böse hin bestimmt werden muß.
Eine gute Tat, die eigene Begehrungen überwindet, hat durchaus ihren sittlichen Wert. Aber hat deshalb die gute Tat, die den eigenen Neigungen entspricht, keinen Wert? Ist es nicht vielmehr so, daß das Gute, das wir geben, erst dann als ‚Gabe‛ bezeichnet werden kann, wenn wir sie gerne geben und nicht widerwillig? Ist es nicht so, daß unser Widerwille, den wir mühsam überwinden, den Wert der Gabe, zu der wir uns zwingen müssen, mindert und sogar vernichtet?
Unser moralisches Handeln ist immer auch eine Gabe. Unsere Mitmenschen, als Einzelne schon gar nicht und je nach Kontext nicht mal immer als Gesellschaft, stehen in keinem abstrakten Werteverhältnis zu unserem Handeln. Das bringt der Begriff der Gabe zum Ausdruck. Die Gabe konstituiert eine Beziehung, die in ihrer Unmittelbarkeit keines regulierenden Dritten bedarf. Deshalb hat der Tausch auch nicht die Form von Ich = Du. Es hat seinen guten Grund, wenn Simmel den Tausch als ein Drittes bezeichnet, um ein Gleichgewicht zu gewährleisten: „Der Tausch ist nicht die Addition zweier Prozesse des Gebens und Empfangens, sondern ein neues Drittes, das entsteht, indem jeder von beiden Prozessen im absoluten Zugleich Ursache und Wirkung des anderen ist.“ (Simmel 2009, S.80)
So funktioniert die freie und gleiche Wechselbeziehung zwischen Ich und Du nicht. Beide sind nicht Ursache und Wirkung des jeweils anderen, sondern beide sind Ich. Ein Drittes bildet sich zwischen ihnen, wenn sie sich gemeinsam darauf beziehen, als Referenz und nicht als Regulativ metaphysischer oder moralischer Art. Diese Dimension fehlt bei Simmel wie auch bei Kant.
Was ich der Zweiheit von Ich = Du zuordne: sich in der Begegnung einem anderen Menschen zu öffnen, beschreibt Simmel als eine Eigenschaft „primitiver Kulturen“. (Vgl. Simmel 2009, S.93) Sich auf einen Tausch einzulassen, so Simmel, bedeute für diese Menschen, sich eines Teils ihrer Persönlichkeit zu entäußern, was durchaus ein Aspekt der Zuwendung zum anderen Menschen sein kann: „Das Versenken also in die Subjektivität des Verhaltens zum Gegenstand läßt ihm (dem primitiven Menschen ‒ DZ) den Tausch ‒ naturaler wie interindividueller Art ‒, der mit Objektivierung der Seele und ihres Wertes zusammengeht, als untunlich erscheinen.“ (Simmel 2009, S.93)
Wenn sich also Menschen in sogenannten primitiven Kulturen weigern, sich auf einen Tauschhandel einzulassen, aber dennoch bereit sind, Gaben zu ‚tauschen‛, dann möglicherweise deshalb, weil sie zwischen auf Gewinn und Verlust basierendem Handel und zwischenmenschlicher Kommunikation zu unterscheiden wissen. In der Gabe, wie ich sie verstehe, wird das ,losgerissene Stück des Ich‛ (vgl. Simmel 2009, S.94) zur unsere Menschlichkeit rettenden Antwort auf den Hiatus. Das von mir abgespaltene Objekt wird nicht ,getauscht‛, sondern ,gegeben‛. Und das gilt eben auch für den „interindividuellen Umgang“, wo ich nicht irgendein Objekt ,gebe‛, sondern mich selbst.
So wird in dem Zitat auch deutlich, wie Simmel immer wieder zwei grundverschiedene Ebenen der Objektbeziehung miteinander vermengt. Wenn er vom Tausch „naturaler wie interindividueller Art“ spricht, meint er damit das Tauschen von Objekten der nicht-menschlichen Welt und den Austausch zwischen Menschen gleichermaßen, ohne einen Unterschied zwischen beidem zu machen. Auch aus diesem Grund bekommt Simmel auch dort, wo er von der Liebe spricht, die Besonderheit der freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen nicht in den Blick.
Simmel scheint also Kants moralphilosophischen Ansatz einfach zu übernehmen. Seltsam ist nur, daß er in diesem Zusammenhang überhaupt nicht auf Kants Freiheitsbegriff eingeht. Ich vermute, daß das daran liegt, daß Kant im Rahmen seiner Erörterungen zur dritten kosmologischen Idee einen Freiheitsbegriff diskutiert, der sich spezifisch von der Naturkausalität absetzt. Indem Kant zwischen einer Kausalität durch die Natur und einer Kausalität aus Freiheit unterscheidet, stellt er das Problem des guten Willens ins Zentrum seiner Moralphilosophie. Diesen guten Willen kennzeichnen Prädikate wie Pflicht und Verantwortung. Im vierten Kapitel zur individuellen Freiheit macht Simmel genau das Gegenteil: nicht der gute Wille, sondern der begehrende Wille steht bei ihm im Zentrum seines Freiheitsbegriffs und dessen Prädikate sind Verantwortungslosigkeit und die Unabhängigkeit von Verpflichtungen. (Vgl. Simmel 2009, S.461f.) Dieser Freiheitsbegriff, ungeachtet dessen, daß Simmel hier von einer individuellen Freiheit spricht, adressiert nicht die Person mit ihrem Willen, sondern unpersönliche, durch Geldinteressen zusammengehaltene Kollektive. (Vgl. Simmel 2009, S.537, 540f., 546f.)
Im Rahmen eines durch Konsuminteressen zusammengehaltenen Kollektivs sind die widerständigen Objekte, die sich unserem Begehren nicht fügen wollen, plötzlich von Übel. Konsum ist nur die andere Seite einer Geldwirtschaft, die, nach der Marxschen Formel G-W-G', von der Warenproduktion auf Geldproduktion umgestellt hat. Aber noch schlimmer als die Abhängigkeit von Objekten (vom Konsum) ist Simmel zufolge die Abhängigkeit von Menschen, denn von ihnen abhängig zu sein, impliziert eine persönliche, die eigene Person betreffende Abhängigkeit, wie wir sie nichtmenschlichen Objekten gegenüber nicht empfinden. Die größte Abhängigkeit ist also die des Menschen vom Menschen, weshalb die größte individuelle Freiheit dort zu suchen ist, wo diese Abhängigkeit auf ein Minimum reduziert ist. Und das ist beim Geld der Fall.
Im folgenden längeren Zitat wird die, im Vergleich zu Kant, Umkehrung der Prioritäten besonders deutlich: „Wenn die Moralphilosophie die sittliche Freiheit als die Unabhängigkeit der Vernunft von den sinnlich-egoistischen Impulsen zu definieren pflegt, so ist dies doch nur ein einseitiger Fall des ganz allgemeinen Ideals der Freiheit, das in der gesonderten Entfaltung, dem unabhängigen Sich-Ausleben einer Seelen-Energie allen anderen gegenüber besteht; auch die Sinnlichkeit ist ,frei‛, wenn sie mit den Normen der Vernunft nicht mehr verbunden, also nicht mehr durch sie gebunden ist, das Denken ist frei, wenn es nur seinen eigenen, ihm innerlichen Motiven folgt und sich von den Verknüpfungen mit Gefühlen und Wollungen gelöst hat, die es auf einen Weg, der nicht sein eigener ist, mitziehen wollen. So kann man Freiheit in diesem Sinne als innere Arbeitsteilung definieren, als eine gegenseitige Lösung und Differenzierung der Triebe, Interessen, Fähigkeiten. Der Mensch ist als ganzer frei, innerhalb dessen jede einzelne Energie ausschließlich ihren eigenen Zwecken und Normen gemäß sich entwickelt und auslebt.“ (Simmel 2009, S.480; Hervorhebung ‒ GS)
Jetzt geht es also nicht mehr darum, die inneren Neigungen zu überwinden, um so den moralischen Wert unseres Handelns zu erhöhen, sondern um der individuellen Freiheit willen geht es vielmehr darum, sie in ihrer ganzen Vielfalt auszuleben. Die Betonung liegt dabei auf der ganzen Vielfalt, denn wenn wir es zulassen, daß sich auch nur eine Neigung gegenüber allen anderen durchsetzt, und sei es auch die Neigung, moralisch zu handeln, dann würden wir uns als individuelle Person von dieser einzelnen Neigung abhängig machen. Das erinnert an meinen Begriff des Gefühlshaushalts, läuft aber, wie wir noch sehen werden, auf die Entfremdung und Isolierung des Menschen von der Welt und in der Gesellschaft hinaus.
Simmel löst also den Freiheitsbegriff vom Moralbegriff ab und stellt ihn anschließend noch über die Moral. Das aber affirmiert lediglich das, was, wie wir in den folgenden Blogposts sehen werden, in der Geldwirtschaft sowieso schon geschieht.